Meyers Konversationslexikon 4. Aufl. Bd. 15

The Project Gutenberg eBook of Meyers Konversationslexikon Band 15, by Various

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Title: Meyers Konversationslexikon Band 15

Author: Various

Release Date: November 1, 2003 [EBook #10223]

Language: German


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Tersus - Tertiärformation.

Am bekanntesten wurde er als Dichter pietistisch gefärbter, aber gemütvoller und durch wahre Frömmigkeit ausgezeichneter Kirchenlieder ("Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr englischen Chöre", "Siegesfürst und Ehrenkönig", "Nun sich der Tag geendet " etc.). Eine Sammlung seiner Schriften erschien Stuttgart 1844-45, 8 Bde. Sein Leben beschrieben Kerlen (2. Aufl., Mülh. 1853) und Stursberg (das. 1869).

Tersûs, Stadt, s. Tarsos.

Terteln, Kartenspiel, s. Tatteln.

Tertia (lat.), die dritte Schulklasse; Tertianer, Schüler derselben. In der Buchdruckerkunst heißt T. eine Schriftgattung von 16 typographischen Punkten Kegelstärke (s. Schriftarten).

Tertian (lat.), dreitägig; Tertianfieber, Fieber, das jeden dritten Tag eintritt (s. Wechselfieber).

Tertiär (lat.), die dritte Stelle in einer Reihenfolge einnehmend; so heißt in der Heilkunde die dritte Periode der Syphilis mit schweren Erkrankungen der Haut, Knochen und Eingeweide tertiäre Syphilis; als Substantivum (das T.) auch s.v. w. Tertiärformation (s. d.).

Tertiärbahnen, Eisenbahnen dritter Ordnung zum Transport von Kohlen, Erzen etc. in Bergwerken, Fabrikanlagen etc., welche auf geneigten Strecken meist mittels Seil oder Kette betrieben werden.

Tertiärformation (hierzu Tafeln "Tertiärformation I u. II"), in der Geologie Schichtenfolge, jünger als die Kreidebildungen und älter als das Diluvium. Der Name ist im Gegensatz zu "primär" und "sekundär" als Bezeichnungen der ältern Formationen gewählt, Ausdrücke, welche jetzt fast ganz außer Gebrauch gekommen sind, während speziell tertiär allgemein üblich geblieben ist. Zusammen mit dem jüngern Diluvium (Quartär) und dem noch jüngern Alluvium (Rezent), die wohl auch als Posttertiär zusammengefaßt werden, bildet das Tertiär die känozoische Formationsgruppe im Gegensatz zu der mesozoischen und paläozoischen. Charakteristisch für die Tertiärbildungen ist der große Einfluß, den die Herausbildung der Klimazonenunterschiede auf die Beschaffenheit der damaligen Tier- und Pflanzenwelt ausgeübt hat, während solche klimatische Sonderungen in den ihr an Alter vorausgehenden Formationen nur eben nachweisbar sind. Eigentümlich ist ferner das Zurücktreten oder vollkommene Verschwinden vieler tierischer und pflanzlicher Formen, welche noch dem mesozoischen Zeitalter einen fremdartigen, von unsrer heutigen Schöpfung wesentlich verschiedenen Charakter aufprägten, während im Tertiär Pflanzen und Tiere teils neu auftreten, teils zu dominieren beginnen, welche den uns umgebenden näherstehen. Weiter bietet das Tertiär vorzüglich in seinen jüngern Abteilungen besondere Lagerungsverhältnisse dar: die meisten Vorkommnisse sind auf einzelne, voneinander isolierte Becken beschränkt, und nur von älterm Tertiärmaterial finden sich zusammenhängende, über weite Strecken ununterbrochen verbreitete Ablagerungen. In den isolierten Becken wechseln Schichten, in denen Meeresformen aufgehäuft sind, mit solchen, die brackische Formen oder Süßwasser- und Landorganismen führen, oft in mehrfacher Folge. Einige dieser Eigentümlichkeiten der T., namentlich die zuletzt erwähnten, erschweren die Parallelisierung und Etagierung der Schichten sehr bedeutend. Eine noch jetzt in ihren Grundzügen beibehaltene Einteilung der Tertiärschichten rührt von Lyell (1832) her und beruht auf Verhältniszahlen zwischen ausgestorbenen und noch lebenden Mollusken, welche zuerst von Deshayes berechnet worden waren. Derselbe hatte gefunden, daß in den ältesten Schichten der T. etwa 97 Proz. aller Mollusken Arten angehören, welche sich in unsrer heutigen Schöpfung nicht mehr vorfinden, daß dieser Prozentsatz für die mittlere T. auf etwa 81 sinkt und in den jüngsten Schichten nur noch 48 beträgt, so daß in diesen die Mehrzahl der Versteinerungen sich den Arten der Jetztwelt unterordnen läßt. Lyell fixierte diese drei Stufen als Eocän, Miocän und Pliocän. Neuere Untersuchungen haben zwar diese Zahlen wesentlich korrigiert, im allgemeinen aber doch die Zunahme noch lebender Formen in den jüngern Schichten bestätigt; ja, bei der Vereinzelung vieler tertiärer Ablagerungen bildet dieses prozentige Verhältnis zwischen noch lebenden und schon ausgestorbenen Arten oft die einzige Unterlage für die relative Altersbestimmung. Dagegen hat sich der Sprung vom Eocän zum Miocän als zu groß, dem Intervall zwischen Miocän und Pliocän nicht gleichwertig herausgestellt, weshalb Beyrich (1854) zwischen Eocän und Miocän noch Oligocän einschob. Eine ursprünglich von Mayer herrührende, von andern mannigfaltig geänderte Einteilung der Tertiärschichten unterscheidet zwölf Stufen, die nach hervorragenden Lokalitäten ihres Vorkommens benannt werden, und von denen die Soissonische, Londoner, Pariser und Bartonische dem Eocän, die Ligurische, Tongrische und Aquitanische dem Oligocän, die Mainzer (auch Langhische Stufe genannt), Helvetische und Tortonische dem Miocän und endlich die Piacentische (Messinische) und Astische Stufe dem Pliocän zuzurechnen sein würden. Mayers Originalbezeichnungen sind französisch, z. B. Tongrien, Mayencien, Helvetien etc. Mayer selbst aber trennt die T. in nur zwei Abteilungen: das Alttertiär (Paläogen) und das Neutertiär (Neogen), von denen das erstere Eocän und Oligocän, das letztere Miocän und Pliocän umfaßt. Die "Übersicht der geologischen Formationen" (s. Geologische Formation) gibt einen Katalog aller wichtigen Tertiärablagerungen, während im folgenden nur einige in geographischer Anordnung besprochen werden sollen.

Zu den ältesten Bildungen der T. gehören die untersten Schichten des Paris-Londoner Beckens, welches schon während der Eocänperiode einer wiederholten Aussüßung unterlag, was sich in dem Wechsel der Versteinerungen deutlich ausspricht. Oft genannt werden die Pariser Grobkalke (Calcaire grossier), reich an Tierresten, von denen die Tafel I Korallen (Turbinolia sulcata), Fischzähne (Carcharodon heterodon), Schnecken (Cerithium hexagonum) und Zweischaler (Crassatella ponderosa) darstellt. Etwas älter ist der Londonthon (London clay), welchem die abgebildete Kauplatte eines Rochens (Myliobatus punctatus, s. Tafel I) entstammt, noch älter die Tanetthone und -Sande, jünger die plastischen Thone von Barton und Bembridge, aus denen als Repräsentanten von Süßwasserschnecken Lymnaeus pyramidalis und Planorbis discus abgebildet sind (s. Tafel I). Die jüngern Schichten des Beckens fallen dem Oligocän zu, so namentlich die Gipse des Montmartre (Paläotherienschichten), an dessen reiche Reste (Palaeotherium, Anoplotherium commune, s. Tafel II) sich die berühmten Untersuchungen Cuviers anknüpften, sowie der Sandstein von Fontainebleau. An der Grenze zwischen Oligocän und Miocän stehen die Süßwasserkalke von La Beauce, und ungefähr gleichalterig sind die Indusienkalke der Auvergne, mit Phryganeenhülsen (Indusien), die aus kleinen zusammengekitteten Konchylien bestehen, durchspickte

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Tertiärformation (die wichtigsten Tertiärablagerungen).

Kalke. Noch jünger sind die Faluns der Touraine und der Bretagne, muschelreiche Sande und Mergel, aus denen Tafel I einen Seestern (Scutella striata) abbildet. In England sind außerdem pliocäne Schichten vertreten, der sogen. Crag, der sich in mehrere Etagen gliedern läßt. Eine rein marine Facies des Untertertiärs ist die Nummulitenformation. Wenn auch für diese die früher vorausgesetzte Gleichartigkeit nicht besteht, die betreffenden Gesteine vielmehr verschiedenen Altersstufen untergeordnet werden müssen, so sind doch die Altersunterschiede dieser aus Kalksteinen, Sandsteinen und Schiefern bestehenden überaus mächtigen Ablagerungen gering: es entsprechen die ältesten etwa dem Pariser Grobkalk, die jüngsten der untern Abteilung des Öligocäns. Kalksteine und Sandsteine sind mitunter überreich an großen Foraminiferen (Nummuliten, s. Tafel I u. beistehende Textfigur);

[siehe Graphik]

Nummulitenkalk.

die Schiefer (Flysch, s. übrigens auch Kreideformation) führen Fucus-Arten. Wesentlich unterscheidet sich die Bildung von dem in abgeschlossenen Becken auftretenden Tertiär durch die an ältere Formationen erinnernde Mannhaftigkeit der Entwickelung nach vertikaler Mächtigkeit und horizontaler Erstreckung. In den Ländern am Mittelmeer beginnend, beteiligen sich Nummulitengesteine an der Zusammensetzung der Pyrenäen, Alpen, Apenninen und Karpathen, durchziehen Kleinasien, sind im Himalaja vertreten und von den Sundainseln, China und Japan bekannt. In verschiedenen Niveaus führen sie fischreiche Schichten, so in einem tiefern, am Monte Bolca in Norditalien (s. Rhombus minimus, Tafel I), mit denen auch die Basalttuffe von Ronca fast gleichalterig sind, in einem höhern ein schwarzes, den alten Thonschiefer vollkommen gleichendes Gestein, den Fischschiefer von Glarus (Glarner Schiefer), in noch höherm Niveau (Ungarn) solche mit Meletta crenata. In mehreren der genannten Gebirge, den Pyrenäen, Alpen und dem Himalaja, steigen die Nummulitengesteine bis zu sehr bedeutenden Meereshöhen (im Himalaja bis über 5000 m) hinauf, ein Beweis, daß die Hebung dieser Gebirge erst in einer spätern Periode als in der des Alttertiärs erfolgt sein muß. Daß die mit den Sammelnamen "Wiener Sandstein" (in den Südalpen Macigno) und "Karpathensandstein" bezeichneten Schichten ebenso wie der Flysch nur teilweise hierher gehören, teilweise aber zur Kreideformation, wurde dort erwähnt. An einzelnen Stellen, namentlich in Bayern, werden die Nummulitengesteine glaukonitisch und eisenführend, so daß sie als Eisenerze gefördert werden (Sonthofen, Kressenberg); an andern Orten in den Alpen (Häring, Reit im Winkel) finden sich kohleführende Schichten. Ungefähr gleichalterig, teils oligocän, teils miocän, sind die besonders für Württemberg und die Schweiz wichtigen Bohnerze, welche kleine Becken oder Ausfüllungen von schlotähnlichen Vertiefungen in Jurakalken bilden, denen sie wegen dieser lokalen Verknüpfung lange beigezählt wurden, während ihre Reste (Säugetierknochen und Zähne) sie der T. zuweisen. Molasse ist kein streng geologischer Begriff, sondern eher ein petrographischer und bezeichnet meist feinere, lockere Sandsteine, besonders typisch in der Schweiz, aber auch in Oberschwaben entwickelt. Die Annahme einer Molassenformation hat nach genauern paläontologischen Untersuchungen weichen müssen; es gehören diese Bildungen verschiedenen Stufen des obern Oligocäns und des Miocäns an und bergen teils meerische, teils Süßwasserformen. Aus der Meeresmolasse bildet die Tafel I den Haifischzahn, Notidanus primigenius, ab. Der obern Süßwassermolasse, dem mittlern Miocän, werden auch die Kalke von Öningen in Oberbaden zugerechnet, welche einen ganz außerordentlichen Reichtum an pflanzlichen und tierischen Formen enthalten, unter den letztern jenen Riesensalamander (Andrias Scheuchzeri, s. Tafel II), den Scheuchzer 1732 als Homo diluvii testis beschrieb. Auch Nagelfluh ist ein petrographischer Begriff: die mit diesem Namen belegten polygenen Konglomerate gehören teils zum obern Oligocän, teils zum Miocän. Die Schichten, welche im W. Deutschlands das Mainzer Becken auf beiden Seiten des Rheins, mainaufwärts bis Aschaffenburg, nördlich zwischen Taunus und Vogelsberg bis gegen Gießen, bilden, sind teils Oligocän, teils Miocän. Zu ersterm zählen unter anderm die Meeressande, unter deren Resten namentlich die einer Seekuh (Halianassa) bemerkenswert sind, die Septarien- oder Rupelthone, die Landschneckenkalke, die Cerithienschichten und Cyrenenmergel. Dem Miocän werden Kalke, oft ganz erfüllt mit einer kleinen Schnecke (Litorinella), und Sandsteine mit Pflanzenabdrücken, sogen. Blättersandsteine (z. B. von Münzenberg in Hessen), beigerechnet und als jüngste Etage die Eppelsheimer Sande (Dinotheriensande), welche viele Säugetierreste, unter ihnen Rhinoceros (s. Tafel II) und Dinotherium (s. Tafel II), enthalten. Von dem großen Wiener Becken sind höchstens die ältesten Schichten dem Oligocän beizuzählen; das Gros der Bildung gehört dem Miocän, bis zu der jüngsten Stufe hinauf, an. Lokale Benennungen sind, von unten nach oben geordnet: der Leithakalk (Nulliporenkalk), ein fast nur aus Versteinerungen bestehender Kalk, der Tegel, ein kalkhaltiger Thon, beide wohl parallele Facies einer und derselben Bildungsperiode, Cerithienschichten, Kongerienschichten, oberer Tegel, Belvedereschichten. Gleichalterig sind die wichtigen Steinsalzablagerungen in Galizien (Wieliczka, Bochnia) und in Siebenbürgen (Kalusz), von denen Wieliczka jährlich gegen 1½ Mill. Ztr. Steinsalz liefert. In Norddeutschland sind zahlreiche Tertiärbildungen bekannt, durch Bedeckung seitens jüngerer Schichten in eine große Anzahl kleiner Becken geteilt und meist dem Oligocän angehörig. Als technisch wichtiges Produkt führen diese Schichten Braunkohlen, unter denen die der Rhön, der Wetterau und des Niederrheins jünger als die Ostdeutschlands und als die Bernstein führenden Schichten des Samlandes sind. Zwischen diesen kohleführenden Schichten sind marine Niveaus entwickelt, wie die Sande von Egeln, die Sande der Kasseler Gegend, die Kiese von Meck-

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Tertiärformation (Pflanzen- u. Tierformen, vulkanische Thätigkeit der Tertiärzeit).

lenburg mit den Sternberger Kuchen (versteinerungsreiche Konkretionen). Italien besitzt außer den oben erwähnten alttertiären Gesteinen auch weit jüngere, die als Subapenninenformation zusammengefaßt werden. Sie sind bis zu mehreren Hunderten von Metern mächtig und reich an Arten, welche fast ausnahmslos mit noch lebenden mittelmeerischen oder tropischen identisch sind. Tafel I gibt einen Taschenkrebs (Cancer macrocheilus) aus diesen Schichten. Auch jenseit des Ozeans, in Nordamerika, sind zahlreiche Tertiärbildungen bekannt, welche reiche Funde, namentlich an höhern Tieren, geliefert haben. In Grönland treten Braunkohlen auf, welche einen Rückschluß auf das damals herrschende Klima gestatten. Die Kalktuff- und Lehmschichten aber, welche in riesigen Ablagerungen die Pampas am La Plata-Strom in Südamerika bilden, und von deren Riesenformen Tafel II einige Abbildungen (Glyptodon, Megatherium, Mylodon) gibt, werden jetzt nicht mehr wie früher dem Jungtertiär, sondern dem Diluvium (s. d.) zugerechnet.

Unter den Pflanzenformen, zunächst des Alttertiärs, spielen besonders die Koniferen (Taxites, Taxoxylon, Cupressinoxylon, Sequoia) eine hervorragende Rolle als kohlebildende Pflanzen, von denen auch der Bernstein geliefert wurde, der sich aber meist fern von den erzeugenden Pinus-Arten auf sekundärer Lagerstätte in glaukonitischen Sanden vorfindet. Die Thone, Sandsteine und Schiefer führen Reste von Chondrites-Arten (in meerischen Schichten), Palmen, Pandanen, Seerosen, Feigen, immergrünen Eichen, Lorbeer, Sandelbäumen, Myrten und Proteaceen, während die Sagobäume ganz zurücktreten. Die sämtlichen Pflanzen des Alttertiärs tragen einen tropischen Charakter an sich, wie denn auch die Land- und Süßwasserkonchylien ihre nächsten Verwandten unter den heutigen Arten von Ostasien, Polynesien und Indien haben. Auch nach den Pflanzenformen des Neogens, unter welchen 119 Arten Monokotyledonen und gegen 500 Arten Dikotyledonen gezählt werden, berechnet O. Heer für die verschiedenen Fundorte eine gegen 9° C. höhere Mitteltemperatur während der Neogenzeit, als heute an denselben Orten herrscht. Er nimmt an:

Mitteltemperatur zur

frühern Miocänzeit spätern Miocänzeit

in Oberitalien .... 22° 20°

in der Schweiz .... 20½° 18½°

bei Danzig .... 16° -

in Schlesien .... - 15°

in Nordisland .... 9° -

Unter den Tierformen der T. sind die Molluskenordnungen schon ganz in dem für die Jetztwelt bestehenden Verhältnis vertreten. Zweischaler und Schnecken überwiegen; Brachiopoden und namentlich Cephalopoden, noch in der Kreide in großartigem Formenreichtum entwickelt, treten vollkommen zurück. Gleiches Schicksal teilen die Krinoideen, die Meeressaurier und Flugsaurier. Weitaus das meiste Interesse unter den tertiären Tierformen erregen die Säugetiere, teils weil sie im Gegensatz zu der in ältern Formationen allein vertretenen Ordnung der Beuteltiere viel mannigfaltigere Typen aufweisen, teils weil sie gewisse in der heutigen Schöpfung nur lückenhaft entwickelte Ordnungen ergänzen. Schon im Alttertiär treten Wale auf, so das aus Alabama stammende, 15 m lange Zeuglodon (Tafel II), besonders aber Mischlingstypen zwischen den Wiederkäuern und Dickhäutern, wie Palaeotherium und Anoplotherium (Tafel II). Daneben kommen vereinzelt Fledermäuse, Raubtiere, Nager, Insektenfresser und Affen vor, während Funde in Nordamerika die abenteuerlichen Gestalten des Loxolophodon und Dinoceras geliefert haben, sechsfach gehörnte Tierkolosse, welche gewisse Merkmale des Tapirs, des Rhinozeros und des Elefanten in sich vereinigen. Für das Neogen sind vor allen die Mastodonten (Tafel II), Elefanten mit vier Stoßzähnen und eigentümlichen, nicht blätterig, sondern zitzenförmig gebauten Zähnen, charakteristisch, daneben Dinotherium (Tafel II), ein riesiges Rüsseltier mit abwärts laufenden Stoßzähnen, in der übrigen Bezahnung an den Tapir erinnernd. Ferner treten gehörnte und ungehörnte Rhinozerosarten, Giraffen, Antilopen, Hunde, Raubtiere sowie einige Affen auf, von denen Dryopithecus (Tafel II) ein besonderes Interesse erregt, weil seine Bezahnung der des Menschen so nahe steht, daß einzelne aufgefundene Zähne lange Zeit für menschliche gehalten wurden. Endlich birgt das Jungtertiär in Anchitherium und Hipparion Stammformen unsers Pferdes.

Die Produkte der vulkanischen Thätigkeit während der Tertiärperiode sind Basalte, Andesite, Trachyte und Phonolithe, meist mit Laven historischen Ursprungs petrographisch vollkommen übereinstimmend. Ihre als Tuffe ausgebreiteten Zertrümmerungsprodukte sind durch Wechsellagerung mannigfaltig mit rein sedimentärem Material verknüpft und führen oft als einen greifbaren Beweis gleichzeitiger Bildung tertiäre Petrefakten. Im schroffen Gegensatz zu der Seltenheit vulkanischen Materials, welches gleichaltrig mit Kreide-, Jura- und Triasgesteinen ist, sind die Eruptivgesteine tertiären Alters äußerst zahlreich. In Deutschland gehören hierher die isolierten Basalt- und Phonolithkuppen des Hegaues, die Basalte der Alb, die Tuffe und Bomben im Ries, die vulkanischen Gesteine des Kaiserstuhlgebirges, die Umgebungen des Laacher Sees, die der Eifel, des Siebengebirges, Westerwaldes, Vogelgebirges, Habichtwaldes und Meißners, der Rhön, die isolierten Partien im Thüringer Wald, Fichtelgebirge, Erzgebirge und Riesengebirge. Gleichalterig sind ferner die nordböhmischen, ungarischen und siebenbürgischen Territorien vulkanischen Materials. Hierzu gesellen sich weiter die Gebiete in Zentralfrankreich, in Norditalien, in Schottland, Irland, auf den Shetlandinseln, den Färöern und Island. Auch im Süden Europas begann die heute noch andauernde vulkanische Thätigkeit schon während der Tertiärzeit. Gleich zahlreiche Belege für die großartige Entwickelung der Vulkane in der T. wären auch aus außereuropäischen Ländern beizubringen.

Vgl. Beyrich, Über den Zusammenhang der norddeutschen Tertiärbildungen (Berl. 1856); v. Ettingshausen, Die Tertiärflora der österreichischen Monarchie (Wien 1851); die Schriften von Heer: "Flora tertiaria Helvetiae" (Zürich 1854-58), "Urwelt der Schweiz" (2. Aufl., das. 1878), "Über das Klima und die Vegetationsverhältnisse des Tertiärlands" (Winterthur 1860) und "Flora fossilis arctica" (Zürich u. Winterthur 1868-75, 3 Bde.); Hörnes u. Reuß, Die fossilen Mollusken des Tertiärbeckens von Wien (Wien 1851-71, 2 Bde.); v. Könen, Über die Parallelisierung des norddeutschen, englischen und französischen Oligocäns (Berl. 1876); Sandberger, Untersuchungen über das Mainzer Tertiärbecken (Wiesbad. 1853); Derselbe, Die Konchylien des Mainzer Tertiärbeckens (das. 1863); Lepsius, Das Mainzer Becken (Darmst. 1883); Sueß, Der Boden der Stadt Wien (Wien 1862); Fuchs, Erläuterungen zur geologischen Karte der Umgebung Wiens (das. 1873); Derselbe, Übersicht der jüngern Ter-

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Tertiarier - Terz.

tiärbildungen des Wiener Beckens etc. (Berl. 1877); Karrer, Geologie der Franz Joseph-Hochquellenwasserleitung (Wien 1877).

Tertiarier und Tertiarierinnen (lat. Tertius ordo de poenitentia), Laien, die an dem Verdienst eines Ordens Anteil haben, aber in der Welt bleiben. Dergleichen Orden (Bußorden, dritte Orden) führen sich zurück auf den heil. Franziskus, welcher, als 1221 ganze Scharen von Männern und Frauen Aufnahme in Klöster verlangten, einen Orden von Halbmönchen und Halbnonnen schuf und demselben eine Regel in 20 Kapiteln gab, nach welcher sie durch Vermeidung von leichtsinnigen Eiden, Zänkerei, des Besuchs von Schauspielen, üppigen Lebens etc. den Klosterleuten im Leben ähnlich werden könnten, ohne ihre Verbindungen mit der Welt zu verlassen. Ihre Kleidung war meist ein aschgrauer Rock, mit einem Strick umgürtet, die der Schwestern ein weißer Schleier. Selbst Kaiser Karl IV. und König Ludwig IX. von Frankreich sowie viele andre fürstliche Personen gehörten dem Orden an. Zu Ende des 13. Jahrh. legten eine Anzahl von Tertiariern die Ordensgelübde ab und wurden Religiosen, wodurch die regulierten T. (regulierter Bußorden) entstanden. Dieselben teilten sich mit der Zeit in eine Menge von Korporationen. Auch verschiedene Orden der regulierten Klosterfrauen vom Bußorden tauchten auf, in Deutschland Elisabetherinnen genannt. Von ihnen zu unterscheiden sind die Hospitalbrüder und Hospitalschwestern vom dritten Orden des heil. Franziskus.

Tertiärsystem, s. v. w. Tertiärformation.

Tertiawechsel, s. Wechsel.

Tertie (lat.), der jetzt nur noch selten gebräuchliche 60. Teil einer Sekunde bei der Winkel- und Zeiteinteilung, im ersten Fall durch drei der Zahl oben beigesetzte Striche bezeichnet, z. B. 4° 9' 25'' 10''' = 4 Grad 9 Minuten 25 Sekunden 10 Tertien.

Tertiogenitur (lat.), Abfindung, welche dem Drittgebornen oder dessen Linie nach der Bestimmung mancher fürstlichen Hausgesetze gewährt wird, meist ein Vermögenskomplex, früher auch zuweilen eine Entschädigung an Land und Leuten, wie dies z. B. in dem habsburgischen Haus der Fall gewesen ist, dessen Primogenitur die österreichische Monarchie, während die Sekundogenitur Toscana, die T. Modena war.

Tertium comparationis (lat., "das Dritte der Vergleichung"), der Vergleichungspunkt, das, worin zwei verglichene Dinge übereinstimmen.

Tertium non datur (lat., "ein Drittes gibt es nicht"), Formel zur Bezeichnung, daß zwei Urteile einander kontradiktorisch entgegenstehen, ein dritter Fall also außer den beiden angegebenen nicht möglich ist.

Tertius gaudet (lat.), "der Dritte freut sich" (nämlich wenn zwei sich streiten); vollständiger: Duobus litigantibus tertius gaudet.

Tertulia (span.), gesellige Zusammenkunft, besonders Abendgesellschaft, in welcher man sich durch Konversation, Gesellschaftsspiele, bisweilen wohl auch mit Tanzen unterhält.

Tertullianus, Quintus Septimius Florens, lat. Kirchenvater, geboren um 160 zu Karthago, war daselbst als Rechtsgelehrter und Rhetor thätig und trat erst um 185 zum Christentum über. Er war ein Mann von strenger Denkungsart, heftigem Charakter und reicher, oft wilder Phantasie und ward durch seine ganze Gemütsrichtung der Richtung der Montanisten (s. d.) zugeführt. Er starb um 230. Seine Schriften, apologetischen ("Apologeticum, Ad gentes" u. a.), moralischen und disziplinarischen Inhalts, reich an Gedanken, aber vielfach dunkel und in dem rauhen afrikanischen Stil abgefaßt, wurden neuerdings von Leopold (Leipz. 1839-41, 4 Bde.) und Öhler (das. 1853, 3 Bde.) herausgegeben und von Kellner (Köln 1882, 2 Bde.) übersetzt. Vgl. Böhringer, Tertullianus (Stuttg. 1873); Hauck, Tertullians Leben und Schriften (Erlang. 1877); Bonwetsch, Die Schriften Tertullians nach der Zeit ihrer Abfassung untersucht (Bonn 1878); Ludwig, Tertullians Ethik (Leipz. 1885).

Teruel, span. Provinz, den südlichen Teil der Landschaft Aragonien umfassend, grenzt im N. an die Provinz Saragossa, im O. an Tarragona und Castellon, im S. an Valencia und Cuenca, im W. an Guadalajara und hat einen Flächenraum von 14,818 qkm (269,1 QM.). Das Land ist meist gebirgig und wird von zahlreichen zum iberischen Gebirgssystem gehörigen Berggruppen, wie Sierra de Cucalon, Sierra de San Just (1513 m), Sierra de Gudar (1770 m), Sierra de Albarracin (mit Cerro San Felipe, 1800 m, und Muela de San Juan, 1610 m), Sierra de Javalambre (2002 m), durchzogen. Die Flußthäler bilden fruchtbare Ebenen, der Nordosten gehört dagegen zur iberischen Steppe. Die Gewässer der Provinz fließen zum größern Teil dem Ebro zu, darunter Jiloca (Nebenfluß des Jalon), Martin, Guadalope. Außerdem entspringen hier der Tajo und die Küstenflüsse Guadalaviar mit Alfambra und der Mijares. Die Bevölkerung ist spärlich, (1878) 242,165 Seelen (nur 16 pro QKilometer, 1886 auf 250,000 Seelen geschätzt). Der Boden ist wenig kultiviert und großenteils Weideland, liefert aber immerhin viel Getreide, dann Öl, Hanf, Flachs, etwas Obst und Wein. Abgesehen vom Westen, wo sich Wald vorfindet, ist das Land baumarm. Andre Produkte sind: Seide, Wolle (als Ergebnis der stark betriebenen Schafzucht), dann, als Ertrag des bis jetzt sehr schwach betriebenen Bergbaues: Braunkohlen, Blei- und Eisenerz, Schwefel und Salz. Auch Mineralquellen sind vorhanden. Industrie, Handel und Verkehr sind unbedeutend. Die Provinz umfaßt zehn Gerichtsbezirke (darunter Albarracin, Alcañiz, Hijar und Montalban). - Die gleichnamige Hauptstadt, auf steilem Hügel am Guadalaviar gelegen, altertümlich und wirr gebaut, hat 7 Kirchen (darunter die schöne gotische Kathedrale), einen im 17. Jahrh. erbauten, aus zwei übereinander stehenden Bogenreihen bestehenden Aquädukt (Los Arcos), ein Priesterseminar, Speditionshandel und (1886) 8861 Einw. Es ist Sitz des Gouverneurs und eines Bischofs. T. hieß im Altertum Turdeto und ist keltiberischen Ursprungs.

Ter-Vere, Stadt, s. Vere.

Tervueren (spr -vuh-er'n), Marktflecken in der belg. Provinz. Brabant, Arrondissement Löwen, an der Eisenbahn Brüssel- T., mit (1888) 2674 Einw., war früher Sommerresidenz der Herzöge von Brabant, hat ein schönes, dem König zur Verfügung gestelltes Schloß mit Park, welches unter der holländischen Regierung dem Prinzen von Oranien gehörte und seit 1867 zeitweilig von der Kaiserin Charlotte, Witwe des Kaisers Maximilian von Mexiko (Schwester des Königs der Belgier), bewohnt wurde.

Terz (lat. Tertia), in der Musik die dritte Stufe in diatonischer Folge. Dieselbe kann sein: groß (a), klein (b), vermindert (c) oder übermäßig (d). [Siehe Graphik] Von hervorragender Bedeutung für das elementare Studium der Harmonielehre ist die große T., denn sie ist wie die Quinte (s. d.) eins der den Dur- und Mollakkord konstituierenden Grundinter-

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Terzerol - Tessin.

valle. Wie schon Zarlino, Tartini und in neuerer Zeit besonders M. Hauptmann betonten, hat der Mollakkord nicht eine kleine T. (diese hat er nur im Generalbaß), sondern wie der Durakkord eine große T., aber von oben, da der ganze Mollakkord von oben herunter zu denken ist: e

c

a.

T. ist auch Name einer Hilfsstimme in der Orgel. Auch einer der Grundhiebe der Fechtkunst (s. d.) heißt T.

Terzerol (ital.), kleine Pistole (s. d.), Taschenpistole mit Perkussionsschloß.

Terzeronen (span.), s. Farbige.

Terzett (ital.), ein Tonstück für drei konzertierende Stimmen, insbesondere Singstimmen, während ein solches für Instrumente Trio genannt wird.

Terzine (ital.), ursprünglich ital. Strophe, aus drei Versen von fünf- oder sechsfüßigen Jamben bestehend, mit gekreuzten Reimen, so daß stets der erste und dritte Vers jeder folgenden Strophe mit dem zweiten der vorhergehenden reimen, während der letzte Vers des Gedichtes als überschüssiger Vers mit dem zweiten Vers der letzten Strophe reimt und so einen metrischen Abschluß herbeiführt (Schema: aba, bcb, cdc, dec[?], efe etc.). Angeblich von Dante erfunden, dessen "Divina Commedia" in dieser Strophenform abgefaßt ist, wurde die T. seit Ende des 18. Jahrh. auch von deutschen Dichtern, z. B. von A. W. Schlegel, Rückert, Chamisso, Heyse u. a., mit Meisterschaft behandelt. Vgl. Schuchardt, Ritornell und T. (Halle 1875).

Terzka (Terzky, eigentlich Treka), Adam Erdmann, Graf, kaiserl. General, ein böhmischer Edelmann, diente im Heer Wallensteins, dessen Schwager er durch die Heirat mit der Gräfin Maximiliane Harrach (also nicht der Schwester Wallensteins wie in Schillers "Wallenstein") war, genoß als unbedingt ergebener Anhänger Wallensteins dessen Vertrauen und zeichnete sich mit seinem Regiment in der Schlacht bei Lützen aus. Er und Ilow beredeten hauptsächlich im Januar 1634 die Wallensteinschen Obersten zum Revers von Pilsen und zu der zweiten Verbriefung ihrer Treue den 20. Febr. Er ward deshalb von dem kaiserlichen Pardon ausgenommen und 25. Febr. 1634 in Eger, wohin er Wallenstein begleitet hatte, nebst Ilow und Kinsky beim Abendessen nach verzweifeltem Widerstand ermordet.

Terzquartakkord (Terzquartsextakkord), Umkehrung des Septimenakkords mit in den Baß gelegter Quinte (ghdf:dfgh). Vgl. Septimenakkord.

Terztöne, s. Quinttöne.

Tesanj (spr. -schanj), Bezirksstadt in Bosnien, Kreis Banjaluka, liegt malerisch in einer Schlucht an beiden Ufern der Raduska, hat 5 Moscheen, auf steilem Kegel eine Ruine der ehemaligen Residenz der Bane der Landschaft Usora, deren Hauptstadt T. war, (1885) 5807 Einw. (meist Mohammedaner), lebhaften Obst- und Getreidehandel und ein Bezirksgericht.

Teschen, Fürstentum im österreich. Herzogtum Schlesien, besteht aus dem größten Teil des frühern Teschener Kreises, welcher im J. 1849 in die jetzigen Bezirkshauptmannschaften T., Bielitz und Friedeck aufgelöst ward (s. Karte "Böhmen, Mähren und Schlesien"), gehörte ursprünglich den oberschlesischen Herzögen von Oppeln, wurde zufolge der Teilung dieses Herzogtums 1282 selbständig als piastisches Fürstentum und stand seit 1298 unter böhmischer Oberhoheit. Als 1625 der Mannesstamm der Herzöge von T. erlosch, verblieb das Fürstentum bei der Krone Böhmen, bis Kaiser Karl VI. dasselbe 1722 dem Herzog Leopold Joseph Karl von Lothringen übergab, dem sein Sohn Franz Stephan, nachmaliger Kaiser Franz I., 1729 im Besitz folgte. Nach diesem besaß dasselbe seit 1766 unter dem Titel eines Herzogs von Sachsen-T. der mit der Tochter Maria Theresias, Maria Christina, vermählte Prinz Albert von Sachsen, der es bei seinem Tod 1822 an den Erzherzog Karl vererbte, von dem es an dessen ältesten Sohn, Albrecht, überging. - Die gleichnamige Stadt (poln. Cieszyn), an der Olsa und am Kreuzungspunkt der Kaschau-Oderberger Eisenbahn und der Nordbahnlinie Kojetein-Bielitz, hat eine Dechanteikirche, ein verfallenes Bergschloß und (1880) mit den sechs Vorstädten 13,004 Einw., welche Fabrikation von Möbeln, Wagen, Bautischlerei, Flachsspinnerei und -Weberei, Bierbrauerei, Branntweinbrennerei und lebhaften Handel betreiben. T. ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, eines Kreisgerichts, eines Zollamtes und eines katholischen Generalvikariats mit bischöflicher Jurisdiktion, hat ein Obergymnasium, eine Oberrealschule, eine Lehrerbildungsanstalt, ein adliges Konvikt, evangelisches Alumneum, ein Museum, eine Sparkasse und ein Theater. Historisch merkwürdig ist die Stadt durch den hier 13. Mai 1779 zwischen Maria Theresia und Friedrich II. abgeschlossenen Frieden, welcher dem bayrischen Erbfolgekrieg ein Ende machte. Vgl. Biermann, Geschichte des Herzogtums T. (Tesch. 1863); Peter, T., historisch-topographisches Bild (das. 1878); Derselbe, Geschichte der Stadt T. (das. 1888).

Tesching, Zimmergewehr von so kleinem Kaliber, daß die Gase eines stark geladenen Zündhütchens genügen, das erbsengroße Geschoß auf 10-20 m durch ein mäßig starkes Brett zu treiben; angeblich nach der Stadt Teschen benannt.

Teskere (arab.), Billet, Note, Paß, Schuldverschreibung und andre ähnliche Schriftstücke; auch Sammlung von Biographien von Heiligen und Dichtern. T.-dschi, Notar des Großwesirs und des Hohen Rats.

Tessellarisch (lat.), würfelig, gewürfelt.

Tessera (lat.), Tafel, Stein zum Stimmen in den Versammlungen; Parole; auch Würfel zum Spielen.

Tesserales Kristallsystem, s. Kristall, S. 230.

Tesseralkies, s. v. w. Arsenikkobaltkies.

Tessin (ital. Ticino, lat. Ticinus), ein Alpenfluß, der in Oberitalien den Po erreicht, auf Schweizerboden 70 km lang, hat seine größere Quelle an der Nufenen, die kleinere auf dem St. Gotthardpaß, die sich beide (die erstere das Val Bedretto, die andre das Val Tremola durchrauschend) bei Airolo (1170 m) vereinigen, strömt dann als kräftiger Bergstrom durch Livinen (Valle Leventina), durchbricht die wilde Felsschlucht des Dazio Grande (763 m), eine der wildschönsten Partien im Alpenrevier, und betritt bei Biasca, wo ihm der Brenno zufließt (287 m), das offenere und flachere Thalgelände der Riviera. Von nun an langsamer fließend, zerspaltet er sich in viele Arme und legt Massen von Geschiebe ab. Nach Aufnahme der Moësa (232 m) neigt sich das Thal noch weniger, ist sehr breit und wenig höher als das Flußbett, so daß Überschwemmungen und Versumpfungen eintreten. Bei Magadino mündet der T. in den Lago Maggiore (197 m), den er bei Sesto Calende, schon auf italienischem Gebiet, als schiffbarer Fluß wieder verläßt. In südöstlicher Richtung fließt der T. weiter an Pavia vorüber und mündet unterhalb dieser Stadt in den Po. Der T. richtet im Frühjahr, besonders in seinem obern Lauf, durch sein Austreten oft bedeutende Verheerungen an. Bei Sesto Calende zweigt ein Kanal nach Mailand ab.

606

Tessin (Kanton).

Tessin (Ticino), der südlichste Kanton der Schweiz, im N. von Wallis, Uri und Graubünden, im O. von Graubünden und Italien, im S. und W. von Italien begrenzt, hat eine Fläche von 2818 qkm (51,2 QM.). Er umfaßt die große Masse des obern Tessingebiets, d. h. einen förmlichen Fächer alpiner und voralpiner Thäler, welche sich gegen den Lago Maggiore, meist in südlicher Richtung, dem Fluß T. zu, öffnen. Soweit das Hochgebirge reicht, pflegt man die Tessiner Alpen als Ausstrahlungen des St. Gotthard (s. d.) zu betrachten und der Gotthardgruppe beizuordnen. Es ist dies zunächst ein Zug, der von dem Knotenpunkt einerseits zum Ofenhorn (3270 m), anderseits zum Vorderrhein zieht und hier in die Graubündner Alpen übergeht. Da erheben sich unter andern die zentralen Massen des Scopi (3201 m), des Camotsch (Cima Camadra 3203 m) und insbesondere die Adulagruppe mit dem 3398 m hohen Rheinwaldhorn, der höchsten Erhebung des Kantons, von wo ein langer Kamm nach S., bis zur Mündung der Moësa, zieht. Dieser großartigen äußern Umwallung in Halbkreisform entspricht, durch das Thal des Tessin davon getrennt, eine innere, von den Schneehäuptern des Basodine (3276 m) und Pizzo Forno (2909 m) flankierte. Jenseit der tiefen Furche des Tessinthals und des Lago Maggiore erreicht das Gebirge nur noch voralpinen Charakter in den Zentralmassen des Monte Tamaro (1961 m), des Camoghe (2226 m) und des Monte Generoso (1695 m); die Thäler nehmen mildere Formen an und leiten allmählich in die lombardischen Ebenen über. Eine Straße, welche den Monte Ceneri (553 m) überschreitet, jetzt eine zum Netz des Gotthardunternehmens gehörige Bahn, mit 1,673 km langem Tunnel (1880/81 gebohrt), verbindet die hochalpinen Landschaften (Sopraceneri) mit dem voralpinen Gebiet (Sottoceneri). Der Hauptfluß des Landes ist der Tessin (s. d.), dessen Thal sich in die drei Stufen: Val Bedretto, Valle Leventina und Riviera gliedert. Ihm geht links das von Lukmanier und Greina herabsteigende, vom Brenno durchflossene Valle Blegno zu; zwei andre hochalpine, dem Tessinthal parallele Thäler münden rechts zum Lago Maggiore: das Val Verzasca und bei Locarno Valle Maggia, zu oberst Val Lavizzara genannt. Im Gegensatz zu diesen ernst und eng umrahmten Alpenthälern steht der voralpine Sottoceneri. Hier lagert der Luganer See, dem der Agno zufließt und die klare Tresa entströmt, um in den Lago Maggiore zu münden. Dieser orographischen Gestaltung entspricht die klimatische Mannigfaltigkeit, so daß Bellinzona eine durchschnittliche Jahrestemperatur von 12,6° C. hat, während im St. Gotthard-Hospiz (2100 m) das Jahresmittel -0,6° beträgt. Der Kanton zählt (1888) 127,274 (1880: 130,777) Einw., durchweg italienischer Nationalität. Entsprechend ihrer Bodenbeschaffenheit bringen die alpinen Thäler des Sopraceneri wenig Getreide hervor, während der Sottoceneri und die untere Stufe des Sopraceneri sehr ergiebig sind. Hier gibt es meist zwei Ernten, und neben allerlei Obst gedeihen Feigen, Pfirsiche und Walnüsse, Kastanien und Oliven sowie Wein und Tabak. Die Waldungen sind meist in der schonungslosesten Weise ausgeholzt worden; die früher sehr starke Holzausfuhr hat daher beinahe ganz aufgehört. Auch in der Rinderzucht findet sich nichts Bedeutendes; die Tiere sind klein und von geringer Rasse. Ein großes Heer von Ziegen und kleinen, unansehnlichen Schafen zeugt kaum für eine wirtschaftliche Entwickelung. Im Sottoceneri hält man viele Esel. Auch Seiden- und Schneckenzucht wird betrieben. Um Locarno findet sich Gneis, um Mendrisio Kalkstein und Marmor, und im Val Lavizzara wird Lavezstein (zu Geschirren) vielfach angewendet. Die einheimischen Gewerbszweige, etwa die Geschirrdrechselei von Val Lavizzara und die Strohflechterei von Val Onsernone abgerechnet, häufen sich im Sottoceneri, namentlich um Lugano, wo Leinweberei, Gerberei, Ziegelei, Töpferei, Papierfabrikation u. a. blühen. Den meisten Gewerbfleiß aber zeigen die Tessiner in der Fremde, wo sie in den mannigfachsten Handwerken und Arbeiten thätig sind. In neuerer Zeit wendet sich die Auswanderung auch überseeischen Ländern, hauptsächlich den La Plata-Staaten, zu. Von seinen schweizerischen Nachbarn, den Kantonen Wallis, Uri und Graubünden, durch wilde Gebirge geschieden, ist das Land von N. her schwer zugänglich; hohe und beschwerliche Bergpfade, wie die Nufenen (2441 m) und Greina (2360 m) sowie der zum Comersee hinüberleitende Paß von Sant Jorio (1956 m), haben keine Bedeutung als Verkehrsrouten erlangt, und erst seit kurzem ist der 1917 m hohe Lukmanier gebahnt, dessen neue Straße 1877 dem Verkehr übergeben wurde. Dagegen war der St. Gotthard (2114 m) seit dem 12. Jahrh. mehr und mehr zu einem wichtigen Übergang geworden und bekam 1820-24 eine großartige Kunststraße; ziemlich zu derselben Zeit wurde auch der Bernhardin (2063 m) gebahnt. Seit 15. Okt. 1869 kam das Unternehmen der Gotthardbahn (s. d.) zur Ausführung. Die tessinischen Thalbahnen Biasca-Bellinzona-Locarno sowie Lugano-Chiasso wurden bereits 1874 dem Betrieb übergeben; dann folgte die Linie Bellinzona-Lugano-Chlasso (-Como), welche den Monte Ceneri passiert. Einstweilen ist die Dampfschiffahrt auf dem Lago Maggiore, in minderm Grade diejenige auf dem Luganer See von Wichtigkeit; auf ersterm kursieren 11, auf letzterm 3 Dampfer. Die inländische Handelstätigkeit ist nicht bedeutend; ein vorübergehendes Leben bringen die herbstlichen Viehmärkte von Airolo, Faido, Biasca und namentlich von Lugano, dem industriellsten Ort und ersten Handelsplatz des T. In Bellinzona und Lugano arbeiten die zwei tessinischen Zettelbanken; Locarno hat eine Hypothekenbank. Zur Hebung der sehr vernachlässigten Volksbildung ist in neuerer Zeit manches geschehen. Auch im T. ist der Primarunterricht jetzt obligatorisch. Ein Lehrerseminar für beide Geschlechter besteht erst seit 1874 (in Pollegio). Neben einigen Progymnasien ist das Lyceum in Lugano die höchste Lehranstalt des Kantons. Die öffentlichen Bibliotheken enthalten nur 30,000 Bände. Seit längerer Zeit sind die kirchlichen Verhältnisse in einer Umbildung begriffen. Der Kanton T. gehörte früher teils zum Bistum Como, teils zum Erzbistum Mailand; am 22. Juli 1859 hat die Bundesversammlung die Abtrennung vom auswärtigen Verband ausgesprochen, und durch Staatsvertrag ist diese Ablösung ökonomisch geregelt. Die kirchliche Seite jedoch blieb lange streitig, da der Papst die Errichtung eines besondern Bistums T. wünschte, die Eidgenossenschaft dagegen den Anschluß an eins der schon bestehenden schweizerischen Bistümer verlangte. Erst 1888 wurde der Streit durch einen Vergleich mit der Kurie beigelegt (s. unten, Geschichte). Die Verfassung datiert vom 4. Juli 1830 und erfuhr wiederholt partielle Revisionen (die letzte 10. Febr. 1883). T. stand bis dahin noch durchaus auf dem Boden der Repräsentativdemokratie; dann aber wurde das fakultative Referendum eingeführt, nämlich sofern 5000 Bürger die Abstimmung verlangen, und zwar

607

Tessin - Testakte.

unterliegen dieser Abstimmung Gesetze und allgemein verbindliche Beschlüsse nicht dringlicher Natur. Die gesetzgebende Behörde ist der Große Rat, der auf je vier Jahre durch das Volk erwählt wird. Die Exekutive übt ein Staatsrat von fünf Mitgliedern, die der Große Rat auf je vier Jahre erwählt. Die höchste richterliche Gewalt ist einem Obergericht übergeben, das ebenfalls durch den Großen Rat auf vier Jahre ernannt wird. In den acht Bezirken des Kantons ist die Exekutive durch einen Commissario der Regierung vertreten; jeder Bezirk hat sein Bezirksgericht, die Gemeinden je eine Municipalität mit einem Sindaco an der Spitze. Die Staatsrechnung für 1886 zeigt an Einnahmen 2,368,121, an Ausgaben 1,974,388 Frank. Die verzinsliche Staatsschuld belief sich am 1. Jan. 1887 auf 8,584,957 Fr., die unverzinsliche auf 767,003 Fr. Der Sitz der Regierung wechselte bisher von sechs zu sechs Jahren zwischen den Städten Lugano, Locarno und Bellinzona; seit 1881 ist infolge eines Volksbeschlusses Bellinzona die ständige Hauptstadt des Kantons geworden.

[Geschichte.] Das Gebiet des Kantons T., ursprünglich größtenteils zum Herzogtum Mailand gehörig, wurde von den Eidgenossen im 15. und 16. Jahrh. teils durch Eroberung, teils durch Schenkung erworben. Das Thal Leventina (Livinen) gehörte den Urnern (seit 1440) und erfreute sich ausgedehnter Freiheiten, die ihm erst 1755 infolge eines Aufstandes entrissen wurden. Bellenz, Riviera und Bollenz (Blegnothal), von Ludwig XII. für die Hilfeleistung bei der Eroberung Mailands 1503 abgetreten, waren "gemeine" Vogteien von Uri, Schwyz und Nidwalden, Lugano, Locarno, Mendrisio und Maggiathal, ein Geschenk Maximilian Sforzas für Mailands Befreiung (1512), dagegen solche sämtlicher eidgenössischer Orte ohne Appenzell. Die Verwaltung dieser italienischen Vogteien war ein Schandfleck der alten Eidgenossenschaft, und das Land fiel einer trostlosen Verwilderung anheim; dennoch zog es 1798 vor, bei der Helvetischen Republik zu verbleiben, die ihm Gleichberechtigung mit den ehemaligen Herren brachte, statt sich dem Wunsch Bonapartes gemäß der Cisalpinischen Republik anzuschließen. Die Mediationsakte schuf daraus 1803 den heutigen Kanton T. mit einer Repräsentativverfassung, die 1814 in aristokratischem Sinn modifiziert wurde. Im T. begann noch vor der Julirevolution in Frankreich mit einer unter der Führung des nachmaligen Bundesrats Franscini ins Werk gesetzten Verfassungsrevision vom 30. Juni 1830 die liberale Bewegung in der Schweiz. Die innere Geschichte des Kantons blieb jedoch immer eine leidenschaftlich bewegte infolge des Gegensatzes zwischen den Klerikalen, welche in den nördlich vom Monte Ceneri gelegenen Alpenthälern (Sopraceneri), und den Liberalen, die im südlichen Landesteil (Sottoceneri) die entschiedene Mehrheit besaßen. Am 6. Dez. 1839 stürzten die Liberalen eine sie mit Verfolgungen bedrohende ultramontane Regierung mit Gewalt, während ein ähnlicher Versuch der Ultramontanen 1841 mit der Hinrichtung ihres Führers Nessi endete. Nachdem die Liberalen ihr Übergewicht im Großen Rat und im Staatsrat dazu benutzt hatten, die Klöster aufzuheben oder doch in der Novizenaufnahme zu beschränken, die Geistlichen von der Schule auszuschließen und den kirchlichen Verband mit den Bistümern Como und Mailand seitens des Staats zu lösen (1858), entbrannte 1870 über der Frage, ob Bellinzona oder Lugano alleinige Hauptstadt des Kantons sein sollte, aufs neue ein leidenschaftlicher Parteikampf zwischen den Sopra- u. Sottocenerinern. Der Gegensatz verschärfte sich, als 1875 die Ultramontanen die Mehrheit im Großen Rat erhielten. Dieser geriet nunmehr in Konflikt mit dem liberalen Staatsrat über ein neues Wahlgesetz. Die Aufregung stieg darüber so hoch, daß es 22. Okt. 1876 in Stabio zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Klerikalen und Liberalen kam. Doch ward unter Vermittelung eines eidgenössischen Kommissars ein Vergleich geschlossen und Neuwahlen für den Großen Rat au 21. Jan. 1877 anberaumt, bei denen die Klerikalen definitiv den Sieg errangen. Durch ein Verfassungsgesetz vom 10. März 1878 wurde der bisherige Wechsel des Regierungssitzes zwischen Locarno, Lugano und Bellinzona aufgehoben und letzteres zur alleinigen Hauptstadt erklärt. Neuen Stoff zur Entflammung der Parteileidenschaften gab die nunmehr ausschließlich aus Klerikalen bestellte Regierung durch die rücksichtslose Entfernung aller liberalen Lehrer und Beamten, Wiederbevölkerung der Klöster etc.; durch den Versuch aber, den Prozeß wegen der Vorgänge in Stabio zur Vernichtung des Obersten Mola, eines Führers der Liberalen, zu benutzen, obschon dessen Unschuld klar zu Tage lag, brachte sie die ganze Schweiz in Aufregung, die sich erst wieder legte, als die in ihrer Mehrheit klerikale Jury den Prozeß durch eine allgemeine Freisprechung endigte (14. Mai 1880). Im J. 1883 wurde durch eine Verfassungsrevision das Referendum eingeführt und 1886 das Kirchengesetz in ultramontanem Sinn umgeändert, wogegen der Papst durch Verträge mit der Eidgenossenschaft (1884 und 1888) in den formellen Anschluß des T. an das Bistum Basel willigte, unter der Bedingung, daß ein von der Kurie im Einverständnis mit dem Bischof aus der tessinischen Geistlichkeit zu ernennender apostolischer Administrator in Lugano die bischöfliche Gewalt im Kanton ausübe. Aus Anlaß der Neuwahlen für den Großen Rat (3. März 1889) kam es zu einem so heftigen Streit zwischen den Konservativen und den Liberalen, welche die erstern gesetzwidriger Streichungen von Liberalen in den Wahllisten beschuldigten, daß die Bundesbehörde einschreiten mußte. Gewählt wurden 75 Konservative und 37 Liberale. Vgl. Franscini, Der Kanton T. historisch, geographisch und statistisch (deutsch, St. Gallen 1835); Osenbrüggen, Der Gotthard und das T. (Basel 1877); "Bolletino storico della Svizzera italiana" (Bellinz. 1879ff.); Motta, Bibliografia storica ticinese (Zür.).

Tessin, Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, an der Recknitz, hat ein Amtsgericht und (1885) 2462 Einw.

Test, eine mit Äscher, Mergel oder Knochenmehl (Testasche) ausgeschlagene kleine eiserne Schale, in welcher das Blicksilber fein gebrannt wird, wobei die Testasche die gebildeten geschmolzenen Metalloxyde einsaugt. Das Erhitzen der Schale geschieht vor dem Gebläse, in einem Muffel- oder einem Flammofen.

Testa (lat.), in der Botanik s. v. w. Samenschale (s. Same, S. 253).

Testaccio (spr. -áttscho), Hügel am Südwestende Roms, nahe dem Tiber, s. Rom, S. 905.

Testakte (v. engl. test. Probe), ein Gesetz, welches das englische Parlament 1673 von Karl II. erzwang, und nach welchem jeder öffentliche Beamte außer dem Supremateid, betreffend die oberste Kirchengewalt der Krone, noch einen besondern Schwur (Testeid) leisten mußte, daß er nicht an die Transsubstantiation, d. h. an die Umwandlung von Brot und Wein in den wahrhaftigen Leib und in das Blut Christi nach katholischer Lehre, glaube. Dadurch wurden die Katholiken nicht nur von allen Staatsämtern,

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Testament (juristisch).

sondern auch vom Sitz im Parlament ausgeschlossen, bis die Parlamentsakte vom 13. April 1829 T. und Testeid aufhob.

Testament (lat.), im weitern Sinn s. v. w. letzter Wille, letztwillige Verfügung (Disposition), Verfügung von Todes wegen überhaupt, d. h. die einseitige Verfügung, welche jemand von Todes wegen über sein Vermögen trifft, im Gegensatz zur zweiseitigen oder vertragsmäßigen; im engern und eigentlichen Sinn und im Gegensatz zur Schenkung auf den Todesfall und zum Kodizill (s. d.) eine letztwillige Disposition, welche eine eigentliche Erbeinsetzung enthält. Derjenige, welcher ein T. errichtet, wird Testierer (testator, testatrix), der im T. Bedachte Honorierter genannt. Jedes T. setzt zur Gültigkeit die Fähigkeit des Erblassers, ein T. zu errichten (Testierfähigkeit, testamenti factio activa), ferner die Fähigkeit des eingesetzten Erben, aus einem letzten Willen etwas zu erwerben (Bedenkfähigkeit), und endlich regelmäßig die Beobachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Testamentserrichtung voraus. Die Testierfähigkeit ist ein Ausfluß der persönlichen Handlungsfähigkeit überhaupt; sie steht also jedem Geschäftsfähigen zu und ist ebendeshalb nur Kindern und den wegen Geisteskrankheit entmündigten Personen vollständig entzogen. Die in ihrer Geschäftsfähigkeit nur beschränkten Personen, wie Minderjährige, können nach dem Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1912), solange sie das 16. Lebensjahr nicht zurückgelegt haben, kein T. errichten, auch nicht mit Einwilligung ihres gesetzlichen Vertreters. Nach diesem Zeitpunkt können sie aber auch ohne diese Einwilligung testieren. Was die Bedenkfähigkeit anbetrifft, so sind verschiedene Unfähigkeitsgründe des römischen Rechts heutzutage unpraktisch; nur in Ansehung juristischer Personen ist die Erbfähigkeit auf den Fiskus, die Gemeinden, Kirchen und milden Stiftungen und auf diejenigen juristischen Personen beschränkt, welchen dieselbe ausdrücklich beigelegt worden ist. Nach dem Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1759) kann jede juristische Person als Erbe eingesetzt oder mit einem Vermächtnis bedacht werden. Der Form nach werden die Testamente in Privattestamente und öffentliche Testamente eingeteilt. Die Form des römisch-rechtlichen Privattestaments war die Errichtung desselben unter Zuziehung von sieben Solennitätszeugen, in deren gleichzeitigem Beisein die Testamentserrichtung ohne erhebliche Unterbrechung zu vollenden war (unitas actus, loci et temporis). Die Errichtung des Testaments konnte auf diese Weise mündlich oder schriftlich geschehen. War der Testator des Schreibens unkundig, so bedurfte es zur Unterschrift an seiner Statt der Zuziehung eines achten Zeugen. Unter Umständen kann jedoch nach gemeinem Recht von diesen Formen ganz oder teilweise abgesehen werden (privilegiertes T.). So kann es zur Zeit einer ansteckenden Krankheit nachgelassen werden, daß die Zeugen nicht gleichzeitig versammelt, sondern einzeln und getrennt das Erforderliche vornehmen (testamentum pestis tempore conditum); bei einem auf dem Land errichteten T. genügt im Notfall die Zuziehung von nur fünf Zeugen (testamentum ruri conditum); Verfügungen zu gunsten der Kirche oder milder Stiftungen können ganz formlos errichtet werden (testamentum ad pias causas), wofern sie nur durch zwei Zeugen bewiesen werden können. Trifft der Testator im T. nur für seine Kinder und Kindeskinder Verfügungen, so genügt ein schriftlicher, datierter Aufsatz, in welchem die Namen der Deszendenten und ihre Erbteile mit Worten, nicht mit Zahlen, angegeben sind (testamentum parentis inter liberos). Besonders privilegiert ist endlich das Soldatentestament, welches nach römischem Recht, wenn es im Feld errichtet wird, keiner Förmlichkeit bedarf, wofern nur der Wille des Testators gewiß ist. Gegenwärtig sind in Deutschland nach dem Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874 (§ 44) militärische letztwillige Verfügungen gültig, wenn sie in Kriegszeiten oder während eines Belagerungszustandes errichtet, vom Testator eigenhändig geschrieben und unterschrieben oder von demselben wenigstens eigenhändig unterschrieben und von zwei Zeugen, einem Auditeur oder Offizier, mit unterzeichnet sind, oder wenn von einem Auditeur oder Offizier unter Zuziehung zweier Zeugen oder noch eines Auditeurs oder Offiziers über die mündliche Erklärung des Testators eine schriftliche Verhandlung aufgenommen und diese dem Testator vorgelesen sowie von dem Auditeur oder Offizier und den Zeugen oder von den zugezogenen Auditeuren oder Offizieren unterschrieben worden ist. Solche privilegierte militärische Verfügungen verlieren aber ihre Gültigkeit mit dem Ablauf eines Jahrs von dem Tag ab, an welchem der Truppenteil, zu dem der Testator gehört, demobil gemacht ist oder der Testator aufgehört hat, zu dem mobilen Truppenteil zu gehören, oder als Kriegsgefangener oder als Geisel aus der Gewalt des Feindes entlassen ist. Dem Privattestament steht das heutzutage die Regel bildende ösfentliche T. gegenüber, welches nach römischem Rechte durch die Mitwirkung des Regenten, welcher das ihm vom Testator überreichte schriftliche T. entgegennahm (testamentum principi oblatum), errichtet wurde. Inzwischen ist an dessen Stelle das gerichtliche oder notarielle T. (testamentum publicum) getreten, sei es, daß der Testator seinen Willen zu gerichtlichem oder notariellem Protokoll erklärt (testamentum apud acta conditum), sei es, daß er das schriftlich abgefaßte T. dem Gericht, Notar und im Ausland auch einem Konsul zur Verwahrung und zur Eröffnung (Apertur) nach des Testators Tod übergibt (testamentum judici oblatum). Das versiegelt übergebene T. wird auch mystisches T. genannt. Wesentlich ist nach gemeinem Recht bei jedem T. die Einsetzung eines oder mehrerer Erben; auch kann eine eventuelle Erbeinsetzung (Einsetzung eines Nacherben) für den Fall ausgesprochen werden, daß der in erster Linie Eingesetzte (Vorerbe) nicht Erbe werden würde (s. Substitution). Nach dem Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs soll jedoch eine eigentliche Erbeinsetzung zur Gültigkeit des Testaments künftighin nicht mehr erforderlich sein. Es kann vielmehr auch nur ein Vermächtnis in dem T. enthalten sein. Der Entwurf (§ 1911 ff.) kennt ferner außer dem gerichtlichen oder notariellen (konsularischen) T. das Soldatentestament sowie das in besonders eiligen Fällen vor dem Vorsteher der Gemeinde unter Zuziehung von zwei Zeugen errichtete T. Befindet sich ferner der Testator in einer Ortschaft, einer Straße oder einem Gebäude, welche infolge einer Krankheit oder sonstiger außerordentlicher Umstände abgesperrt sind, so kann, abgesehen von der Errichtung des Testaments vor dem Gemeindevorstand, dieselbe auch durch mündliche Erklärung vor drei Zeugen oder durch eine von dem Erblasser unter Angabe des Ortes und des Tages der Errichtung eigenhändig geschriebene und unterschriebene Erklärung erfolgen. Auf die letztere Weise oder vor drei Zeugen kann man auch auf hoher See testieren. Das bisherige gemeine Recht kennt ferner

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Testament - Tête-à-tête.

ein gemeinschaftliches T. (testamentum simultaneum). Bei diesem gemeinschaftlichen T., welches namentlich bei Ehegatten vorkommt, sind zwei oder mehrere Testamente formell miteinander verbunden. Gewöhnlich setzen hier die gemeinschaftlichen Testierenden (Kontestatoren) sich oder Dritte gegenseitig zu Erben ein (wechselseitiges, reziprokes T.), und ein solches T. wird dann im Zweifel als ein korrespektives angesehen, d. h. der Bestand der einen letztwilligen Disposition erscheint als abhängig von dem der andern; namentlich gilt hier der Widerruf des einen zugleich auch als solcher des andern Testators. Der Entwurf des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 1913) erklärt jedoch gemeinschaftliche Testamente für unzulässig. Dem Prinzip nach besteht völlige Testierfreiheit, d. h. der Testator kann über seinen Nachlaß frei verfügen; ein Satz, welcher nur zu gunsten der sogen. Noterben, d. h. der nächsten Blutsverwandten und des Ehegatten, eine Ausnahme erleidet, welchen wenigstens der sogen. Pflichtteil zukommen muß. Nur wenn ein gesetzlicher Enterbungsgrund vorliegt, kann ein solcher Noterbe von der Erbfolge gänzlich und zwar durch ausdrückliche Enterbung ausgeschlossen werden (s. Pflichtteil). Endlich kann auch nach deutschem Recht über Stamm-, Lehns- und Fideikommißgüter sowie über das Vermögen, welches nach dem ehelichen Güterrecht dem überlebenden Ehegatten oder den Kindern verbleiben muß, nicht oder doch nur in beschränkter Weise letztwillig verfügt werden. Vgl. Eichhorn, Das T. Musterbuch für letztwillige Verfügungen nach dem allgemeinen Landrecht etc. (Berl. 1885).

Testament, Altes und Neues, s. Bibel.

Testamentarisch (lat.), letztwillig, ein Testament (s. d.) betreffend, einem solchen gemäß.

Testamentsvollstrecker (Testamentsexekutoren, Treuhänder, Salmannen, Testamentarier, Manufideles), die von dem Erblasser bei Errichtung des letzten Willens mit der Vollstreckung des letztern und mit der Regulierung des Nachlasses betrauten Personen. Je nachdem ihnen diese im ganzen oder nur in Ansehung einzelner Rechtsgeschäfte übertragen ist, wird zwischen Universal- und Spezialexekutoren unterschieden. Auch ist es dem Erblasser nach dem Entwurf eines deutschen Zivilgesetzbuchs unbenommen, für den Fall der Behinderung oder des Hinwegfalls eines Testamentsvollstreckers eventuell einen anderweiten T. zu erenennen[sic!].

Testat (lat.), Zeugnis. Testato, mit Hinterlassung eines Testaments (sterben.)

Testator (Testierer, lat.), derjenige, welcher ein Testament errichtet; s. Testament.

Teste de Buch, La (spr. test d'bük), Stadt im franz. Departement Gironde, Arrondisfement Bordeaux, an der Südküste des Bassins von Arcachon des Atlantischen Ozeans, durch eine Zweigbahn mit der Bahnlinie Bordeaux-Bayonne verbunden, hat Seebäder, welche von den Bordelesen stark besucht werden, bedeutende Austernparke, Seefischerei und (1886) 5235 Einw. Das umliegende Dünenland (Le Buch genannt) ist mit ausgedehnten Beständen von Kiefern (welche Harz in den Handel liefern) und Eichen bedeckt.

Testeid, s. Testakte.

Testes (Testiculi, lat.), Hoden.

Testieren (lat.), bezeugen; ein Testament errichten.

Testierfreiheit, s. Erbrecht und Pflichtteil.

Testifikation (lat.), Beweis durch Zeugen; testifizieren, durch Zeugen nachweisen.

Testikel (lat.), Hode (s. d.).

Testimoninm (lat.), Zeugnis. T. integritatis. Ledigkeitszeugnis; T. maturitatis, Zeugnis der Reife, welches nach bestandenem Abiturientenexamen ausgestellt wird; T. morum, Sittenzeugnis; T. paupertatis, Armutszeugnis (s. d.).

Teston (spr. testóng oder tätóng), altfranz. Silbermünze im Wert von 10-15 Sous.

Testudo (lat.), Schildkröte; im altrömischen Heer eine taktische Stellung der Soldaten zum Schutz gegen Wurfgeschosse und besonders zum Angriff gegen eine befestigte Stadt, wobei die ganze Heeresabteilung die Schilde über die Köpfe hielt (vgl. Abbild.);

[siehe Grafik]

Schilddach (Testudo). Relief der Antoninssäule in Rom.

s. auch Aries. Bei den Römern auch s. v. w. Lyra (s. d.), im 15.-17. Jahrh. s. v. w. Laute (s. d.).

Têt (spr. tä oder tät. Teta), Küstenfluß im franz. Departement Ostpyrenäen, entspringt hoch in den Pyrenäen, fließt in vorherrschend nordöstlicher Richtung und fällt nach 125 km langem Lauf bei Ste.-Marie de la Salenque in das Mittelländische Meer.

Tetanie (Tetanus intermittens, Tetanille), eine Krankheit, welche vorzugsweise bei Kindern und jugendlichen Individuen nach Erkältungen und akuten Krankheiten vorkommt. Dieselbe äußert sich in anfallsweise auftretenden tonischen Krämpfen, welche meist in den Fingern beginnen und sich sodann auf den Arm und die untern Extremitäten, meist symmetrisch forterstrecken. In der Regel werden vornehmlich die Beugemuskeln befallen, wodurch die Extremitäten während des Anfalls in starrer Beugung der verschiedenen Gelenke fixiert werden. Die Anfälle dauern in manchen Fällen nur minuten-, in andern stunden- und sogar tagelang. Das Bewußtsein ist während des Anfalls völlig intakt, die Schmerzen mäßig. In den freien Zwischenräumen sind die Nerven abnorm leicht erregbar und die Krämpfe jederzeit durch Druck auf die größern Arterien und Nerven der Extremitäten künstlich hervorzurufen. Die Krankheit dauert meist einige Wochen und endet fast stets in Genesung. Die Behandlung besteht in elektrischen und nervenberuhigenden Kuren.

Tetanus (griech.), s. Starrkrampf.

Tetaratasprudel, in Neuseeland, s. Geiser, S. 26, und Band 7, S. 1025.

Tetartin, s. Albit.

Tetartoëdrie (griech.), s. Kristall, S. 232.

Tête (franz.), Kopf; im Militärwesen die Spitze, der vorderste Teil eines Truppenkörpers.

Tête-à-tête (franz., "Kopf an Kopf"), vertrauliche Zusammenkunft, Gespräch unter vier Augen.

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Tetens - Tetrarch.

Tetens, Johann Nikolaus, Philosoph, geb. 1736 zu Tetenbühl im Holsteinischen, von 1776 bis 1789 Professor der Philosophie zu Kiel, hat sich durch seine in Geist und Sprache der vorkritischen Popularphilosophie verfaßten "Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung" (Leipz. 1776, 2 Bde.) verdient gemacht. Er starb 1807 in Kopenhagen. Vgl. Harms, Die Psychologie des Joh. Nik. T. (Berl. 1878).

Teterow, Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Herzogtum Güstrow, am gleichnamigen See, Knotenpunkt der Linie Lübeck-Mecklenburgisch-Preußische Grenze der Mecklenburgischen Friedrich Franz-Bahn und der Eisenbahn Gnoien-T., hat eine alte, renovierte gotische Kirche, ein neues Krankenhaus, 2 gotische Stadtthore, ein Amtsgericht, Eisengießerei und Maschinenfabrikation, eine Dampfmolkerei, eine Zuckerfabrik, 2 Sägemühlen und (1885) 5991 fast nur evang. Einwohner.

Tethys, in der griech. Mythologie Tochter des Uranos und der Gäa, eine Titanide, Gemahlin des Okeanos, Mutter der Okeaniden und der Stromgötter (nicht zu verwechseln mit Thetis).

Tetjuschi, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kasan, an der Wolga, mit (1885) 3934 Einw., die sich hauptsächlich mit Fischerei beschäftigen.

Tetrachloräthylen etc., s. Kohlenstoffchloride.

Tetrachord (griech.), eine Skala oder Folge von vier Tönen, s. Griechische Musik, S. 729.

Tetradymit, Mineral aus der Ordnung der Metalle, kristallisiert rhomboedrisch, häufig in Zwillingen und Vierlingen (woher der Name), kommt aber auch derb vor, ist zinnweiß bis stahlgrau, nur auf frischer Spaltungsfläche stark glänzend, Härte 1-2, spez. Gew. 7,4-7,5, besteht aus Tellur, Schwefel und Wismut Bi2Te2S, scheint aber mit andern Tellurwismuten nur Eine Spezies zu bilden, deren Tellur- und Wismutgehalt schwankt, während Schwefel (und Selen) unwesentlich sind. T. findet sich bei Schemnitz in Ungarn, in Virginia, Nordcarolina, Montana, etwas abweichend zusammengesetzte Tellurwismute bei Deutsch-Pilsen in Ungarn, San José in Brasilien, Cumberland in England.

Tetradynama stamina (griech.-lat.), viermächtige Staubgefäße, in Zwitterblüten mit 6 Staubgefäßen, von denen 4 länger als die beiden übrigen sind; Pflanzen mit solchen Blüten bilden die 15. Klasse des Linneschen Systems, Tetradynamia.

Tetraëder (griech., "Vierflächner"), im weitern Sinn jede dreiseitige Pyramide; im engern Sinn eine von vier kongruenten gleichseitigen Dreiecken begrenzte Pyramide mit vier gleichen dreiseitigen Ecken und vier gleichlangen Kanten, einer der fünf regulären Körper (s. Körper); in letzterm Sinn tritt das T. in der Kristallographie als hemiedrische Form des (regulären) Oktaeders auf.

Tetraëdrit, s. Fahlerz.

Tetraëdrometrie (griech.), eigentlich die Ermittelung der fehlenden Stücke einer dreiseitigen Pyramide (eines Tetraeders im weitern Sinn) aus sechs gegebenen Stücken; neuerdings die Lehre von den Eckenfunktionen, durch welche dreiseitige Ecken für die Rechnung in ähnlicher Weise repräsentiert werden wie Winkel durch ihre trigonometrischen Funktionen. Vgl. Junghann, Tetraedrometrie (Gotha 1863, 2 Tle.).

Tetragon (griech.), s. Viereck.

Tetragonales Kristallsystem, s. v. w. quadratisches Kristallsystem, s. Kristall, S. 230.

Tetragonia L., Gattung aus der Familie der Aizoaceen, Kräuter oder Halbsträucher, welche meist an den Küsten auf der südlichen Halbkugel wachsen, mit wechselständigen, gestielten, fleischigen Blättern und achselständigen, gestielten Blüten. T. expansa Murr. (neuseeländischer Spinat), ein einjähriges, 1 m hohes, ästiges Kraut mit eirund-rautenförmigen Blättern, gelblichgrünen Blüten und vierhörnigen, fast[sic!] sitzenden Früchten, wächst auf Neuseeland, Australien, den Norfolkinseln, Südamerika und Japan und wird allgemein als Gemüse benutzt. Es wird seit 1772 auch in Europa kultiviert.

Tetragonolobus Rivin. (Spargelerbse, Flügelerbse), Gattung aus der Familie der Papilionaceen, einjährige und ausdauernde Kräuter mit einzeln oder zu zweien in den Blattwinkeln stehenden Blüten und vierkantigen, geflügelten Hülsen. Nur vier Arten. T. purpureus Mönch. (Spargelklee, englische Erbse), Sommergewächs mit Kleeblättern, fast rhombischen Blättchen, ähnlichen Nebenblättern, dunkel blutroten oder dunkelgelben Blüten und 5 cm langen, mehrsamigen Hülsen; wächst in Südeuropa und wird seit dem 18. Jahrh. der Hülsen und Samen halber kultiviert, die ein feines Gemüse liefern.

Tetragynus (griech.), vierweibige Blüten mit vier Griffeln; daher Tetragynia, im Linnéschen System die Pflanzengattungen mit vierweibigen Blüten.

Tetrakishexaëder (Pyramidenwürfel), 24-flächige Kristallgestalt des tesseralen Systems, s. Kristall, S. 230.

Tetraktys (griech.), in der Zahlenlehre der Pythagoreer die Zahl 10, insofern dieselbe die Summe der vier ersten natürlichen Zahlen (1+2+3+4) und als Zahl der Weltkörper sowie der Paare ursprünglicher Gegensätze an sich und in kosmologischer wie logischer Beziehung der Ausdruck der Vollkommenhelt ist.

Tetralogie (griech.), s. Trilogie.

Tetrameter (griech., lat. Octonarius), ein aus vier Doppelfüßen (Dipodien) bestehender Vers, kommt in trochäischem, iambischem und anapästischem Rhythmus vor und zwar sowohl katalektisch als akatalektisch, je nachdem der letzte Fuß um eine Silbe verkürzt oder vollständig ist. Der iambische katalektische T. findet sich besonders bei den griechischen Lyrikern und Komikern, der trochäische T. bei den griechischen Dramatikern, den lateinischen Komikern, um eine feierliche Bewegung hervorzubringen, in der altspanischen Romanze, auch in Gedichten Platens (z. B. "Das Grab im Busento"). Der anapästische (mit einzelnen Spondeen vermischte) T. wurde von Platen und Prutz, nach dem Vorbild des Aristophanes, für die Chorstrophen ihrer satirischen Komödien angewendet (s. Anapäst). - T. heißt auch ein Feldmeßinstrument, s. Meßkette.

Tetrandrus (griech.), viermännige Blüten mit vier gleichlangen Staubgefäßen; davon Tetrandria, vierte Klasse des Linnéschen Systems, Gewächse mit vier gleichlangen Staubfäden enthaltend.

Tetranychus, s. Milben, S. 607.

Tetrao, Auerhuhn; Tetraonidae (Waldhühner), Familie aus der Ordnung der Hühnervögel (s. d.); Tetraoninae, Unterfamilie, die eigentlichen Waldhühner umfassend.

Tetrapolitanische Konfession (Confessio tetrapolitatia), s. Augsburgische Konfession.

Tetrarch (griech.), in asiat. Staaten, z. B. Galatien, ein Vierfürst, d. h. einer der vier Beherrscher des Landes; auch in Judäa kamen dergleichen vor, wenn auch nicht im striktesten Sinn, z. B. Herodes. Tetrarchie, Herrschaft, Würde, Bezirk eines Vierfürsten; s. auch Phalanx.

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Tetrasporen - Teucrium.

Tetrasporen, eine Art Sporen bei den Florideen (s. Algen, S. 346).

Tetrax, Zwergtrappe.

Tetrodon, Kugelfisch.

Tetronerythrin, roter Farbstoff, welcher im Tierreich weit verbreitet ist, findet sich in den roten Flecken am Kopf mancher Vögel und kann daraus mit Chloroform ausgezogen werden. Er löst sich auch in Alkohol, Äther und Schwefelkohlenstoff, wird durch Chlorwasser und Licht entfärbt und durch Vitriolöl indigoblau, dann schwarz gefärbt. T. ist einer der wichtigsten Farbstoffe der Schwämme, findet sich in fast allen Klassen der wirbellosen Tiere und auch in den Fischen. Er entspricht dem Blutrot der höhern Tiere und dient kraft seiner großen Affinität zum Sauerstoff der Hautatmung. Er tritt daher überall dort in großer Menge auf, wo bedeutende Mengen Sauerstoff durch die Gewebe aufgenommen werden sollen, und man trifft ihn an Hautteilen, die in unmittelbarer Berührung mit Wasser stehen, an den Atmungsorganen wie in den Kiemen der sitzenden Anneliden, in Muskeln und ähnlichen Organen wie in dem muskelartigen Fuß der Muscheltiere. Sitzende Tiere sind reicher an T. als frei sich bewegende, weil letztere ohnehin genügend mit sauerstoffhaltigem Wasser in Berührung kommen.

Tetschen, Stadt im nördlichen Böhmen, an der Mündung der Pulsnitz (Polzen) in die Elbe, Station der Österreichischen Nordwestbahn und der Böhmischen Nordbahn, durch Ketten- und Eisenbahnbrücke mit Bodenbach (s. d.) am andern Elbufer verbunden, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat ein 1668 vom Grafen Maximilian Thun erbautes Schloß (auf 45 m hohem Felsen), mit schönem Park und Gewächshäusern, 2 Kirchen, eine Handelsschule, Fachschule für Thonindustrie, eine Schifferschule, eine bedeutende Sparkasse (Einlagen 6 Mill. Guld.), Baumwollspinnerei, Fabriken für ätherische Öle, Papier und Knöpfe, Bierbrauerei, Kunstmühle, Gasanstalt, bedeutenden Handel und (1880) 5330 Einw. T. ist zugleich Station der Elbdampfschiffahrt und besuchter klimatischer Kurort. Schöne Partien in der reizenden Umgebung sind der nordwestlich liegende Schneeberg (694 m), die höchste Erhebung des nordböhmischen Sandsteingebirges, mit prachtvoller Aussicht, und Tyssaer Wände, wild zerklüftete Sandsteinbildungen, dann die nördlich an der Elbe beginnende Sächsische Schweiz (s. d.). Im Pulsnitzthal zwischen T. und Bensen ist ein Hauptsitz der böhmischen Baumwollindustrie.

Tettenborn, Friedrich Karl, Freiherr von, berühmter Reitergeneral im Freiheitskrieg, geb. 19. Febr. 1778 zu Tettenborn in der damals badischen Grafschaft Sponheim, trat 1794 in österreichische Militärdienste und stieg schnell zum Rittmeister auf. In der Schlacht bei Wagram erwarb er sich den Majorsrang. Nach dem Wiener Frieden begleitete er den Fürsten Schwarzenberg nach Paris. Bei dem Ausbruch des russischen Kriegs 1812 trat er als Oberstleutnant in russische Dienste. An der Spitze des Kutusowschen Vortrabs rückte er zuerst wieder in Moskau ein, verfolgte an der Spitze der leichten Reiterei die Franzosen bis an die Beresina, nahm dann Wilna, überschritt den Niemen, drängte Macdonald durch Ostpreußen zurück und besetzte Königsberg. Zum Obersten ernannt, ging er darauf über die Weichsel und Oder und rückte, nachdem er sich in Landsberg mit dem General Tschernischew vereinigt hatte, in Berlin ein. Von da ward er nach Hamburg entsendet, das er 18. März 1813 besetzte, nachdem er Morand bei Bergedorf auf das linke Elbufer zurückgeworfen hatte; doch mußte er die Stadt 30. Mai dem anrückenden Davout überlassen. Darauf focht er unter Wallmoden gegen Davout und gegen Pecheux, nach dessen Niederlage er 15. Okt. Bremen nahm. Im Januar 1814 ward er beauftragt, mit einem Korps leichter Reiterei in Frankreich die Verbindung zwischen den einzelnen Heeren der Alliierten herzustellen. Nach dem Frieden zog er sich auf seine Güter zurück, und 1818 trat er aus den russischen Diensten in badische über. Er brachte hier die Territorialdifferenzen zwischen Baden und Bayern in Ordnung, war bei Gründung der Verfassung thätig und ging 1819 als Gesandter nach Wien, wo er 9. Dez. 1845 starb. Vgl. Varnhagen von Ense, Geschichte der Kriegszüge des Generals T. (Stuttg. 1814).

Tettnang, Oberamtsstadt im württemb. Donaukreis, 7 km vom Bodensee, an der Linie Bretten-Friedrichshafen der Württembergischen Staatsbahn, 465 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, Hopfen- und Obstbau, Käse- und Malzfabrikation, Dampfsägemühlen u. (1885) 2267 Einw. T. war ehemals Hauptort der Grafschaft Montfort-T., kam 1783 an Österreich, 1803 an Bayern und 1810 an Württemberg.

Tetnan (Tetawîn), Stadt auf der Nordküste von Marokko, links am Martil, 6 km vom Meer, hat eine Citadelle, ist von hohen Bastionen umgeben und schließt mit besonderer Mauer das weit sauberere Viertel der Juden ein, welche den größten Teil des Handels in Händen haben und ein Drittel der Bevölkerung (ca. 22,000) ausmachen. Die Einfuhr betrug 1887: 1,232,875, die Ausfuhr 324,950 Frank. Die Einfahrt in den Fluß verteidigt ein Fort; 1887 liefen 143 Schiffe von 2716 Ton. ein. Die Stadt wurde mehrmals von den Spaniern genommen; 4. Febr. 1860 siegten dieselben unter O'Donnell, der den Titel Herzog von T. erhielt, hier über die Marokkaner.

Tetzel, s. Tezel.

Teu, chines. Getreidemaß, s. Hwo.

Teubner, Benedictus Gotthelf, Buchhändler, geb. 16. Juni 1784 zu Großkraußnigk in der Niederlausitz, ward Buchdrucker, erwarb 1811 die Weinedelsche Buchdruckerei zu Leipzig, welche er schon seit 1806 geleitet hatte, und die er durch Energie und Geschick zu einer der bedeutendsten Deutschlands erweiterte. Daneben gründete er 1832 auch in Dresden eine noch jetzt bestehende Druckerei. Zu dem Ruf der Firma hat namentlich auch die Entwickelung beigetragen, welche das 1824 in Verbindung mit der Druckerei gegründete Verlagsgeschäft genommen, das seit Jahren auf dem Gebiet der Philologie und des höhern Unterrichtswesens in Deutschland die erste Stelle behauptet, und von dessen Unternehmungen die "Bibliotheca scriptorum graecorum et romanorum Teubneriana" die bekannteste ist. T. starb 21. Jan. 1856 in Leipzig und hinterließ das Geschäft seinen Schwiegersöhnen Adolf Roßbach u. Albin Ackermann.

Teucer, griech. Heros, s. Teukros.

Teuchern, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Merseburg, Kreis Weißenfels, an der Rippach und der Linie Weißenfels-Gera der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Braunkohlengruben, Solaröl-, Maschinenöl- und Paraffinfabrikation, Brennerei, Dampfdrechslerei, 9 Ziegeleien und (1885) 4644 fast nur evang. Einwohner.

Teucrium L. (Gamander), Gattung aus der Familie der Labiaten, Kräuter, Halbsträucher oder Sträucher von sehr verschiedenem Habitus, mit meist einzelnen, selten zu mehreren achselständigen Blüten. Etwa 100 Arten, weit zerstreut, viele in den Mittel-

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Teuerdank - Teufel.

meerländern. T. marum L. (Marum verum L., Katzen-, Marum- oder Mastixkraut), 30-60 cm hoch, strauchartig, in Südeuropa und Vorderasien, hat kleine, eirunde, ganzrandige, am Rand etwas zurückgerollte, unterseits weißlich-filzige Blätter und rosenrote, an den Enden der Äste lockere Trauben bildende Blüten. Der Strauch riecht aromatisch kampferartig und schmeckt bitter und scharf gewürzhaft. Das Kraut lockt die Katzen an; es wurde früher arzneilich benutzt. T. Scordium L. (Knoblauchgamander, Skordienkraut), ausdauernd, mit sitzenden, länglich lanzettlichen, grob gesägten Blättern und purpurnen Blüten, wächst im gemäßigten Europa und Asien auf Sumpfwiesen, riecht stark nach Knoblauch und wurde schon von Hippokrates arzneilich benutzt. T. Chamaedrys L., ausdauernd, buschig, immergrün, mit kleinen, gestielten, länglichen, eingeschnitten gekerbten Blättern und purpurnen Blüten in beblätterter Traube, wächst in Mitteldeutschland auf Kalkhügeln und wird wie die erstere Art als Zierpflanze kultiviert.

Teuerdank (Theuerdank), s. Pfinzing.

Teuerung, s. Teurung.

Teufe, im Bergbau s. v. w. Tiefe; daher Seigerteufe, senkrechte Tiefe; flache T., Abstand zwischen zwei untereinander liegenden Punkten auf einer flachen schiefen Ebene; Teufkarte, s. v. w. Profil; ewige T., die unbeschränkte Ausdehnung einer Bergbauberechtigung in die Tiefe.

Teufel (griech. Diabolos, "Verleumder"; hebr. Satan, s. v. w. Widersacher), das personifizierte Prinzip des Bösen. Der stete Wechsel von schaffenden und zerstörenden Naturkräften spiegelt sich in den meisten Religionen als Gegensatz göttlich-wohlthätiger zu finster-unheilvollen Wesen, und in demselben Maß, als die Furcht vorherrschender Faktor in einer Religion ist, wendet sich sogar gerade den letztern ein gewisser Kult zu. Am ausgebildetsten tritt ein solcher Dualismus bei den Parsen (s. d.) auf. Von da drang die Lehre von einem persönlichen Haupte des Reichs des Bösen in das Judentum ein, und erst jetzt wurde der Satan, welcher im Buch Hiob noch als ein übelwollender, aber Gott untergeordneter und in seinem Dienst handelnder Unglücksengel erscheint, zum eigentlichen T., neben welchem in den palästinischen Apokryphen, z. B. im Buch Tobias, noch andre Dämonen erscheinen als Plagegeister der Menschen. Dieselbe dämonologische Vorstellungswelt ist in voller Stärke dann auch in die neutestamentlichen Schriften übergegangen, wie schon die große Rolle beweist, welche die "Besessenen" (s. d.) in den Evangelien spielen. Wenn dann auch noch in den spätern Lehrschriften des Neuen Testaments Christus als Sieger erscheint über den "Fürsten dieser Welt", d. h. den mit landesüblichen Ausdrücken auch Beelzebub (s. d.) oder Beelzebul, eine Form des Baal, und Belial oder Beliar ("Nichtsnutzigkeit") genannten Satan, so steht hier die mit Hölle und T. sich befassende Vorstellung allerdings zunächst im Dienste der Vertiefung der religiösen Ideen und Motive. Der Glaube an die Überwindung des Teufels durch Christus trug dazu bei, der Lehre vom Messias einen sittlichen Gehalt zu geben und alle Energie der sittlichen Kräfte in den Gläubigen zum Kampf wider die Gewalt des Argen ins Feld zu rufen. Aber auch, als die sittliche Begeisterung abgekühlt war, erhielt sich die Vorstellung vom T., welcher seither in der christlichen Dogmatik den persönlichen Repräsentanten der Sünde bildet, den schlauen und gewaltigen Feind des göttlichen Reichs, den allezeit geschäftigen Veranlasser böser Lüste und unfrommer Gedanken in den Gläubigen. Im Gegensatz zu den Schutzengeln und guten Geistern galten in der alten Kirche die Dämonen als geschaffene, aber freiwillig abgefallene Geister, welche die Heidenwelt beherrschen, Objekte des heidnischen Kultus sind, Christenverfolgungen veranlassen und die Ausbreitung der Kirche hindern. Ihr Haupt Lucifer (s. d.) hat sich gleich nach der Schöpfung von Gott losgesagt, sei es aus Neid, sei es aus Hochmut; seine endliche Bekehrung, welche einzelne Lehrer in Aussicht stellten (s. Apokatastase), wurde schon von Irenäus und seit Augustin von der ganzen Rechtgläubigkeit geleugnet. Dagegen war man der Ansicht, daß infolge des Siegs Christi über Tod und Hölle Gebet, Taufwasser, Kreuzeszeichen u. dgl. hinreichen, den T. zu bändigen, und schon Gregor I. meinte, er sei eigentlich ein dummes Tier, welches sich in seinen eignen Schlingen fange. Eine schreckhaftere Gestalt gewann er wieder im Mittelalter. Besonders im germanischen Volksglauben spielte er von jeher eine große Rolle, teils allerdings auch humoristisch im Märchen, meistens aber schauerlich im Glauben an Hexerei und Zauberei. Die Theologen und Juristen, welche seit dem 15. Jahrh. die Theorie und Praxis der Hexenprozesse (s. d.) kultivierten, haben auch die genauere Naturgeschichte des Teufels festgestellt. Selbst die Reformation hat den ganzen Teufelsglauben als unentbehrlichen Artikel mit in den Kauf genommen, Luther voran, welcher sein Leben lang wider den "altbösen Feind" zu Felde lag. Erschüttert wurde diese Lehre erst im Zusammenhang mit den Hexenprozessen, und infolge der kritischen Richtung, welche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die protestantische Theologie erfaßte, fingen selbst die offenbarungsgläubigen Theologen an, die Lehre vom Satan zu mildern, während die Rationalisten ihn ganz aus dem christlichen Glauben verwiesen, indem sie die biblischen Äußerungen auf Akkommodation zurückführten. Die neuere Orthodoxie dagegen hat sich des Teufels wieder mit Vorliebe angenommen, Vilmar ihn sogar gesehen, und im Volksglauben spielt derselbe noch immer eine große Rolle; selbst die Meinung, daß man durch Zaubersprüche den T. und seine Geister herbeirufen und unter gewissen Bedingungen sich dienstbar machen könne (Teufelsbeschwörung), steht noch vielfach in Blüte. Vorgestellt wird er nach altväterlicher Weise schwarz und behaart, mit Bocks- oder Pferdefüßen, Krallen, Hörnern, einem Kuhschwanz, häßlichem Gesicht und langer Habichtsnase und bei seinem Verschwinden einen argen Gestank hinterlassend. Überdies hat er im Volksglauben noch viel von dem Wesen, den Gestalten und den Namen der alten Gottheiten beibehalten, und die meisten Sagen, welche vom T. handeln, sind auf die ehemaligen Götter zu beziehen. Daher spukt der T. hauptsächlich an Stätten, die im Heidentum heilig waren, heischt dieselben Opfer, welche einst die Götter empfingen, erscheint häufig als grüner Jäger oder in Tiergestalt. Mitunter sind auch Züge von den Riesen auf ihn übergegangen, und deshalb werden nicht nur uralte Bauten, Fußspuren in Felsen und Pflanzen nach ihm benannt, sondern auch viele Sagen von ihm erzählt, in denen er, wie einst die Riesen von Helden, von Menschen überlistet wird. Die Kunst pflegt den T. allegorisch, namentlich unter den biblischen Bildern einer Schlange oder eines Drachen, darzustellen. Vgl. Roskoff, Geschichte des Teufels (Leipz. 1869, 2 Bde.); Albers, Die Lehre vom T. (Straßb. 1878); Conway, Demonology and devillore (Lond. 1878, 2 Bde.); Brown, Personality and

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Teufelsabbiß - Teutoburger Wald.

history of Satan (das. 1887); Wessely, Die Gestalten des Todes und des Teufels in der darstellenden Kunst (Leipz. 1875).

Teufelsabbiß, s. Scabiosa.

Teufelsaltäre, s. Gräber, prähistorische.

Teufelsauge, Pflanze, s. v. w. Adonis autumnalis.

Teufelsblatt, s. Urtica.

Teufelsbolzen, s. v. w. Schwanzmeise, s. Meisen.

Teufelsbrücke, die berühmte über die Reuß führende Brücke der St. Gotthardstraße im schweizer. Kanton Uri, 30 m über dem Fluß, welcher, das Ursernthal verlassend, tosend in die Tiefe stürzt, wurde 1830 etwa 6 m über der im Mittelalter erbauten alten T., deren Überreste 1888 eingestürzt sind, neu erbaut und hat einen Bogen von 8 m Weite. Etwas höher hinauf ist das Urner Loch (s. Reuß). Eine zweite T. führt hoch über die wilde Sihlschlucht bei Einsiedeln (s. Etzel).

Teufelsdreck, s. Asa foetida.

Teufelsei, s. Phallus.

Teufelsfinger, s. Belemniten.

Teufelsfluch, s. Hypericum.

Teufelsgraben, s. Befestigung, prähistorische.

Teufelskammern, s. Gräber, prähistorische.

Teufelskanzeln, Felspartien oder sonstige Punkte im Gebirge, welche vermutlich in vorgeschichtlicher Zeit heidnische Kultusstätten waren. Als nach Einführung des Christentums der heidnische Kultus an solchen Stätten noch heimlich fortgesetzt wurde, brachte der Volksaberglaube dieselben mit dem Teufel in Verbindung.

Teufelskirsche, s. Atropa.

Teufelskirschenwurzel, s. Bryonia.

Teufelsklaue, volkstümliche Bezeichnung des unterirdischen Stockes mancher Farne.

Teufelsküchen, s. Gräber, prähistorische.

Teufelsmauer, s. Blankenburg 1).

Teufelsmühlen, s. Granit.

Teufelsschloß, s. Kaiser Franz Joseph-Fjord.

Teufelszwirn, s. Cuscuta und Lycium.

Teuffel, Wilhelm, namhafter Philolog, geb. 27. Sept. 1820 zu Ludwigsburg, studierte 1838-42 im evangelisch-theologischen Seminar zu Tübingen, wurde 1844 Privatdozent daselbst, 1847 Hilfslehrer am Obergymnasium zu Stuttgart, 1849 außerordentlicher, 1857 ordentlicher Professor der klassischen Philologie in Tübingen und starb daselbst 8. März 1878. T. hat sich vornehmlich als Literarhistoriker einen Namen gemacht. Seine "Geschichte der römischen Litteratur" (Leipz. 1870; 4. Aufl. von Schwabe, 1881) ist für den Philologen unentbehrlich. Seine litterarhistorischen Monographien sind zum größten Teil gesammelt in "Studien und Charakteristiken zur griechischen und römischen sowie zur deutschen Litteraturgeschichte" (Leipz. 1871, Nachträge 1877; 2. Aufl., das. 1889). Auch hat er für die von Pauly begründete "Realencyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft", die er seit 1846 vom 4. Band an mit seinem Kollegen Walz redigierte, zahlreiche Artikel geliefert. Eine vollständige Geschichte der griechischen Litteratur im Verein mit mehreren Gelehrten zu bearbeiten, wurde er durch den Tod verhindert. Außerdem sind zu nennen seine Ausgaben von Äschylos' "Persern" (2. Aufl., Leipz. 1875) und Aristophanes' "Wolken" (mit lat. Anmerkungen, das. 1856, 2. Bearb. 1863; mit deutschen Anmerkungen, das. 1867) und ein Kommentar zum zweiten Buch der Satiren des Horaz in der Kirchnerschen Ausgabe (Bd. 2, das. 1857). Aus seinem Nachlaß erschienen "Lateinische Stilübungen" (Freiburg 1887). Vgl. S. Teuffel, W. T. (Tüb. 1889).

Teukros (Teucer), im griech. Mythus: 1) Sohn des Flußgottes Skamandros und der Nymphe Idäa, erster König von Troas, daher der Name Teukrer für Trojaner; - 2) Sohn des Telamon und der Hesione, aus Salamis, Halbbruder des Aias, war der beste Bogenschütze unter den Griechen vor Troja, erhielt später die Herrschaft von Cypern.

Teupitz, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Teltow, an einem See, hat eine evang. Kirche, Überreste eines alten Schlosses (auf einer Insel im See) und (1885) 593 Einw. T. war bis 1718 im Besitz der Familie Schenk von Landsberg.

Teurung, der Zustand ungewöhnlicher Preishöhe, namentlich wichtiger Lebensmittel. Bei mangelhaft entwickeltem Verkehrswesen bildet die T. einen wichtigen Gegenstand der Staatsfürsorge oder der Teurungspolitik, deren Aufgabe dahin ging, die Entstehung von Teurungen zu verhüten oder die Wirkung von solchen zu mildern, so durch Ausfuhrerschwerungen, durch Förderung der Einfuhr, Verbot des Verkaufs auf dem Halm, Enteignung von privaten Vorräten, Zwang, Vorräte zu halten (z. B. der Bäcker in Paris bis 1863) etc. Bei der heutigen Ausbildung des Verkehrswesens, welches eine rasche und vollständigere örtliche Ausgleichung von Mangel und Überfluß erleichtert, hat die Teurungspolitik mehr den Charakter einer außerordentlichen Fürsorge in Notfällen angenommen. Weiteres in den Artikeln Getreidehandel, S. 266, und Hungersnot. Vgl. Roscher, über Kornteurungen (3. Aufl., Stuttg. 1852).

Teurungszulagen wurden früher in mehreren Ländern Beamten in Fällen der Teurung (s. d.) gewährt, heute bei richtiger Bemessung der Besoldung (s. d.) nicht mehr am Platz.

Teuschnitz, Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, im Frankenwald, hat ein Schloß mit schönem Garten, Flachsbau und (1885) 969 Einw.

Teut, s. v. w. Tuisco, s. Mannus.

Teutoburg, die von den Cheruskern auf dem Teutberg (der heutzutage mit dem Arminiusdenkmal geschmückten Grotenburg) angelegte nationale Feste, welcher wahrscheinlich der von Tacitus ("Annales" I, 60) erwähnte Saltus Teutoburgiensis und somit vermutlich auch der Teutoburger Wald seinen Namen verdankt. Dieselbe bot gegenüber dem von den Römern an der Mündung der Alme in die Lippe angelegten Waffenplatz Aliso für die kriegerischen Operationen der Germanen einen Stützpunkt und gestattete, die durch das Gebirge führenden Pässe zu überwachen. Die Befestigungen bestanden aus einem vom Fuß des Bergs auf dessen sanfter Abdachung aufsteigenden geradlinigen Steinwall und zwei ebenfalls durch Steinwälle gebildeten Schanzen, welche in späterer Zeit als großer und kleiner Hünenring bezeichnet wurden. Die jetzt zum großen Teil zerstörte große Walllinie, welche einen Verteidigungsabschnitt zwischen dem Fuß des Bergs und der untern Schanze bildete, besteht aus senkrecht oder der Länge nach dicht nebeneinander eingetriebenen, zum Teil mannshohen Steinblöcken mit darüber gelegten kleinern, doch immer ansehnlichen Steinstücken. Von dem vor der Walllinie befindlichen Graben sowie von der obern und untern Schanze sind deutliche Spuren erhalten. Vgl. Peucker, Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten, 2. Teil, S. 376 ff. (Berl. 1860).

Teutoburger Wald, Waldgebirge in Nordwestdeutschland, schließt sich in der Gegend seines höchsten Punktes, des Völmerstod (468 m), an die Egge (s. d.) und erstreckt sich in einer Länge von 115 km bei der geringen Breite von 2-5 km von SO. nach

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Teutona - Texas.

NW., durchzieht unter dem Namen Lippescher Wald den südwestlichen Teil des Fürstentums Lippe, unter dem Namen Osning die Kreise Bielefeld und Halle des preußischen Regierungsbezirks Minden, ferner die Kreise Melle und Iburg des Regierungsbezirks Osnabrück und den Kreis Tecklenburg des Regierungsbezirks Münster und endigt in geringer Höhe im Huxberg bei Bevergern an der Eisenbahnlinie Osnabrück- Rheine und an den großen Mooren der nordwestdeutschen Tiefebene. Meist besteht das Gebirge aus einem einzigen Kamm, doch erscheinen auch mehrere Nebenzüge, besonders in dem mittlern Teil. Tiefe Einschnitte, vom Volk Dören (Thüren) genannt, unterbrechen den Hauptkamm an vielen Stellen, z. B. die Dörenschlucht in Lippe, die Thäler von Bielefeld, Halle, Borgholzhausen, Iburg, Tecklenburg etc. In solchen Thälern wird das Gebirge mehrfach von Eisenbahnen durchschnitten, so von den Linien Hannover-Hamm und Wanne-Bremen. Die wichtigsten Höhen sind außer dem Völmerstod (s. oben): der Barnacken (451 m), die Externsteine (s. d.), die Grotenburg (s. d.) mit dem Hermannsdenkmal und der Hermannsberg (366 m) in Lippe, die Hünenburg (334 m) bei Bielefeld, der Knüllberg bei Borgholzhausen (311 m) und der Dörenberg bei Iburg (363 m). Das Gebirge ist meist mit schönen Laubwaldungen bedeckt und besteht vorzüglich aus den Gesteinen der Kreideformation, denen nördlich und östlich auch die Gesteine der Jura- (Schieferthon der Wälderformation bei Iburg) und Triasformation (Muschelkalk in Lippe) vorgelagert sind. Auf der östlichen und nördlichen Seite des Gebirges breitet sich ein meist recht fruchtbares Hügelland aus, während die entgegengesetzte Seite von den Sand- und Sumpfstrichen der Senne, besonders im Quellgebiet der Lippe und Ems, begleitet wird. Vgl. Löbker, Wanderungen durch den T. (Münst. 1878); Reisehandbücher von Thorbecke (6. Aufl., Detm. 1889) und Fricke (Bielef. 1884).

Der Name T. wird zuerst bei Tacitus genannt u. in die Nähe von Ems und Lippe verlegt; welches Gebirge aber Tacitus gemeint hat, und wo daher der Schauplatz der Schlacht im T., in welcher Arminius an der Spitze der Germanen 9.-11. Sept. im Jahr 9 n. Chr. die drei Legionen des Varus vernichtete, zu suchen ist, bildet eine viel umstrittene und noch heute nicht entschiedene Frage. Gewöhnlich wird als Ort des Kampfes der Teil des Osning angenommen, welcher von den beiden Pässen eingeschlossen ist, die von der Lippe bei Neuhaus und Lippspringe durch die Dörenschlucht und unter dem Falkenberg hin durch das Gebirge führen. Mommsen (s. unten) verlegt ihn nach der Venne an der Huntequelle nördlich von Osnabrück. Vgl. Clostermeier, Wo Hermann den Varus schlug (Lemgo 1822); Giefers, De Alisone deque cladis Varianae loco (Kref. 1844); Middendorf, Über die Gegend der Varusschlacht (Münst. 1868); Dederich, Kritik der Quellenberichte über die Varianische Niederlage im T. (Paderb. 1868); Esselen, Das römische Kastell Aliso und Ort der Niederlage des römischen Heers unter Q. Varus (Hamm 1878); Hülsenbeck, Die Gegend der Varusschlacht (Paderb. 1878); Mommsen, Die Örtlichkeit der Varusschlacht (Berl. 1885); Veltman, Funde von Römermünzen im freien Germanien und die Örtlichkeit der Varusschlacht (Osnabr. 1886); Neubourg, Die Örtlichkeit der Varusschlacht (Detm. 1887); Höfer, Die Varusschlacht, ihr Verlauf und ihr Schauplatz (Leipz. 1888); Knoke, Die Kriegszüge des Germanicus in Deutschland (Berl. 1887, Nachtrag 1888).

Teutona, Waffe, s. Keule.

Teutonen (Teutoni, Teutones), ein durch seine Teilnahme am Zug der Cimbern berühmt gewordenes Volk in Germanien, dessen Wohnsitze an der Küste der Ostsee in Jütland und den dänischen Inseln zu suchen sind. Sie wurden 102 v. Chr. bei Aquä Sextiä vernichtet. Ein Teil des Volkes blieb im Norden zurück; ihr Name Teutonovarier hat sich im Namen der Landschaft Ditmarschen erhalten. S. Cimbern und Teutonen.

Teutsch, Georg Daniel, Bischof der Siebenbürger Sachsen, geb. 12. Dez. 1817 zu Schäßburg, studierte in Wien und Berlin Theologie und Geschichte ward 1842 Lehrer und 1850 Rektor des Gymnasiums in Schäßburg, 1863 Pfarrer zu Agnethlen und 1867 Superintendent oder Bischof der evangelischen Landeskirche Augsburger Bekenntnisses in Siebenbürgen und wohnt in Hermannstadt. 1848 und 1863-64 war er Mitglied des Siebenbürger Landtags, 1864 bis 1865 des österreichischen Reichsrats und 1867 des ungarischen Reichstags; seit 1885 ist er Mitglied des ungarischen Oberhauses. Er förderte das kirchliche und geistige Leben der Siebenbürger Sachsen mit Eifer und Erfolg, ist Präses des Vereins für siebenbürgische Landeskunde und schrieb eine "Geschichte der Siebenbürger Sachsen" (2. Aufl., Leipz. 1874; 2 Bde.). Auch ist er Mitherausgeber des "Urkundenbuchs der evangel. Landeskirche in Siebenbürgen".

Tevere, ital. Name des Tiber.

Teverone, Fluß, s. Anio.

Tewfik (eigentlich Taufik) Pascha, Mehemed, Chedive von Ägypten, geb. 1852, ältester Sohn Ismail Paschas, erhielt eine ziemlich gute Erziehung und ward 1866 vom Sultan als Thronfolger anerkannt. Seit 1873 mit der Prinzessin Emineh vermählt (einen Harem hielt sich T. nie), lebte er meist in Zurückgezogenheit auf seinem Landgut bei Heliopolis. Erst 1879 trat er in die Öffentlichkeit, als ihn Ismail im März d. J. nach der Entlassung Nubars an die Spitze des Ministeriums stellte. Da er sich aber den Wünschen seines Vaters nicht willfährig genug erwies, mußte er nach vier Wochen wieder von seinem Posten zurücktreten. Am 8. Aug. d. J. ernannte ihn der Sultan an Stelle seines abgesetzten Vaters zum Chedive; er entzog ihm anfangs durch Aufhebung des Fermans von 1873 wesentliche Regierungsrechte, gab sie ihm aber auf Verlangen der Westmächte später wieder zurück. T. hatte die ernste Absicht, die Mißbräuche und Schäden in der Verwaltung des Landes zu beseitigen, gab aber, um die finanziellen Verpflichtungen Ägyptens zu regeln, den von England und Frankreich gesandten Kontrolleuren zu viel Macht, so daß die rücksichtslose Ausbeutung des Volkes zu gunsten der fremden Gläubiger 1881 Militäraufstände verursachte. T. zeigte sich dem Haupte der Nationalpartei, Arabi Pascha, gegenüber schwach und energielos, so daß er 1882 alle Macht an diesen verlor und erst durch die englische Intervention in seine Herrschaft wieder eingesetzt werden mußte. Er ist seitdem ganz von England abhängig.

Tewkesbury (spr. tjuhksberi). Stadt in Gloucestershire (England), am Zusammenfluß des Avon und des Severn, hat eine normännische Abteikirche, Fabrikation von Stiefeln, Strumpfwaren, Nägeln, Leder etc., eine schöne Markthalle und (1881) 5100 Einw. 1 km südlich davon die "blutige Wiese", wo 1471 die letzte Schlacht im Krieg der Rosen stattfand.

Texas (abgekürzt Tex.), der südwestlichste und größte Staat der nordamerikan. Union, grenzt im O. an Louisiana und Arkansas, im N. an das Indianerterritorium und Neumexiko, im W. und S. an Me-

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Texas (geographisch-statistisch, Geschichte).

xiko und den Golf von Mexiko. Das Land zerfällt seiner Oberflächenbeschaffenheit nach in drei verschiedene Abteilungen. Von der Küste aus, die fast ihrer ganzen Länge nach von Haffen eingefaßt ist, erstreckt sich 50-100 km landeinwärts ein Flachland, das zum Teil sehr fruchtbar und für den Anbau von Baumwolle, Zuckerrohr und stellenweise auch Reis vorzüglich geeignet ist. Hinter demselben erhebt sich ein wellenförmiges hügeliges Land, welches, bis 320 km breit, den ganzen Nordosten des Staats umfaßt, großenteils von Prärien bedeckt und zum Anbau sehr geeignet und in seinen Thälern dicht bewaldet ist. Der ganze nordwestliche Teil des Staatsgebiets endlich ist Berg- und Hochland und besteht zum Teil aus einem 1300 m hohen wüsten Sandsteinplateau (Llano estacado oder Staked Plain). An Flüssen ist T. reich, wenn auch die meisten nur während eines Teils des Jahrs schiffbar sind. Der Red River scheidet es von dem Indianergebiet, der Sabine von Louisiana und der Rio Grande von Mexiko. Ganz innerhalb des Staatsgebiets liegen Trinity, Brazos, Colorado, Guadalupe, San Antonio und Nueces. Das Klima gilt im Vergleich zu den übrigen südlichen Staaten der Union für gesund. Nur in der Küstenniederung fordern intermittierende Fieber neben dem gelben Fieber fast jährlich zahlreiche Opfer. Am untern Rio Grande ist die Jahrestemperatur 23,2°, im Norden, bei Fort Worth nur 17,5° C.; dort betrug der Unterschied zwischen dem kältesten und dem wärmsten Monat nur 13,2, hier aber 21,9°. Kalte Nordwinde (Northers) wehen manchmal zwischen November und Januar, während die Küste im September von Orkanen heimgesucht wird. Mit dem Süden der Union und deren mittlern Staaten unter einer Breite liegend, bietet das Land in seiner Vegetation alle Produkte dar, welche jene Staaten auszeichnen, und ist auch hinreichend mit den verschiedensten Holzarten zu allen Zwecken der Landwirtschaft sowohl als der Industrie versehen. Die Tierwelt von T. gleicht der des benachbarten Louisiana und Arkansas. Büffel, verwilderte Pferde (Mustangs) durchziehen noch herdenweise die Steppen. In Bezug auf Mineralien ist T. eins der reichsten Länder der Welt. Nicht nur Steinkohlen und Eisen kommen in ungeheuern Mengen vor, sondern auch Kupfer, Silber, Gold, Blei etc., dazu Edelsteine, Töpfererde, Salz u.a. Diese Bodenschätze liegen jedoch fast noch unberührt. T. hat ein Areal von 681,842 qkm (12,843,3 QM.) mit (1880) 1,591,749 Einw., einschließlich von 393,384 Farbigen und 35,347 Deutschen, aber ohne einige tausend herumstreifende Indianer (1870 erst 818,899 Einw.). Die öffentlichen Schulen wurden 1886 von 261,021 Kindern besucht, doch sind noch immer 15 Proz. der über 10 Jahre alten Weißen und 75 Proz. der Schwarzen des Schreibens unkundig. An höhern Bildungsanstalten besitzt der Staat 6 Colleges. Von der Bevölkerung beschäftigen sich 69 Proz. mit Landwirtschaft und 6 Proz. mit Industrie. Angebaut werden neben Mais, Hafer, Gerste und Bataten namentlich Baumwolle (1880: 805,284 Ballen), Zucker und Tabak. Alle unsre Obstsorten gedeihen, und im Süden auch Feigen. Für die Viehzucht bietet das Innere des Staats große Vorteile. 1889 zählte man 940,000 Pferde und Maultiere, 4,084,000 Rinder, 2,413,000 Schafe und 1,950,000 Schweine. Die Fischereien hingegen (1880 von 600 Personen betrieben) sind unbedeutend. Der Bergbau fördert Gold (1886: 147,000 Dollar), Silber (80,000 Doll.), Steinkohlen (125,000 Ton.) und Eisen. Die Industrie (1880: 2996 Anstalten mit 12,159 Arbeitern) beschränkt sich fast nur auf Mahlen von Korn und die Zurichtung von Bauholz. T. hat (1887) 9810 km Eisenbahnen und besitzt 252 eigne Schiffe von 8621 Ton. Gehalt. Unter den Häfen ist Galveston der bedeutendste. Die jetzige Verfassung wurde im November 1869 angenommen. Die gesetzgebende Gewalt liegt in den Händen eines Senats von 31 und eines Repräsentantenhauses von 109 Mitgliedern, welche auf zwei Jahre gewählt werden. Die obersten Staatsbeamten werden gleichfalls vom Volk gewählt, und der Gouverneur bleibt zwei Jahre im Amte. Die richterliche Gewalt ist einem Obergericht und 34 Kreisgerichten übertragen; sämtliche Richter erwählt das Volk. Die Finanzen sind in gutem Zustand. Die Staatsschuld betrug 1887: 4,237,730 Doll. Eingeteilt wird T. in 78 Counties. Politische Hauptstadt ist Austin. S. Karte "Vereinigte Staaten, westliche Hälfte".

Geschichte. T. gehörte früher zu Mexiko und zwar zur Provinz Tamaulipas. Schon während des mexikanischen Unabhängigkeitskampfes sammelten sich hier viele Abenteurer aus den Vereinigten Staaten an. Nachdem der nordamerikanische Oberst Austin 1823 die Stadt San Felipe de Austin gegründet hatte, fanden sich immer mehr Ansiedler aus dem Norden ein, die ihre Absicht, das Land für die Union zu gewinnen, nicht verhehlten. 1835 erklärten sich die Texaner im Vertrauen auf den Beistand der herrschenden Partei in den Vereinigten Staaten, welche eine Vermehrung der Sklavenstaaten wünschte, für unabhängig und ernannten den General Houston zum Generalissimus. Ein mexikanisches Heer unter Santa Anna drang zwar im Januar 1836 in T. ein und besetzte die Hauptstadt San Felipe de Austin, ward aber 21. April unweit des Jacintoflusses von den Texanern unter Houston geschlagen. Mehrere andre Expeditionen der Mexikaner in den folgenden Jahren scheiterten ebenfalls, und um 1840 stand T. als völlig konsolidierte Republik da. Frankreich und England erkannten dieselbe 23. Nov. 1839 und 14. Nov. 1841 an; in T. selbst aber verlangte die Mehrzahl Anschluß an die Vereinigten Staaten, welcher vom Kongreß 1. März 1845 angenommen wurde. Die förmliche Aufnahme in den Staatenbund erfolgte 29. Dez. 1845. Hierüber entbrannte 1846 ein Krieg zwischen Nordamerika und Mexiko, der am 2. Febr. 1848 mit dem Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo endete; in diesem entsagte Mexiko allen seinen Ansprüchen auf T. und das Gebiet zwischen Rio Grande und Nueces, doch schlug die Unionsregierung durch Beschluß vom 7. Sept. 1850 einen Teil dieser Länder zu Neumexiko, welches inzwischen als eignes Territorium in die Union getreten war, und T. erhielt hierfür eine Entschädigung von 10 Mill. Doll. 1844 hatte sich zu Mainz ein deutscher Adelsverein zu dem Zweck gebildet, den nach T. auswandernden Deutschen Hilfe und Schutz zu gewähren. Noch in demselben Jahr wurden 150 Familien nach T. befördert und in einer Kolonie, Neubraunfels, vereinigt. Infolge örtlicher Schwierigkeiten und Geldmangels geriet aber die Sache bald ins Stocken. Der Prinz von Solms-Braunfels, der Leiter der Angelegenheit, verließ das Land, und an seine Stelle trat ein Preuße, v. Meuselbach, welcher im Herbst 1845 den Indianern einen nördlich von jener Kolonie gelegenen bedeutenden Landstrich abkaufte, wo später Friedrichsburg angelegt ward. Zwar kam jetzt ein neuer Zug von mehreren tausend Auswanderern an; doch gerieten dieselben aus Mangel an Mitteln sowie durch die ungeeignete Lokalität, den mexikanischen Krieg und Krankheiten bald in eine sehr mißliche Lage. Nur Neubraunfels und Friedrichsburg kamen etwas empor.

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Texcoco - Thaarup.

1847 verabschiedete der Mainzer Verein alle seine Beamten und Agenten in T. und überließ seinen dortigen Grundbesitz dem Advokaten Martin aus Freiberg, womit die ganze Sache ihr Ende erreichte. Kein besseres Schicksal als die deutschen Einwanderer hatten die 1848 unter Führung des französischen Kommunisten Cabet (s. d.) hier angelangten Ikarier. T. stand während des amerikanischen Bürgerkriegs sehr entschieden zur Sezession, kam indes in seinen mittlern und westlichen Teilen infolge der Wegnahme des Forts Esperanza am Eingang der Matagordabai durch den Unionsgeneral Banks in die Gewalt des Nordens. T. widerstrebte nebst Mississippi und Virginia am längsten der Annahme des sogen. konstitutionellen Amendements und ward daher erst später rekonstituiert. Vgl. Römer, Texas (Bonn 1849); Olmstedt, Wanderungen durch T. (deutsch, 3. Aufl., Leipz. 1872); Eickhoff, In der neuen Heimat (Geschichtliches über die deutsche Einwanderung, New York 1884); Burkes, Texas-Almanack; Baker, History of T. (New York 1873); H. Bancroft, History of the Pacific States. Bd. 10 (San Francisco 1884).

Texcoco (Tezcuco, spr. techkoko), Stadt im mexikan. Staat Mexiko, am gleichnamigen, 240 qkm großen Salzsee, hat eine Glashütte, Trümmer alter Paläste sowie eines großartigen Aquädukts und (1880) 15,626 Einw. T. war unter dem Namen Acolhuacan Hauptsitz der Kultur der Azteken. Der See (2275 m ü. M.) wird immer seichter. Vgl. Mexiko, S. 568.

Texel, niederländ. Insel in der Nordsee, vor dem Eingang des Zuidersees gelegen, durch das Marsdiep vom Festland getrennt, 187 qkm (3,4 QM.) groß, an der Ost- und Südseite durch Deiche, im übrigen durch Dünen gegen das Meer geschützt, hat schönes Weideland, zwei Häfen, ein Fort (Oude Schans) zur Verteidigung des Marsdiep und 6342 Einw. Haupterwerbszweig ist Schafzucht (etwa 34,000 Stück), welche außer feiner Wolle (70-100,000 kg) den berühmten grünen Texeler Schafkäse liefert, daneben Ackerbau, Fischfang und Schiffahrt. T. ist Sitz eines deutschen Konsulats.

Texier (spr. tekssieh), 1) Charles Felix Marie, Architekt, Archäolog und Geolog, geb. 29. Aug. 1802 zu Versailles, bereiste im Auftrag der französischen Regierung seit 1834 mehrere Jahre lang Kleinasien und zwar in einzelnen Teilen als erster Europäer, war 1834 in Phrygien, Kappadokien und Lykaonien, 1835 an der West- und Südküste und zog 1836 von Tarsos mitten durch die Halbinsel nach Trapezunt. 1838-40 forschte er sodann mit La Guiche und Labourdonnaye in Armenien, Kurdistan und Persien und 1842 wieder an der Westküste Kleinasiens. Zeitweise Sekretär der Geographischen Gesellschaft in Paris, wurde er 1855 Mitglied der Akademie und starb 1871. Er schrieb: "Description de l'Asie Mineure" (Paris 1839-49, 3 Bde.); "L'Arménie, la Perse et la Mésopotamie" (das. 1840-52, 2 Bde.) u. a.

2) Edmond, franz. Publizist, geb. 1816 zu Rambouillet (Seine-et-Oise), studierte in Paris und veröffentlichte bereits in seinem 19. Jahr in Gemeinschaft mit Ménard eine Sammlung von Gedichten unter dem Titel: "En avant" (1835). Dann mit Leidenschaft sich auf die Journalistik werfend, lieferte er Beiträge in die beliebtesten Tagesblätter, hatte später hervorragenden Anteil am "Siècle" und übernahm 1860 die Redaktion der "Illustration". Eine seiner gelungensten und ergötzlichsten Schriften ist die Humoreske "La physiologié du poète" (1841), welche unter dem Pseudonym Sylvius erschien. Bemerkenswert sind ferner: "Biographie des journalistes" (1850); "Lettres sur l'Angleterre" (1851); "Critiques et récits littéraires" (1852); "Tableau de Paris" (1853, 2 Bde.); "Les hommes de la guerre d'Orient" (1854); "Paris, capitale du monde" (1867); "Le journal et les journalistes" (1867); die im Verein mit Le Senne geschriebenen Romane: "Madame Frusquin" (1878), "Mémoires de la Cendrillon" (preisgekrönt, 1879), "La dame du lac" (1880) u. a. T. starb 20. Okt. 1887 in Paris.

Text (lat. textus), eigentlich Gewebe, Geflecht; in der Litteratur der eigentliche Inhalt eines Buches, im Gegensatz zu dem in den Noten (Anmerkungen) enthaltenen; manchmal auch s. v. w. Schriftwerk überhaupt, wenn dasselbe in einer fremden Sprache abgefaßt ist; in der Homiletik Stelle der Heiligen Schrift, welche der Predigt (s. d.) zu Grunde gelegt zu werden pflegt; in der Musik die einem Gesangstück zu Grunde liegenden Worte; in der Buchdruckerkunst Name einer größern Schriftgattung von 20 typographischen Punkten Kegelstärke (s. Schriftarten).

Textil (lat.), auf Weberei bezüglich; daher Textilindustrie, Gesamtbezeichnung der Arbeiten, welche zur Erzeugung der Stoffe dienen, wie sie als Handelsware üblich sind und Spinnerei, Weberei, Näherei und Stickerei mit Einschluß der Appretur, Bleicherei etc. umfassen. Textilpflanzen, Spinnfasern (s. d.) liefernde Pflanzen.

Textor, Vogel, s. v. w. Viehweber, s. Webervögel.

Textularia, s. Rhizopoden.

Textur (lat.), Gewebe, Gefüge, Anordnung.

Textus receptus (lat.), s. Bibel, S. 882.

Tezcuco, Stadt und See, s. Texcoco.

Tezel, Johann, berüchtigter Ablaßkrämer, geboren um 1455 zu Leipzig, trat 1489 in den Dominikanerorden und trieb sodann 15 Jahre lang den Ablaßhandel auf die unverschämteste Weise. Zu Innsbruck wegen Ehebruch zum Tod mittels Ersäufens verurteilt, ward er auf Verwenden des Erzbischofs Albrecht von Mainz wieder auf freien Fuß gesetzt. Er holte sich in Rom Ablaß und ward sogar zum apostolischen Kommissar ernannt. Jetzt nahm er als Unterkommissar des Erzbischofs Albrecht von Mainz seinen Ablaßhandel besonders in Sachsen wieder auf und hielt eine reiche Ernte, bis Luther 31. Okt. 1517 in seinen Thesen gegen dies Unwesen auftrat. T. wurde hierauf 1518 zu Frankfurt a. O. Doktor der Theologie und starb im August 1519 in Leipzig an der Pest. Sein Leben beschrieben Hofmann (Leipz. 1844), Körner (Frankenb. 1880); katholischerseits: Gröne ("T. und Luther", 2. Aufl., Soest 1860) und Hermann (2. Aufl., Frankf. 1883). Vgl. Kayser, Geschichtsquellen über T. (Annab. 1877).

Th, th, in sprachwissenschaftlicher Hinsicht, s. "T".

Th, in der Chemie Zeichen für Thorium.

Thaarup, Thomas, dän. Dichter, geb. 21. Aug. 1749 zu Kopenhagen, war von 1794 an eine Zeitlang Mitglied der Theaterdirektion und starb als Privatgelehrter 11. Juli 1821 auf dem Gut Smidstrup unfern Hirschholm. T. ist namentlich als Verfasser der kleinen dramatischen Idylle: "Høstgildet" ("Das Erntefest") und "Peders Bryllup" ("Peters Hochzeit") bekannt, die durch ihren einfachen heimischen Ton und ihre anmutigen, stimmungsvollen Gesänge ungemein ansprachen; besonders diese letztern erfreuten sich der weitesten Verbreitung und sind zum Teil Volkslieder geworden. Seine Schriften gab Rahbek ("Efterladte poetiske Skrifter", Kopenh. 1822), eine Auswahl seiner Gedichte mit Biographie Nygaard (das. 1878) heraus.

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Thabur - Thaleia.

Thabur (türk.), s. Tabor.

Thackeray (spr. thäckere), 1) William Makepeace, berühmter engl. Romandichter, geb. 12. Aug. 1811 zu Kalkutta als Sohn eines Beamten der Ostindischen Kompanie, ward im Charter House zu London erzogen, studierte in Cambridge, bereiste den Kontinent, wo er sich unter anderm in Weimar aufhielt (1830-31), und widmete sich nach pekuniären Verlusten der Schriftstellerei. Unter dem Namen Michael Angelo Titmarsh und George Fitzboodle, Esq., lieferte er zunächst Beiträge zu "Fraser's Magazine", unter denen besonders die Erzählungen: "Barry Lyndon" und "The adventures of an Irish fortune-hunter" Beachtung verdienen. Als Titmarsh veröffentlichte er ferner die von ihm selbst illustrierten Werke: "The Paris sketch-book" (1840), "The chronicle of the Drum "(1841), "The Irish sketch-book" (1843) sowie die Reisebeschreibung "Notes of a journey from Cornhill to Grand Cairo" (1846). Doch erst "Vanity Fair" (1847), seine originellste Schöpfung, machte ihn berühmt: hier zeigt er sich als vollendeten Satiriker und bedeutenden Novellisten. Es folgten: "Our street" (1848); "Dr. Birch and his young friends" (1849); "Pendennis" (1849-1850), im Plan "Vanity Fair" nicht ebenbürtig, doch gleich ausgezeichnet durch Humor und Charakterzeichnung, und "The Kickleburys on the Rhine" (1851). Um diese Zeit begann er, erst in England, dann in Schottland und Amerika, öffentliche Vorlesungen zu halten, zunächst über "The English humourists of the eighteenth century", sodann über "The four Georges". Seinem Studium der Humoristen entsproß der Roman "Esmond" (1852), eine der besten Schilderungen der Zeit der Königin Anna; besonders wertvoll sind: "The Newcomes" (1855), worin der Ernst und die Herzlichkeit Thackerays ganz besonders hervortreten, und "The Virginians" (1857), ein Seitenstück zu "Esmond". 1860 übernahm er die Herausgabe des "Cornhill Magazine", zu dem er die Erzählungen: "The adventures of Philip", "Lovell the widower" und eine kleine monatliche Skizze, die "Round-about papers", lieferte. T. starb 24. Dez. 1863. Gesammelt erschienen seine Werke zuletzt 1887 in 24 Bänden, in illustrierter Prachtausgabe London 1879 ff., sein Briefwechsel 1887. Vgl. Hannay, Memoir of T. (Edinb. 1864); Trollope, T. (Lond. 1879; deutsch von Katscher, Leipz. 1880); Conrad, W. M. Thackeray (Berl. 1887).

2) Anna Isabella, Tochter des vorigen, ebenfalls Schriftstellerin, s. Ritchie.

Thaddädl, stehende komische Figur in alten Wiener Volksdramen, Seitenstück zum Kasperle u. dgl. Hauptvertreter derselben war der Komiker Anton Hasenhut (gest. 1841).

Thaddäus, s. Judas 2).

Thag (Thug), in Ostindien Hindubanden, die es sich zum Geschäft machen, als Pilger u. dgl. Vertrauen bei Reisenden oder in Gehöften zu erwecken und die Leute dann durch Gift zu betäuben, ja selbst zu ermorden, um sich ihrer Habe zu bemächtigen. Seit 1831 ergriff die britische Regierung von Indien ernste Maßregeln gegen das Unwesen, so daß es nur noch in vereinzelten Fällen auftritt.

Thai, die Bewohner von Siam, s. Schan.

Thaïs, berühmte griech. Hetäre, aus Athen gebürtig, folgte Alexander d. Gr. auf seinem Zuge gegen Persien und soll bei einem Gastmahl den berauschten Geliebten zur Verbrennung der Stadt Persepolis veranlaßt haben. Später wurde sie eine der Frauen des Ptolemäos Lagi.

Thal, s. Thäler.

Thal, Dorf in Sachsen-Gotha, im Thüringer Wald, unweit des Erbstroms und an der Eisenbahn Wutha-Ruhla, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Burgruine (Scharfenberg) und 430 Einw.; T. ist eine beliebte Sommerfrische. Vgl. Lion, Bad T. (Eisenach 1887).

Thalamifloren ("Bodenblütige"), eine größere Abteilung im Pflanzensystem De Candolles, begreift alle diejenigen Polypetalen, deren Kron- und Staubblätter dem Blütenboden (thalamus) eingefügt sind.

Thalamos, im altgriech. Haus das eheliche Schlafgemach; auch s. v. w. Braut- oder Ehebett; in der Botanik s. v. w. Fruchtboden.

Thalassa (Thalatta, griech.), das Meer.

Thalassidroma, s. Sturmvogel.

Thalberg, Sigismund, Klavierspieler und Komponist, geb. 7. Jan. 1812 zu Genf als natürlicher Sohn des 1854 verstorbenen Fürsten Dietrichstein-Proskau-Leslie, bildete sich in Wien unter Sechter und Hummel in der Komposition und im Klavierspiel aus, begab sich 1830 auf Konzertreisen, ward 1834 zum österreichischen Kammervirtuosen ernannt, bereiste seit 1855 als Konzertspieler wiederholt England und Amerika und zog sich 1858 auf eine Villa bei Neapel zurück, wo er, mit Unterbrechung einer 1862-63 unternommenen Kunstreise nach Paris, London und Brasilien, bis zu seinem Tod 27. April 1871 der Ruhe genoß. T. verdankt seine außerordeutlichen Erfolge als Virtuose vornehmlich der von ihm eingeführten Behandlungsweise des Klaviers, welche sich von der seiner Vorgänger im wesentlichen dadurch unterscheidet, daß hier die frühere Trennung von Melodie und Passagenwerk aufgehoben ist und das letztere als Begleitung der Melodie auftritt, meist in Form von Arpeggien, die in ihren mannigfaltigen Umstellungen das melodische Motiv umranken, ohne es zu ersticken; vielmehr bestand Thalbergs Hauptstärke gerade darin, daß er durch gesangreichen Vortrag und geschickte Benutzung des Pedals die Melodie in einer Weise belebte, wie es außer Liszt noch keinem Klavierspieler gelungen war. Dieser ihm eigentümliche Stil gelangt auch in seinen zahlreichen Klavierkompositionen zur Geltung, weshalb dieselben einen höhern Kunstwert nicht beanspruchen können. Auch als Opernkomponist hat sich T. noch in den 50er Jahren zweimal in die Öffentlichkeit gewagt, beide Male jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Thälchen, in der Botanik, s. Umbelliferen.

Thale, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, Kreis Aschersleben, an der Bode und der Linie Magdeburg-T. der Preußischen Staatsbahn, 175 m ü. M., hat eine evang. Kirche, eine Oberförsterei, ein großes Eisenhüttenwerk (Blechhütte) mit Maschinenfabrik, Fabrikation emaillierter Kochgeschirre, eine Zementfabrik, eine Dampfziegelei, Bierhrauerei und (1885) 4498 Einw. Dabei das Hubertusbad mit jod- und bromhaltigen Kochsalzquellen und das Bodethal, die großartigste Partie des Harzes, mit dem Hexentanzplatz und der Roßtrappe (s. d.) sowie eine Blödsinnigenanstalt (Kreuzhülfe) und ein Asyl für Epileptische (Gnadenthal).

Thale, Adalbert vom, Pseudonym, s. Decker 3).

Thaleia (Thalia, die "Blühende"), 1) eine der neun Musen, später besonders als Muse des Lustspiels betrachtet; wird auf antiken Denkmälern dargestellt mit kürzerm Untergewand und Mantel, in der erhobenen Linken die komische Maske, in der gesenkten Rechten ein pedum (Krummstab) haltend. Vgl. Musen (mit Abbildung). Jetzt wird T. gewöhnlich als

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Thaler - Thäler.

Beschützerin des Theaters im allgemeinen genannt. - 2) Eine der drei Grazien oder Chariten (s. d.).

Thaler, eine größere Silbermünze, wie sie zuerst in Joachimsthal in Böhmen (Joachimsthaler) von den Herren v. Schlik seit 1518 mit ihrem Wappen, dem böhmischen Löwen, und dem Bilde des heil. Joachim geschlagen wurde. Später verstand man unter T. alle groben Silbermünzen, welche mehr als 1 Lot wogen. Dieselben kamen unter verschiedenen Nebenbezeichnungen vor, als Kronenthaler, Laubthaler, Speziesthaler etc. (s. d.). Der auch nach der Einführung der Reichswährung in Deutschland noch umlaufende T., welcher bis Ende 1871 die Geldeinheit von beinahe ganz Norddeutschland bildete, in 30 Groschen geteilt und auch in Süddeutschland geprägt wurde, wo er den Wert von 1¾ Gulden hatte (im allgemeinen Reichsthaler genannt, abgekürzt Rthlr.), enthält nach dem Münzgesetz von 1857: 16,666 g fein Silber und wird 3 Mark Gold gleich gerechnet. Auch in Dänemark und Schweden wurde bis Ende 1874 nach Reichsthalern gerechnet (s. Rigsdaler und Riksdaler).

Thäler, verschieden gestaltete Einsenkungen der Gebirge und Durchfurchungen der Plateaus. Ist die Entfernung der begrenzenden Gesteinswände, der Gehänge (welche als rechtes und linkes im Sinn eines mit dem Gesicht dem Thalausgang zugekehrten Beobachters unterschieden werden), eine geringe, und ist der Winkel, unter welchem die Gehänge ansteigen, ein großer, dem rechten sich nähernder, so entstehen Schluchten, Gründe, Klammen, Canons (s. d.). Die beiden Gehänge laufen häufig selbst bei gewundenen Thälern einander parallel, so daß ein ausspringender Teil des einen Gehänges (Thalsporn) einem einspringenden des andern (Thalwinkel) entspricht. Nähern sich die beiden Gehänge, so entstehen Thalengen; verlaufen sie annähernd in einer Kreislinie, so entstehen Thalweitungen (Bassins, Becken, Zirkus und, wenn die Gehänge steil abfallen, Thalkessel). Der allgemeine Lauf der Gebirgsthäler steht entweder ungefähr senkrecht zur allgemeinen Erstreckung des Gebirgskammes (Querthäler, T. erster Ordnung), oder es laufen die T. etwa parallel zu dem Hauptkamm des Gebirges (Längsthäler, T. zweiter Ordnung). T., deren allgemeine Erstreckung eine zwischen diesen beiden vermittelnde Richtung einhält, hat man Diagonalthäler genannt. - Ein bei der Bildung der T. nie ganz fehlendes, mitunter allein wirkendes Agens ist der erodierende Einfluß des strömenden Wassers. Denkt man sich einen zunächst vollkommen unverritzten Bergabhang, an welchem Wasser herabströmt, so wird im Anfang dort das Wasser am energischten angreifen, wo die einzelnen dünnen Wasserstränge zu einem mächtigern Bergstrom zusammentreten. Bei fortgesetzter Thätigkeit wird sich bald ein oberer und unterer Teil des Wasserlaufs unterscheiden lassen. Im obern, dem Berggebiet, schäumt der Bergstrom auf stark geneigter Thalsohle dahin, zertrümmert das ihm entgegenstehende Gesteinsmaterial und führt es hinweg. In dem untern Teil, dem Thalgebiet, wird der in weniger geneigtem Terrain zum Fluß verlangsamte Bergstrom einen Teil des im Oberlauf aufgewühlten Materials wieder absetzen, seine erodierende Thätigkeit im wesentlichen nur bei Hochwasser und nur im Sinn der Erweiterung, nicht der Vertiefung des Thals äußern. In solchen breiten Thälern läßt sich neben dem im eignen Material eingewühlten Flußbett ein Inundationsgebiet, von Terrassen (Hochufern) begrenzt, unterscheiden, das Produkt gelegentlicher Hochwasser. Je länger die erodierende Thätigkeit anhält, desto größere Strecken wird die Ausbildung des Thalgebiets annehmen, desto weiter nach rückwärts, dem Kamm des Gebirges näher, wird der Oberlauf mit seiner starken Neigung der Thalsohle sich eingraben. Im obersten Wasserlauf, nahe dem Kamm des Gebirges, ist ein weiter Thalkessel, oft mit steilen, fast senkrechten Felswänden, vorhanden (in den Pyrenäen Oules geheißen), über welche sich bei zur Bildung günstiger Gesteinsbeschaffenheit Wasserfälle in die Tiefe stürzen. Der Ausgang aus dem Kessel ist gewöhnlich stark verengert, schluchtartig, und erst nach abwärts erweitert sich dann die Thalbildung in der Region des nicht mehr stürmischen, sondern ruhigen Wasserlaufs. Werden in der gechilderten Weise auf den zwei einander entgegengesetzten Abhängen eines Gebirges T. ausgewaschen, so wird das letzte Stadium in einer teilweisen Abtragung des Gebirgskammes bestehen. Statt eines steilen Randes, der die beiden auseinander strahlenden T. trennt, wird ein kleines Plateau, tiefer gelegen als der Kamm des Gebirges (Paß), dieselben vielmehr verbinden. Ganz ähnlich wie die geschilderte Bildung der Gebirgsthäler verläuft der Prozeß bei dem Einsenken der T. in die Plateaus. Abweichungen können zunächst durch Verschiedenheiten in den zu durchbrechenden Gesteinen begründet sein. Wälle härtern Materials werden hemmend einwirken, das Thal sperren und zu Thalerweiterungen dadurch Veranlassung geben, daß sich das Wasser hinter ihnen seeartig ausbreitet, bis der Wall durchnagt ist und der Fluß in Stromschnellen den vorher sperrenden Wall durcheilt. Werden ferner weiche, der Erosion leicht zugängliche Gesteine durch eine härtere Bank bedeckt, so wird dort eine Thalschwelle mit Wasserfällen entstehen, wo die weichern Gesteine zuerst verritzt werden. Durch Unterwaschung wird das härtere Material stückweise abbrechen und nachsinken, die Thalschwelle ruckweise nach dem Oberlauf zu weiter und weiter zurückreichen. Ein oft citiertes Beispiel für solche Verhältnisse bietet der Niagara dar. Der Erosion kann aber auch der Weg durch Dislozierung der Gesteinsschichten vorgeschrieben sein, so daß am fertigen Gebirgsthal zwar die Erweiterung und endgültige Gestaltung auf Rechnung der Erosion fallen, die erste Anlage und Richtung aber in dem allgemeinen Bau des Gebirges begründet sind. Querthäler sind häufig erweiterte Querspalten des Gebirges (Klusen, Klausen); Längsthäler laufen mitunter die Grenze zwischen zweierlei Schichten entlang, die gegen den Kamm des Gebirges zu ansteigen. Es zeigen diese letztern (Scheidethäler, isoklinale T., Komben) an den beiden Gehängen verschiedenes Gestein und nur auf dem einen Abhang einen steilen Absturz, während der Sinn des Einfallens der Schichten rechts und links der gleiche ist. Längsthäler können ferner in der Richtung der Sattellinie des Sattels eines Schichtensystems (s. Schichtung) verlaufen, dessen oberste Schichten bei der Dislozierung zerrissen wurden. Solche Gewölbthäler (Hebungsthäler, antiklinale T.) werden an beiden Gehängen einerlei Folge der Gesteine erkennen lassen, deren Schichten von der Thallinie aus nach beiden Seiten einfallen. Muldenthäler (Senkungsthäler, synklinale T.) verlaufen der Muldenlinie einer Mulde (s. Schichtung) entlang; hier werden die Gesteinsschichten der Gehänge nach der Thallinie zu einschießen. Ferner kann die zwischen zwei ungefähr parallel verlaufenden Lavaströmen entstehende Einsenkung (interkolliner Raum) eine Thalbildung

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Thalerhumpen - Thallochlor.

veranlassen. Besondere Thalformen zeigen auch einzeln stehende Berge vulkanischen Ursprungs. Nach Erlöschen der vulkanischen Thätigkeit senkt sich häufig an der Stelle des zentralen Kegels ein tiefes Kesselthal (Caldera, Caldeira) ein, von welchem aus mitunter ein den Ringwall durchbrechendes Hauptthal nach außen führt, und gleichzeitig wird auch der äußere Mantel von radial ausstrahlenden Rillen (Barrancos) durchfurcht werden (vgl. Vulkane). Der Form nach stehen der Calderabildung nahe die hinsichtlich der Entstehungsweise noch streitigen Maare (s. Vulkane) als Einsenkungen in vulkanische Plateaus oder doch in der Nähe vulkanisch gebildeter Lokalitäten, und ganz ähnliche T., in Plateaus rein sedimentärer Gesteine eingesenkt, liefern Unterwaschungen und die von ihnen veranlaßten Erdfälle.

Thalerhumpen, s. Münzbecher.

Thales, griech. Philosoph und Stifter der ionischen Schule, geboren um 640 v. Chr. zu Milet in Kleinasien, Zeitgenosse des Solon, Sprößling einer phönikischen Familie, unternahm in seinen reifern Jahren Reisen nach Kreta, Phönikien, Ägypten und lebte auch eine Zeitlang an dem Hof des Königs Krösos. In Ägypten soll er die Höhe der Pyramiden berechnet und den Unterricht der Priester des Landes genossen haben. Sein Tod wird in das erste Jahr der 58. Olympiade (543) gesetzt. Indem er das Seiende auf ein möglichst einfaches Prinzip zurückzuführen und aus diesem die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abzuleiten suchte, stellte er das Wasser als Grundprinzip aller Dinge auf, aus welchem alles entstanden sei und fortwährend entstehe, sowie alles auch wieder in dasselbe zurückkehre. Aus der Verdichtung und Verdünnung jenes Grundstoffes leitete er, wie es scheint, die Veränderung der Dinge ab. Seine Lehren wurden erst von spätern Philosophen, namentlich von Aristoteles, aufgezeichnet, desgleichen eine Menge Gnomen oder Sentenzen, die man ihm zuschrieb, wie das berühmte "Erkenne dich selbst", und die ihm eine Stelle unter den sogen. sieben Weisen Griechenlands erwarben. Er soll auch dem Krösos mechanische Hilfsmittel zur Abdämmung des Halys an die Hand gegeben und das Jahr auf 365 Tage bestimmt haben. Die ihm beigelegte Vorausbestimmung der Sonnenfinsternis vom Jahr 585 wurde von Martin ("Revue archéologique" 1864) als unhistorisch dargethan. Als seine vorzüglichsten Schüler werden Anaximander, Anaximenes und Pherekydes genannt.

Thalfahrt, Fahrt zu Thal, die Fahrt der Schiffe stromabwärts, im Gegensatz zur Bergfahrt (s. d.).

Thalheim, Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft Zwickau, Amtshauptmannschaft Chemnitz, an der Zwönitz und der Linie Chemnitz-Adorf der Sächfischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein Rittergut mit Schloß, eine Oberförsterei, Baumwoll-, Flachs- und Streichgarnspinnerei und (1885) 4428 Einw.

Thalia, Muse, s. Thaleia.

Thalia dealbata, s. Wasserpflanzen.

Thalleiochin, s. Chinin.

Thallin (Tetrahydroparachinanisol) C10H13NO3 entsteht bei Behandlung des Methyläthers des Paraoxybenzchinolins mit Zinn und Salzsäure, bildet dicke rhombische Prismen, schmilzt bei 42-43° und siedet bei 283°. Schwefelsaures T., ein gelblichweißes kristallinisches Pulver, welches in Wasser löslich ist und bitter schmeckt, wird als antipyretisches Mittel benutzt. Auch das weinsaure Salz findet Anwendung.

Thallium Tl, Metall, findet sich mit Kupfer, Silber und Selen im Crookesit (16-18,5 Proz.) und Berzelianit, in geringer Menge in manchen Schwefel- und Kupferkiesen, Zinkblende, im Lepidolith und im Glimmer von Zinnwald, im Badesalz von Nauheim, Orb, Dürrenberg, im Braunstein etc. Es geht beim Rösten der Kiese in den Flugstaub und in den Bleikammerschlamm (welcher z. B. bei Verarbeitung von Meggener Kiesen 3,5 Proz. T. enthält), auch in die Schwefelsäure und aus dieser bei der Darstellung von Salzsäure in letztere über; ebenso findet es sich im Schwefel aus Meggener und spanischen Kiesen, im Schwefel von Lipari, im käuflichen Wismut etc. Aus Rammelsberger Kiesen gewonnene Lauge, welche auf der Juliushütte bei Goslar versiedet wird, ist reich an T. Zur Gewinnung von T. kocht man Bleikammerschlamm wiederholt unter Zusatz von etwas Schwefelsäure mit Dampf aus, koliert, setzt Salzsäure zu, wäscht das abgeschiedene Thalliumchlorür aus, verdampft es mit konzentrierter Schwefelsäure zur Trockne, löst das schwefelsaure Thalliumoxydul in Wasser und fällt abermals Thalliumchlorür, verwandelt dies wieder in Sulfat, behandelt die Lösung desselben mit Schwefelwasserstoff, um Arsen zu fällen, digeriert sie dann mit Zink, wäscht das ausgeschiedene T. mit Wasser, preßt und schmelzt es in einem Tiegel, in welchen Leuchtgas geleitet wird. T. ist kristallinisch, fast zinnweiß, stark glänzend, viel weicher und weniger fest als Blei, gibt auf Papier einen bläulichen Strich, der durch Oxydation bald verschwindet, ist dehnbar, spez. Gew. 11,8, Atomgewicht 203,6, schmilzt bei 290°, destilliert im Wasserstoffstrom, oxydiert sich schnell an der Luft, wird daher am besten in aufgekochter Zinkvitriollösung aufbewahrt, und entwickelt beim Erhitzen violetten Dampf und eigentümlichen Geruch. Das verrostete Metall wird im Wasser durch Lösung des Oxyds wieder blank, und fein verteiltes T. löst sich allmählich in Wasser beim Zutritt der Luft. T. löst sich leicht in verdünnter Schwefelsäure und Salpetersäure, schwer in Salzsäure, verbindet sich direkt mit Chlor, Brom, Jod und Schwefel, fällt viele Metalle aus ihren Lösungen und färbt die Flamme schön grün. In vieler Hinsicht gleicht es dem Kalium, in andrer dem Blei; seine Verbindungen sind giftig. Mit Sauerstoff bildet es schwarzbraunes Thalliumoxydul Tl2O, welches sich in Wasser zu Thalliumhydroxydul TlOH löst. Dies bildet gelbe Kristalle, ist leicht löslich in Wasser und Alkohol; die farblose Lösung reagiert alkalisch, schmeckt laugenartig, wirkt ätzend, absorbiert begierig Kohlensäure. Es bildet mit Säuren meist lösliche Salze, aus denen Salzsäure sehr schwer lösliches weißes Thalliumchlorür TlCl fällt, welches am Licht violett wird, leicht schmilzt und zu einer hornartigen Masse erstarrt. Mit kohlensaurem Thalliumoxydul bereitetes Glas ist härter und schwerer als Kaliflintglas und bricht das Licht stärker als alle andern Glassorten. Thalliumoxyd Tl2O3 ist braun, unlöslich in Wasser und Alkalien, gibt leicht Sauerstoff ab. Das Thalliumhydroxyd TlO2H entsteht bei Einwirkung von Ozon auf Thalliumhydroxydul, ist braun, unlöslich in Wasser, gibt mit Säuren die wenig beständigen, meist kristallisierbaren farblosen Oxydsalze. Man benutzt T. zur Darstellung optischer Gläser und mit Thalliumhydroxydul imprägniertes Papier (Thalliumpapier) als Reagens auf Ozon. T. wurde 1861 von Crookes entdeckt.

Thallo, Göttin, s. Horen.

Thallochlor (Flechtengrün), der grüne Farbstoff der Flechten.

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Thallophyten - Thapsia.

Thallophyten (griech.), s. Thallus und Kryptogamen.

Thallus (griech., Thallom, Laub, Lager), alle Pflanzenkörper, an denen diejenigen Gliederungen, Wachstumsgesetze und innerer Bau, welche die Begriffe Stengel, Wurzel und Blatt bedingen, nicht wahrzunehmen sind; gilt daher für alle Pilze, Flechten und Algen, welche darum Thallophyten genannt werden (vgl. Kryptogamen).

Thalsperre, ein Damm von sehr widerstandsfähiger Bauart, quer über den Lauf eines Wildbachs angelegt, zur Zurückhaltung des Geschiebes und Ausfüllung tief eingeschnittener Rinnen (Runsen). Zur Verbauung der Wildbäche dient zumeist eine größere Anzahl von Thalsperren in angemessenem Abstand voneinander. Dieselben verhindern das Verwildern des Gebirgsbaches in der Thalebene durch Zurückhalten der Geschiebsmassen, müssen aber, wenn sie diese Aufgabe sicher erfüllen sollen, bei allen in den Fluß einmündenden Wildbächen angelegt werden. Hand in Hand damit ist häufig eine Aufforstung kahler Hänge zu bewerkstelligen. Vgl. v. Seckendorff, Verbauung der Wildbäche etc. (Wien 1884).

Thalstern, s. Astrantia.

Thalysia (griech.), Erstlingsopfer von Feldfrüchten, Erntefeier (vgl. Demeter, S. 660); Thalysianismus nennt Baltzer die "natürliche Lebensweise" der Vegetarier (s. d.).

Thame (spr. thehm), Marktstadt in Oxfordshire (England), 18 km westlich von Oxford, am schiffbaren Fluß T., der bei Dorchester in die Themse mündet, hat (1881) 3267 Einw.

Thames (spr. temms'), 1) Fluß, s. Themse. - 2) Fluß im nordamerikan. Staat Connecticut, entsteht durch Vereinigung von Quinnebaug und Yadkin und ergießt sich nach einem Laufe von 110 km bei New London in den Long Island Sound. Für Seeschiffe ist er 22 km aufwärts bis Norwich schiffbar.

Thamiatis, altägypt. Stadt, s. Damiette.

Thamsbrück, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Erfurt, Kreis Langensalza, an der Unstrut, hat eine evang. Kirche, eine Handelsmühle und (1885) 999 Einw.

Thamyris (Thamyras), im griech. Mythus ein thrakischer Sänger, Sohn des Philammon und der Nymphe Argiope, wurde, weil er sich vermaß, die Musen im Gesang zu überwinden, von diesen des Augenlichts und der Gabe des Gesanges beraubt. Vgl. A. Michaelis, T. und Sappho (Leipz. 1865).

Than (angelsächs. thên, althochd. degan, schott. than, thayne), bei den Angelsachsen Titel der die Gefolgschaft eines Fürsten bildenden Dienstmannen, später s. v. w. Baron; im alten Schottland Titel der vornehmsten Häuptlinge, die mit den Clans oder Unterhäuptlingen den hohen Adel bildeten. Die Thans waren Stammesälteste und die Gewaltträger des Königs. Nachmals trat der englische Titel Earl (s. d.) an die Stelle des schottischen Thans.

Than, Moritz, ungar. Maler, geb. 1828 zu Alt-Becse im Bacser Komitat (Südungarn), studierte zuerst die Rechte, wandte sich dann der Malerei zu, nahm an den Kämpfen des Jahrs 1849 teil und setzte seine Studien an der Wiener Akademie, später bei Rahl fort. Nach einer Reise durch Deutschland und Belgien malte er 1856 zu Paris die Schlacht bei Mohacs. Er lebte hierauf, mit der Ausführung mehrerer Bilder für den Baron Sina (Odysseus und Nausikaa, Odysseus und Penthesilea) beschäftigt, drei Jahre in Rom und erhielt 1859 den Auftrag zur Ausführung eines die Wiedervereinigung des Königssohns mit der Zauberhelene darstellenden Wandbildes im Redoutensaal zu Pest, wo er sich dauernd niederließ. Er schuf seitdem eine größere Reihe von Altargemälden, Bildnissen (darunter das des Kaisers von Österreich für den großen Saal des neuen Bibliothekgebäudes) und Historienbildern (Angelika und Medor, Liebe der Fata Morgana) sowie mit Lotz Wandgemälde und einen Fries (aus der Geschichte Ungarns) im Treppenhaus des Nationalmuseums zu Pest.

Thanatos (griech., bei den Römern Mors), Personifikation des Todes, Bruder des Hypnos (s. d.), Sohn der Nacht. Vgl. Robert, Thanatos (Berl. 1879).

Thane, ind. Stadt, s. Tanna 1).

Thanet, Isle of (spr. eil of thännet), Name des nordöstlichsten Teils der engl. Grafschaft Kent, welcher bis etwa 1500 durch einen Meeresarm, den Wantsome, vom Festland getrennt war. Er ist 106 qkm groß, und in ihm liegen die Seebadeorte Margate und Ramsgate; auf der Nordostspitze steht ein Leuchtturm.

Thang (Tsang), siames. Getreidemaß, = 20 Kanang (s. d.).

Thank God Harbonr (spr. harber), s. Polarisbai.

Thankmar (Dankmar), Sohn des deutschen Königs Heinrich I. aus seiner ersten, von der Kirche für ungültig erklärten Ehe mit Hatheburg, verband sich, als sein Halbbruder, König Otto d. Gr., die Nordmark, welche T. beanspruchte, dem Markgrafen Gero gegeben hatte, mit dem Herzog der Franken, Eberhard, eroberte die Burg Belcke (Badliki) an der Ruhr und die Feste Eresburg, wurde in letzterer von Otto belagert und bei der Erstürmung im Juli 938 in der Kirche, wohin er sich geflüchtet, erschlagen.

Thanksgiving-day (engl., spr. thänksgiwwing-de, "Danksagungstag"), der Nationalfeiertag in den Vereinigten Staatenvon Nordamerika, durch Gottesdienst in allen Kirchen gesetzlich gefeiert. Das Datum wird alljährlich vom Präsidenten besonders festgesetzt (gewöhnlich Ende November).

Thann, Kreisstadt im deutschen Bezirk Oberelsaß, am Austritt der Thur aus den Vogesen und an der Eisenbahn Mülhausen-Wesserling, 350 m ü. M., hat die katholische prächtige gotische St. Theobaldkirche mit durchbrochenem Turm und eine evang. Kirche, ein Progymnasium, 2 Waisenhäuser, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Baumwoll- und Florettspinnerei, Fabrikation von Baumwollwaren, Kattun, Seidenzeug, Chemikalien, Maschinen, Dampfkesseln, Feilen, Bürsten etc., Bleicherei, Färberei, Bierbrauerei, vortrefflichen Weinbau (am Rangen), Weinhandel und (1885) 7462 meist kath. Einwohner. Über der Stadt die Ruinen der Engelburg. T. war schon 995 vorhanden und kam 1324 an das Haus Habsburg. 1632 eroberten es die Schweden; 15. Okt. 1638 gewann daselbst Herzog Bernhard von Weimar einen Sieg über den Herzog von Lothringen; 1674 nahmen es die Kaiserlichen, 1675 die Franzosen unter Turenne, welche die Engelburg sprengten.

Thannhausen, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Schwaben, Bezirksamt Krumbach, an der Großen Mindel, hat eine kath. Kirche, ein Schloß, ein neues Rathaus und (1885) 1624 Einw.; T. bildet eine Standesherrschaft des Grafen Stadion.

Thapsakos (später Amphipolis), im Altertum berühmte Handelsstadt in Syrien, an der untersten Furt des Euphrat gelegen, angeblich nördlichste Grenze des Reichs Salomos. Hier gingen der jüngere Kyros, Alexander d. Gr. u. a. über den Strom. Jetzt Ruinen El Hammâm.

Thapsia L. (Böskraut), Gattung aus der Familie der Umbelliferen, perennierende Kräuter mit fiederig zusammengesetzten untern und auf den schei-

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Thapsus - Thatbestand.

denförmigen Blattstiel reduzierten obern Blättern, großer, zusammengesetzter Blütendolde mit wenigen oder keinen Hüllblättchen und vom Rücken her zusammengedrückten Früchten. Die vier Arten wachsen in den Mittelmeerländern und gelten meist als heilkräftig, so besonders T. garganica L., in Südeuropa und Algerien, dessen purgierend wirkende Wurzel früher offizinell war, und T. Silphium Viv. in Nordafrika, welches als die Stammpflanze des Silphium (s. d.) betrachtet worden ist.

Thápsus, im Altertum feste Stadt auf der Küste des karthagischen Afrika (Byzakion), berühmt durch den Sieg, den hier Cäsar 6. April 46 v. Chr. über die Pompejaner gewann. Ruinen bei Ed Dimas.

Thaer, 1) Albrecht, Landwirt, geb. 14. Mai 1752 zu Celle, studierte seit 1771 in Göttingen Medizin und Philosophie, war dann in seiner Vaterstadt als Arzt thätig, bebaute daneben einen kleinen Grundbesitz und widmete sich bald ausschließlich der Landwirtschaft. Durch die von ihm gegründete landwirtschaftliche Lehranstalt in Celle sowie durch die "Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirtschaft" (Hannov. 1795-1806, 3 Bde.; 3. Aufl. 1816) und die "Annalen der niedersächsischen Landwirtschaft" (Gött. 1799-1804, 3 Bde.) erlangte er großen Ruf; auf Reisen in Norddeutschland studierte er die deutsche Landwirtschaft, und die Ausgabe von Bergens Werk über Viehzucht (1800), die Abbildungen und Beschreibungen nützlicher Ackergerätschaften (1803-1806), die Übersetzung von Bells "Versuch über den Ackerbau" (1804) bereiteten sodann seine Übersiedelung nach Preußen vor, wohin ihn der König berufen hatte. Er kaufte das Gut Möglin und errichtete hier 1806 die erste höhere landwirtschaftliche Lehranstalt, welche als solche epochemachend war. Sein Werk "Grundsätze der rationellen Landwirtschaft" (Berl. 1809-10, 4 Bde.; 6. Aufl. 1868; neue Ausg. von Krafft, Thiel u. a., das. 1880) ward in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. 1807 zum Staatsrat ernannt, hatte er an den agrarischen Gesetzen zur Regulierung der bäuerlichen Verhältnisse bedeutenden Anteil. 1810 wurde er Professor der Landwirtschaft an der Universität zu Berlin und vortragender Rat im Ministerium des Innern. Nachdem er im folgenden Jahr die berühmt gewordene Mögliner Schäferei gegründet, erhielt er 1815 die Stelle eines Generalintendanten der königlichen Stammschäfereien. 1818 legte er seine Profefsur nieder und widmete sich nun wieder seinem Institut in Möglin, welches 1824 zu einer königlichen Akademie des Landbaues erhoben ward. Er starb 26. Okt. 1828 in Möglin. T. hat zuerst in Deutschland die Resultate der Naturwissenschaften auf die Agrikultur angewandt und gilt als Begründer der rationellen Landwirtschaft in Deutschland; er entwickelte die Begriffe von Roh- und Reinertrag, begründete die Landwirtschaftslehre, förderte die Wechselwirtschaft und den Kartoffelbau und bemühte sich erfolgreich um die Freiheit des landwirtschaftlichen Gewerbslebens. In den letzten Dezennien seines Lebens war er vor allem Tierzüchter, dann speziell Schafzüchter. Seine Werke über die Erzeugung und Zucht hochfeiner Wolle und hochedler Schafe, sein Leipziger Wollkonvent waren für die deutsche Nationalwirtschaft von größter Bedeutung. 1850 wurde ihm ein Denkmal von Rietschel in Leipzig, 1860 ein solches von Rauch in Berlin und 1873 ein drittes in Celle errichtet. Vgl. Körte, Albr. T. (Leipz. 1839).

2) Konrad Wilhelm Albrecht, Enkel des vorigen, Landwirt, geb. 6. Aug. 1828 auf Lüdersdorf bei Wriezen a. O., studierte 1846 in Heidelberg Staatswissenschaft, dann in Möglin und Berlin, erlernte die Landwirtschaft in England und Schottland und übernahm in der Heimat die Verwaltung zweier Güter. 1859-61 lehrte er an der Akademie zu Möglin, habilitierte sich darauf zu Berlin und erhielt daselbst 1866 eine außerordentliche, 1871 in Gießen eine ordentliche Professur. Er schrieb: "System der Landwirtschaft" (Berl. 1877); "Die Wirtschafsdirektion des Landguts" (2. Aufl., das. 1879); "Die altägyptische Landwirtschaft" (das. 1881); "Die landwirtschaftlichen Unkräuter" (das. 1881, mit 24 Tafeln).

Tharant (Tharandt), Stadt in der sächs. Kreis-und Amtshauptmannschaft Dresden, an der Wilden Weißeritz und der Linie Dresden-Chemnitz der Sächsischen Staatsbahn, 212 m ü. M., hat eine evang. Kirche, eine berühmte Forstakademie (1811 von Cotta gegründet, seit 1816 königliche Anstalt, 1887: 136 Studierende) mit reichen Sammlungen, ein Amtsgericht, ein salinisch-eisenhaltiges Mineralbad und (1885) 2511 Einw. Dabei die Ruine des Schlosses T. und am Bergabhang das neue Schloß des Grafen Suminski. Vgl. Fritzsche, Tharant (Dresd. 1867).

Thargelien, das Hauptfest des Apollon in Athen, am siebenten Tag des danach benannten Monats Thargelion (Mai-Juni), dem Tag der Geburt des Gottes, begangen. Nach seiner ursprünglichen Bedeutung bezog es sich auf das Reifen der Feldfrüchte, deren Erstlinge dem Apollon nebst der Artemis und den Horen in Prozession dargebracht wurden. Zugleich war es ein Sühnfest, an dem man durch ein eigentümliches Bußopfer die Stadt von aller Schuld reinigte, damit nicht der erzürnte Gott durch ausdörrende Hitze die Ernte vernichte und die Menschen mit Seuchen heimsuche. Ursprünglich bestand das Opfer in zwei des Todes schuldigen Menschen, Mann und Weib, die unter seltsamen Zeremonien am Ufer geopfert wurden; später scheint man sich damit begnügt zu haben, die Opfer von einer Höhe ins Meer zu stürzen, unten aber aufzufangen und wieder ans Land zu schaffen. Auch festliche Aufzüge und Wettrennen von Männern und Knaben fanden statt.

Tharrhaleus, s. Flüevogel.

Thasos, nördlichste Insel des griech. Archipelagus, hat 435 qkm (7,9 QM.) mit 5200 Einw., fast ausschließlich Griechen. Die Insel ist vulkanischen Ursprungs, hat meist steile Küsten und hohe, bewaldete Berge (Hypsaria 1045 m) sowie viele Überreste des griechischen Altertums. Hauptort ist Panagia (Kastro), auf der Nordküste. Hauptprodukte sind Honig und Öl. - Ionische Griechen besetzten die von Thrakern und Phönikern bewohnte, damals durch ihren Goldreichtum berühmte Insel von Paros aus vor 700 v. Chr.; in den Perserkriegen litt dieselbe schwer, ebenso 463, als die Athener unter Kimon die Stadt T. (auf der Nordküste) nach langer Belagerung eroberten. Später wechselte ihr Besitz zwischen Athen und Sparta; unter den Römern war sie frei, wurde 1462 türkisch, kam später in den Privatbesitz des Vizekönigs Mehemed Ali von Ägypten und wird seitdem von einem ägyptischen Gouverneur verwaltet.

Thassilo, s. Tassilo.

Thatbericht, s. Species facti.

Thatbestand (Corpus oder Materiale delicti), im Strafrecht der Inbegriff derjenigen Merkmale, welche den Begriff einer strafbaren Handlung ausmachen. Der Begriff eines Verbrechens faßt die Merkmale desselben zusammen, während der T. die Merkmale, aus denen die "That besteht", einzeln aufführt. Subjektiver T., die innere That, das Willensmoment, objektiver T., die äußern tatsächlichen Merkmale,

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Thaeter - Thäyingen.

welche zu dem Begriff des Verbrechens gehören; allgemeiner T., die Merkmale eines Verbrechens überhaupt, besonderer T., die Merkmale einer einzelnen Verbrechensart. Vgl. Cohn, Die Grundsätze über den T. der Verbrechen (Bresl. 1889).

Thaeter, Julius, Kupferstecher, geb. 7. Jan. 1804 zu Dresden, kam 1818 auf die Akademie daselbst, war dann unter harten Entbehrungen in Nürnberg, Berlin und München thätig, wo er bei Amsler arbeitete, wurde 1841 Lehrer an der Kunstschule in Weimar, 1846 Lehrer an der Akademie zu Dresden und 1849 als Professor der Kupferstecherkunst nach München berufen, wo er 14. Nov. 1870 starb. Er hat besonders den sogen. Kartonstich geübt und mit Vorliebe nach Meistern der neuklassischen deutschen Kunst gestochen. Seine Hauptblätter sind: der Spaziergang nach Cornelius (1823); die Umrisse zu Faust nach Schwind (1830); die Hunnenschlacht nach Kaulbach (1837); die Parzen und die Überfahrt Charons nach Carstens; Barbarossa in Mailand und Venedig und Rudolf von Habsburg, den Landfrieden wahrend, nach Schnorr; die Entwürfe zum Campo santo in Berlin und die apokalyptischen Reiter nach Cornelius (1849); der babylonische Turmbau nach Kaulbach; Elisabeths Werke der Barmherzigkeit und Aschenbrödel nach Schwind (1858). Vgl. A. Thaeter, Julius T., Lebensbild (Frankf. a. M. 1887).

Thatfrage (Schuldfrage), bei einem Verbrechen die Frage, ob der Angeschuldigte der ihm zur Last gelegten Handlung schuldig sei oder nicht; im Gegensatz zur sogen. Rechtsfrage, d. h. der Frage, unter welche Bestimmung des Strafgesetzbuchs die That zu subsumieren und wie sie zu bestrafen sei. Zur Beantwortung der T. werden bei schwereren Verbrechen Geschworne zugezogen. Übrigens spricht man auch bei Privatrechtsstreitigkeiten von der T. (Quaestio facti) im Gegensatz zur Rechtsfrage (Quaestio juris), indem man unter der erstern die tatsächliche Feststellung eines Rechtsverhältnisses, unter der letztern aber die Frage versteht, welche Rechtsgrundsätze auf jenes Verhältnis Anwendung finden.

Thatsache, im allgemeinen das Resultat jedes Geschehens, also jede Begebenheit, sei sie bloß in den Naturgesetzen begründet oder durch die Willensbestimmung des Menschen herbeigeführt. Im Rechtswesen versteht man unter T. alles Geschehene als Grundlage juristischer Wirksamkeit, sei es, daß es sich um den Erwerb oder um den Verlust oder um die Veränderung eines Rechts handelt.

Thatteilung, s. Grundteilung.

Thau, s. Tau.

Thau (spr. toh., Etang de T., Stagnum Tauri), die größte der Küstenlagunen von Languedoc, im franz. Departement Herault, hat eine Länge von 20, eine Breite von 5-8 km und eine Oberfläche von ca. 8000 Hektar und ist vom Mittelländischen Meer nur durch eine schmale Landzunge getrennt, auf welcher die Eisenbahn von Bordeaux über Cette nach Marseille hinzieht, und an deren breitester Stelle, am Fuß eines 180 m hohen Bergrückens, Cette liegt. Das Wasser ist von geringer Tiefe, salzig, tiefblau und sehr fischreich. Der Kanal von Cette setzt den T. mit dem Meer in Verbindung, während ihn der im SW. einmündende Canal du Midi und der von NO. her zugeleitete Canal des Etangs mit dem südfranzösischen Kanalnetz in Zusammenhang bringen.

Thaumalea, s. Fasan, S. 61.

Thaumas, nach griech. Mythus Sohn des Pontos und der Gäa, Gemahl der Okeanide Elektra, Vater der Harpyien und der Iris.

Thaumatologie (griech.), Lehre von den Wundern.

Thaumatrop (griech.), von Paris 1827 erfundener Apparat, welcher gleich dem Phänakistoskop auf der Nachdauer der die Netzhaut treffenden Lichteindrücke beruht. Wird eine kreisförmige Pappscheibe um ihren Durchmesser gedreht, so daß man schnell hintereinander beide Seiten erblickt, so verschmelzen die auf letztern vorhandenen Zeichnungen zu einem einzigen Bild. Zeigt z. B. die eine Seite einen Vogel, die zweite einen Käfig, so erblickt man beim Rotieren der Scheibe den Vogel im Käfig.

Thaumatúrg (griech.), Wunderthäter (daher Beiname mehrerer Heiligen, namentlich der griechischen Kirche), auch s. v. w. Gaukler.

Thausing, Moritz, Kunstschriftsteller, geb. 3. Juni 1838 auf Schloß Tschischkowitz bei Leitmeritz in Böhmen, studierte an den Universitäten Prag, Wien und München Geschichte und germanische Philologie und war anfangs auf diesen Gebieten schriftstellerisch thätig, bis er sich, nachdem er 1868 Vorsteher der Kupferstich- und Handzeichnungensammlung des Erzherzogs Albrecht (Albertina) in Wien geworden, der Kunstwissenschaft zuwendete. 1873 wurde er Professor der Kunstgeschichte an der Wiener Universität. Er starb durch eigne Hand 14. Aug. 1884 in Leitmeritz. T. gab heraus: "Dürers Briefe, Tagebücher und Reime" (Wien 1872); "Dürer, Geschichte seines Lebens und seiner Kunst" (2. Aufl., Leipz. 1884, 2 Bde.); "Le livre d'esquisses de J. J. Callot" (Wien 1881); "Wiener Kunstbriefe" (Leipz. 1884).

Thaya, Fluß in Österreich, entsteht aus zwei Flüssen, der Mährischen und der Deutschen T., von denen erstere nordöstlich von Teltsch in Mähren, letztere bei Schweiggers in Niederösterreich entspringt und sich mit jener bei Raabs vereinigt, nimmt die Jaispitz, Pulkau und Iglawa auf und fällt bei Hohenau in die March; 282 km lang und sehr fischreich.

Thayer (spr. theh'r), Alexander Wheelock, amerikan. Schriftsteller, insbesondere als Biograph Beethovens hochverdient, geb. 22. Okt. 1817 zu South Natick (Massachusetts), studierte Rechtswissenschaft an der Harvard University zu Cambridge, trat, nachdem er daselbst promoviert hatte, in den Staatsdienst, war 1860-64 bei der amerikanischen Gesandtschaft in Wien angestellt und lebte seitdem als Konsul der Vereinigten Staaten in Triest. Seit 1882 widmet er sich ausschließlich litterarischen Studien. Schon frühzeitig hatte er den Plan einer erschöpfenden Biographie Beethovens gefaßt und zur Ausführung desselben wiederholt (1849-51, 1854-56, 1858 ff.) Studienreisen nach Deutschland unternommen, wo er durch seine Nachforschungen ein überaus reiches Material zusammenbrachte. Das Werk erschien zunächst in deutscher Übersetzung (von H. Deiters): "L. van Beethovens Leben" (Berl. 1876-79, 3 Bde.), und entwirft unter Beiseitelassung aller musikalischen Analyse und Charakteristik von dem Lebensgang und menschlichen Charakter des Meisters ein Bild, das an Vollständigkeit, Treue und psychologischem Verständnis jeden frühern Versuch auf diesem Gebiet weit hinter sich läßt. T. veröffentlichte außerdem: "Signor Masoni and other papers of the late J. Brown", eine Sammlung musikalischer Novellen (Berl. 1862); "Chronologisches Verzeichnis der Werke L. van Beethovens" (das. 1865); "Ein kritischer Beitrag zur Beethoven-Litteratur" (das. 1877) u. a.

Thäyingen (Thayngen), Dorf im schweizer. Kanton Schaffhausen, an der Bahnlinie Konstanz-Schaffhausen, mit Weinbau und (1888) 1185 Einw. über die dort gemachten Höhlenfunde s. Randen.

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Thb. - Theater.

Thb., auch Thgb., Thnb., bei botan. Namen Abkürzung für K. P. Thunberg (s. d.).

Theagenes, Tyrann von Megaris, stürzte um 625 v. Chr. mit Hilfe des Volkes die dorische Oligarchie und machte sich zum Alleinherrscher, unterstützte 612 den Versuch des Atheners Kylon, seines Schwiegersohns, in Athen die Tyrannis zu errichten, versah Megara mit einer Wasserleitung, beförderte Handel und Gewerbe, ward indes um 580 vertrieben.

Theano, von Kreta gebürtig, Tochter der Pythonax, erst Schülerin, dann Gattin des Pythagoras, gilt für die Verfasserin mehrerer Briefe (über Kindererziehung, Hauswesen etc.) und Sittensprüche, die aber wahrscheinlich einer spätern Zeit angehören.

Theanthropophilen, s. Theophilanthropen.

Theanthropos (griech., "Gottmensch"), dogmatische Bezeichnung Christi, s. Christologie.

Theater (griech., hierzu Tafel "Theaterbau"), Schaubühne, Schauspielhaus. Das eigentliche Vaterland des Theaters ist das alte Hellas mit seinen Kolonien. Das altgriechische T. (s. den Grundriß und Tafel "Baukunst IV", Fig. 11) war nicht allein für dramatische Aufführungen bestimmt, sondern auch Schauplatz für alle zum Kultus des Dionysos gehörigen Feierlichkeiten und bestand aus drei Hauptabteilungen: 1) aus dem Zuschauerraum (Theatron im engern Sinn), welcher die in immer weitern Halbkreisen nach hinten übereinander sich erhebenden Sitzreihen enthielt, durch einen oder zwei breite, ebenfalls konzentrische Gänge (Diazoma) in Stockwerke sowie durch Treppengänge in einzelne keilförmige Abschnitte (Kerkis) abgeteilt war; 2) aus der Orchestra, dem mittlern, für den Chor bestimmten Raum mit der erhöhten Thymele, dem Standort des Chorführers, und 3) aus dem mit Statuen geschmückten Bühnengebäude (Skene), das mit seinen zwei nach dem Zuschauerraum hervortretenden Flügeln (Paraskenion) den eigentlichen Spiel- und Sprechraum (Proskenion) umschloß und die zur Aufbewahrung des ganzen Theaterapparats nötigen Räume sowie die Ankleidezimmer der Schauspieler enthielt. Der unter dem Proskenion gelegene Raum, welcher dem Zuschauerraum gegenüber die tiefer liegende Orchestra und die höher liegende Bühne abschloß, hieß das Hyposkenion. Das ganze Gebäude war ohne Bedachung, höchstens bedachte man den obersten, den Zuschauerraum umgebenden Gang, welcher dann eine Säulenhalle bildete, und die von zwei nach der Orchestra hin vorspringenden, im Grundriß rechteckigen Flügeln flankierte Bühne, und mit dem Zuschauerraum gewöhnlich an einen Hügel angelehnt, aus dessen Gestein die Sitzreihen der Zuschauer herausgearbeitet waren. Das T. in Athen (340-328 v. Chr. erbaut) faßte gegen 30,000, das zu Megalopolis 40,000 Personen. Daß bei den Griechen auch Szenerie, Maschinerie und Dekoration schon eine gewisse Ausbildung erlangt hatten, steht außer Zweifel; das Kostüm war zum Teil durch feste Regeln bestimmt. Äschylos führte in die Tragödie den hohen Kothurn und die Maske (s. d.) ein, welch letztere auch ermöglichte, daß Frauenrollen ohne Störung der Illusion von Männern gegeben werden konnten. Der Kampfpreis für den tragischen Dichter bestand in einem Epheukranz, für den komischen in einem Schlauch mit süßem Wein. Das Eintrittsgeld betrug in Athen für die drei Spieltage eine Drachme. Vgl. Chor und Schauspielkunst.

In Rom entstanden feststehende Theatergebäude erst gegen das Ende der Republik. Wie das griechische, bestand auch das römische aus drei Teilen: dem Zuschauerraum, der Orchestra und der Bühne, nur daß die Orchestra (weil der Chor mit auf der Bühne auftrat) zu bevorzugten Sitzplätzen verwendet wurde; man nannte den Raum das Podium, den Sprechplatz der Schauspieler Pulpitum. Eigentümlich war der römischen Bühne ein Vorhang (aulaeum), womit sie vor Beginn des Spiels geschlossen war. Der Zutritt zu den Theatern in Rom war unentgeltlich; doch mußte jeder beim Eintritt eine Marke (tessera) aufweisen, auf welcher sein Sitz

[siehe Graphik]

Grundriß eines griechischen Theaters.

bezeichnet war. Die Ausrichtung der Theaterspiele war Staatssache; auch hier wurden weibliche Rollen bis in die Kaiserzeit von Knaben und Männern gespielt. Außer dem T. des Pompejus waren das T. des Corn. Balbus und das des Marcellus, welches 22,000 Menschen faßte, die vorzüglichsten. Vgl. Strack, Das altgriechische Theatergebäude (Potsd. 1843, 9 Tafeln); Wieseler, Theatergebäude und Denkmäler des Bühnenwesens bei den Griechen und Römern (Götting. 1851, mit 14 Tafeln); Schönborn, Die Skene der Hellenen (Leipz. 1858); Arnold, Das altrömische Theatergebäude (das. 1873); A. Müller, Griechische Bühnenaltertümer (Freiburg 1886); Öhmichen, Griechischer Theaterbau (Berl. 1886); Opitz, Das Theaterwesen der Griechen und Römer (Leipz. 1889).

Dem Mittelalter waren eigentliche Theatergebäude ganz fremd. Die dramatischen Aufführungen standen im Dienste der Kirche, welche die bauliche Anlage ihrer Gotteshäuser nach dem Beispiel der antiken T. dem Zweck der heiligen Festspiele anbequemte. Charakteristisch ist hierbei die dreiteilige, über- und

624

Theater (moderner Theaterbau).

hintereinander sich erhebende Emporbühne, deren Anordnung auch beibehalten wurde, als mit der zunehmenden Verweltlichung die überdies allzu personenreichen Kirchenspiele ins Freie, auf Kirchhöfe, Märkte etc., verwiesen wurden (s. Mysterien, S. 956 f.), wo besondere Gerüste hierfür erbaut wurden. Die weltlichen Spiele waren auf Schulsäle, Scheunen ("Stadeln"), unbedeckte Hofräume mit Gerüsten und Emporen ("Brücken", "Zinnen"), mit Teppichen umhangene Räume, später auf schlichte "Spielhäuser" angewiesen, deren erstes 1550 in Nürnberg durch die Meistersingerzunft errichtet wurde. Letztere vervollkommten sich erst mit dem Überhandnehmen des Luxus bei den Hofhaltungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrh., besonders nach dem Vorbild der italienischen Operntheater, deren Grundformen noch heute gelten. Die ersten Opernhäuser in Deutschland erhielten, abgesehen von den Residenzen, Nürnberg, Augsburg, Hamburg und Leipzig (1667-93).

Der moderne Theaterbau.

Auch im modernen T. wird der Zuschauerraum wie im antiken halbrund oder hufeisenförmig, nach hinten zu etwas aufsteigend erbaut. Den Boden desselben nimmt das Parterre (in seinem mit reservierten Plätzen versehenen vordern Teil Parkett genannt) ein; an der tiefsten Stelle des Zuschauerraums, zwischen Parkett und der Bühne, hat sich die antike Orchestra in den schmalen, lang gedehnten Raum für das Musikchor verwandelt, auf welches auch der alte Name (eigentlich "Tanzplatt") übergegangen ist (s. Orchester). Bei den neuesten Theaterbauten wird, nach der Idee Richard Wagners und Sempers (Wagnertheater in Baireuth mit amphitheatralisch aufsteigenden Sitzreihen), das Orchester, um die Illusion weniger zu stören, versenkt und so angeordnet, daß mindestens das in dem Parkett und Parterre befindliche Publikum die ausführenden Musiker nicht sieht. Durch die Herstellung eines vertieften Orchesters wird nicht nur der Eindruck der von unsichtbaren Musikern herrührenden Musik, sondern auch die perspektivische Wirkung der scheinbar näher gerückten und deshalb größer erscheinenden Darsteller und Darstellungsgegenstände wesentlich erhöht. Der Umfang des Parterre wird von übereinander errichteten Logenreihen oder von Balkonen, welche alsdann für die Logen nur den Raum am Orchester übriglassen, umschlossen; der oberste Balkon heißt Galerie. Die erhöhte Bühne, d. h. der Ort, wo die Schauspieler agieren, wird von dem Orchester- und Zuschauerraum durch mehrere Vorhänge geschieden, welche bei größern Theatern, z. B. in Dresden, in einem Haupt- und einem Zwischenaktsvorhang, einem Vorhang für Szenenwechsel und einem zur Lokalisierung der Feuersgefahr bestimmten eisernen Vorhang bestehen. Letzterer ist aus Trägerwellenblech konstruiert, durch Gegengewichte ausbalanciert und mittels Kurbelwinden beweglich. Vor dem Vorhang befindet sich die Rampe oder das Gestell, an welchem die vordere Beleuchtung der Bühne angebracht ist; in der Mitte der Rampe befindet sich der Souffleurkasten. Vom Proszenium, dem vordersten Teil der Bühne, aus steigt der Boden der Bühne (Podium) nach hinten zu ein wenig aufwärts. Die Szene oder der Ort, wo die Handlung spielt, wird durch die Dekorationen, nämlich eine Hinterwand und Seitenwände, begrenzt. Die Hinterwand (Hintergardine) muß an verschiedenen Stellen herabgelassen werden können, da es nötig ist, die Bühne bald kürzer, bald länger (tiefer) zu machen. Die Seitenwände der Bühne werden durch Kulissen dargestellt. Sie bestehen aus Leinwand, auf Rahmen gespannt, gehen durch das Podium hindurch und ruhen unterhalb desselben auf einem kleinen Wagen oder einer Walze, so daß leicht mit demselben Zug die neuen Kulissen vor, die nicht mehr nötigen zurückgezogen werden können. In neuester Zeit hat man, besonders für das Konversationsstück, vielfach versucht, "geschlossene" Dekorationen, sogen. Panoramatheater, einzuführen, d. h. Kulissen, welche mittels Klappen sich aneinander anschließen (Klappkulissen) und wirkliche Seitenwände bilden, sowie auch die Deckendekoration aus dem Ganzen zu arbeiten. Die zur nähern Bestimmung der Szene nötigen Stücke, wie Häuser, Mauern, Bäume, Felsen u. dgl., heißen Versetzstücke und werden vermittelst sogen. Freiwagen, deren Maschinerie unter dem Podium hingeht, von den Seiten hervorgeschoben. Den Luftraum oder die obere Decke der Bühne bilden die Soffiten, d. h. quer über die Bühne gehende Leinwandstreifen, die das Bühnenbild nach oben begrenzen. Je nachdem die Soffiten bemalt sind, heißen sie Luft-, Wald-, Zimmersoffiten etc. Die gesamte Maschinerie des modernen Theaters wird in die obere und die untere geteilt. Die obere umfaßt alle Zug- und Hängewerke nebst den dazu gehörigen Leinen, Zügen, Walzen, Schnürböden, Galerien etc. sowie den ganzen Apparat, mittels dessen auf der Bühne Personen und Gegenstände durch die Luft bewegt werden, d. h. das Flugwerk. Die untere Maschinerie besteht aus den Versenkungen (geräuschlos auf- und niedergehenden Bodenausschnitten), Kanälen, Freifahrten, Wagen u. dgl. und dient teils zur Bewegung der Kulissen, teils zum Emporheben aus der Erde aufsteigender Erscheinungen. Die notwendigen Vorrichtungen zum Flugwerk, zu dem Aufziehen des Vorhangs, zum Dekorationswechsel, zur Herablassung der Soffiten befinden sich auf einem besondern Boden über der Bühne, dem Schnürboden, dessen Fußboden durchbrochen ist. Auf einem andern obern Boden, dem Feuerboden, sind für Feuersgefahr die zur Löschung nötigen Reservoirs befindlich. Die Bühne wird meist in 5-8 perspektivisch geordnete Abteilungen zerlegt, deren jede eine große Versenkung, drei durchgehende Freifahrten und eine durchgehende Klappe hat. Die Beleuchtung wird meist in jeder Bahn mittels zwei Ober- und zwei Seitenlichter sowie durch Versetz-, Transparent- und Extralampen bewirkt. Hierzu kommt die vordere, durch die Proszeniumslampen bewirkte, regulierbare Beleuchtung der Bühne. Zu beiden Seiten der Hauptbühne befinden sich Probesäle, Garderoben und Ankleidezimmer. Die den Zuschauerraum enthaltende Abteilung des Hauses versieht man außer mit den Treppenanlagen mit Restaurationsräumen, Büffetten u. Foyers. Hierzu kommen die Vestibüle, Korridore und Unterfahrten sowie bei Hof- und Residenztheatern in dem Zuschauerraum die Anordnung der Hoflogen und die damit in Verbindung zu bringenden Salons und sonstigen Appartements. Nicht selten wird die Anlage besonderer Konzertsäle und Säle zu kleinern theatralischen Aufführungen gefordert.

Die Anordnung des Äußern bestand früher in der Herstellung eines mehr oder minder regelmäßigen rechteckigen Gebäudes, in welches man den hufeisenförmigen Zuschauerraum einschaltete, erfolgt aber bei neuern Ausführungen häufig im engen Abschluß an die Form des Innenbaues und stellt alsdann von der Seite des Zuschauerraums einen mehr oder minder vollständigen Rundbau dar. Anordnungen dieser Art zeigen unter andern das Mainzer, das Dresdener

Theaterbau.

1 Auffahrt

2 Terasse

3 Magazine

4 Rundgang um das Vestibül (5)

6 Rundgang um das Foyer (7)

8 Große Garderobe

9 Terrasse

10 Haupttreppe

11 Foyer für III. Rang

12 Ventilationskanäle u. Heizraum

13 Garderobe für Parterre

14 Saal zur Königsloge

15 Vorsaal für III. Rang

16 Königsloge

17 Parterreloge

18 Mischraum

19 Zuschauerräume: Parkett, Parterre, Loge im I. und II. Stock, III. Rang, Amphitheater

20 Ventilationsschacht

21 Bühne mit Asphaleia-Einrichtung

22 Versenkung

23 Schnürboden

24 Ventilationsschacht für die Bühne

25 Akkumulatoren 26 Hinterbühne

27 Ballett-Probesaal

28 Malersaal

Längenschnitt des königl. ungarischen Opernhauses in Budapest. (Maßstab 1:500).

Grundriß des Parterregeschosses. (Maßstab 1:1040.)

Grundriß des Hochparterres (Bühnenhöhe). (Maßstab 1:1040.)

[Artikel Theater.]

Zur Tafel 'Theaterbau': Das neue königliche Opernhaus in Budapest.

Zu den Eigentümlichkeiten des beim Opernhaus zu Budapest (Architekt Nik. v. Ybl) teilweise in Anwendung gekommenen sogen. Asphaleia-Systems gehört der um den hufeisenförmigen Zuschauerraum geführte, zu Lüftungszwecken dienende sog. Ventilationsring, an welchen sich in den einzelnen Stockwerken das Vestibül, die Foyers, Treppenhäuser, Garderoben u. Büffette nebst den beiden seitwärts angebrachten, gedeckten Unterfahrten u. zwar durchweg in einer Weise anschließen, welche die Sicherheit und Bequemlichkeit der Theaterbesucher vollkommen wahrt. Zur Verbesserung der Akustik, Lüftung und freien Aussicht der Galeriebesucher ist der eiserne Plafond muschelartig gewölbt, aus zwei Böden, wovon der untere zwecks Aufsaugung schlechter oder Zuführung frischer Luft siebförmig durchlöchert ist, zusammengesetzt und ruht nicht auf der Galeriebrüstung, sondern auf dem Ventilationsring, wodurch auch die Galeriebesucher einen freien Ausblick auf die Bühne genießen. Mit den Hauptneuerungen ist die Bühne ausgestattet, welche (das Podium ausgenommen) mit Ausschluß von Holz konstruiert ist. Das Podium ist seiner Breite nach in mehrere Podienstreifen, sogen. Gassen (s. den Grundriß der Bühne auf der folgenden Seite), zerlegt, wovon jeder für sich oder mit den andern um je 2,5 m gesenkt oder um je 4,5 m gehoben werden kann. Diese Bewegung wird, wie der nebenstehende Querschnitt zeigt, durch hydraulische Pressen bewirkt, deren Stempel zugleich die Träger jener Gassen unterstützen, und durch das Öffnen und Schließen eines Hahns erzielt, welcher den Zufluß des unter einem bestimmten Druck stehenden Wassers zum Preßcylinder regelt. Jede Gasse enthält wieder drei nebeneinander befindliche Versenkungen, welche ebenfalls auf hydraulischen Pressen ruhen und in ähnlicher Weise um 5 m gesenkt oder um 6,5 m gehoben werden können. Mit Hilfe dieser hydraulisch zu bewegenden Versenkungen lassen sich Terrassen, Serpentinen, Brücken, Balkone, ja bei abwechselndem Öffnen und Schließen der Wasserhähne selbst Schaukelbewegungen des Podiums oder seiner Teile hervorbringen. Zwischen den einzelnen Gassen sowie an beiden Seiten der Bühne sind Klappen angebracht, durch welche man nicht nur ganze Dekorationen, sondern auch ganze Zimmer bis zu einer Höhe von 8 m heben kann. Bei dem Schnürboden werden die Soffitenzüge durch lange Züge ersetzt und hierbei nur Drahtseile verwandt. Alle Züge können ebenso wie die Versenkungen

Querschnitt durch die Bühne in der Richtung einer Kulissengasse, 1:285.

*

Zur Tafel 'Theaterbau': Das neue königliche Opernhaus in Budapest.

hydraulisch von unten bewegt werden, wodurch das gefährliche Betreten des Schnürbodens und der Soffitenbrücken wegfällt. Dafür ist in jeder Gasse ein Flugapparat eingeschaltet, welcher nicht bloß an jeden Punkt derselben gelenkt, sondern auch in beliebigen Lagen bewegt werden kann. Der Abschluß des Zuschauer- und Bühnenraums wird durch einen ebenfalls hydraulisch bewegten Blechvorhang geschlossen. Die vielfach störende Rampenbeleuchtung ist durch eine seitliche Beleuchtung durch elektrisches Licht ersetzt, zu welchem Zweck in der Mauer der Proszeniumsöffnung eine nur gegen die Bühne hin offene Hohlkehle angebracht ist, welche die Lampen aufnimmt. Die schwierig zu handhabenden, oft durch ihre ungleiche Beleuchtung störenden Luftsoffiten sind durch einen sogen. Horizont, ein mit Wolken bemaltes, senkrecht herabhängendes Dekorationsstück, welches die ganze Bühne umgibt und sich hinreichend hoch, im Budapester Theater 19 m, über das Podium erhebt, ersetzt. Der auf der Tafel dargestellte Längenschnitt des königlich ungarischen Opernhauses in Budapest gibt ein anschauliches Bild dieser ganzen Einrichtung, deren einzelne Teile mit fortlaufenden Zahlen bezeichnet und demgemäß mit den ihrem Zweck entsprechenden Benennungen versehen sind. Zu erwähnen ist noch, daß der Zuschauerraum, wie die beiden Grundrisse zeigen, hufeisenförmig angelegt, und daß das Proszenium in Gestalt eines Triumphbogens zwischen Bühne und Zuschauerraum eingeschaltet ist. Der Orchesterraum ist vertieft und mit einer zierlichen Eisenguirlande eingefaßt. In den mit 18 bezeichneten Mischraum treiben zwei große, von einem Gasmotor bewegte Ventilatoren die frische Luft ein, von wo dieselbe, entsprechend vorgewärmt, durch gemauerte Kanäle in den Zuschauerraum gelangt. Die schlechte Luft wird durch den Kronleuchterschacht (20) und zahlreiche andre Luftabzugsschlöte entfernt. Die Effektbeleuchtung der Bühne wird durch elektrisches Licht bewirkt, wobei vier durch zwei zwölfpferdige Gasmaschinen bewegte Dynamomaschinen zur Verfügung stehen. Die Beleuchtung des Hauses wird aus ökonomischen Gründen durch Gas bewirkt. Zwischen Zuschauerraum und Bühne befindet sich der eiserne Vorhang, während die letztere mit einem eisernen Dachstuhl überdeckt ist. Die Bewegung des ganzen Bühnenapparats, welchen der Längenschnitt unter 21, 22 u. 23 sowie der Querschnitt durch die Bühne deutlich darstellt, geht von einer zwölfpferdigen Gasmaschine aus, welche die von einem unter dem Zuschauerraum befindlichen Brunnen gespeiste Wasserpumpe in Thätigkeit setzt. Der Urheber der Maschineneinrichtung des Asphaleia-Systems ist der Wiener Ingenieur Robert Gwinner, nach dessen Plänen seitdem diese Bühneneinrichtung unter andern beim Landestheater zu Prag, den neuerbauten Theatern in Halle a. S., Göggingen bei Augsburg, dem Drurylane-Theater in London, dem großen Theater zu Chicago etc. Anwendung gefunden hat.

Grundriß der Bühne mit Asphaleia-Einrichtung (Nr. 21, 22 des Längenschnitts).

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Theaterbilletsteuer - Theatre-Francais.

und das Berliner Viktoria-T. Sowohl der die Vorder- und Hinterbühne einschließende Gebäudeteil als auch die für die verschiedenen Säle, Foyers, Treppen und Korridoranlagen erforderlichen Anbauten erhalten dann aus dem gleichen Grund rechteckige Begrenzung, wodurch die Form der neuern T. eine mit mehr oder minder großem Geschick ausgebildete kombinierte, aus Rechteck- und Rundbau bestehende wird. Die merkwürdigste, zwar sehr reiche, aber etwas gezwungene Kombination dieser Art zeigt die von Garnier erbaute Große Oper in Paris, während diejenige des Dresdener Theaters dem Innern genau angepaßt und natürlich ist. Die Bekrönung der einzelnen Teile und ihre äußere Verzierung wird meist durch Figuren oder Figurengruppen unterstützt.

Die Stilformen des Hauptinnenraums bewegen sich bei den neuern Theatern fast durchweg, je nach dem Grad ihres Reichtums, in einer frühern oder spätern Epoche des Renaissancestils, wobei die figürliche Skulptur eine mehr oder minder hervorragende Rolle spielt. Karyatiden, Atlanten an den Proszeniumslogen, schwebende Figuren in den Gewölbzwickeln der Decke (wie an der Pariser Oper), Statuen und Medaillons von Musen und Musengruppen, bedeutenden Ton- und Dramendichtern etc. bilden die Motive. Die Dekorationsmalereien entfalten sich vorwiegend an dem Plafond. Als ein Hauptschmuck des Zuschauerraums tritt endlich außer den übrigen Arm- und Wandlampen der Kronleuchter hervor, dessen Lampen sich in zwei und mehr (an der Pariser Oper in vier) Etagen von ungleichen Durchmessern aufbauen und sowohl durch Ausziehen und Niederlassen als auch durch die Regulierung der Gasflammen einen mehr oder minder hellen Lichteffekt erzeugen können. Die in der Nähe des Plafonds aufgehängten sogen. Sonnenbrenner dienen zugleich zur Beförderung der Ventilation des Innenraums, welche bisweilen, z. B. beim Dresdener Theater, noch durch einen besondern, auf dem Dachstuhl ruhenden Ventilator unterstützt wird. Zu den schon in der Bauanlage getroffenen Vorsichtsmaßregeln zur Abwendung der Feuersgefahr (Löschanstalten, ausreichende Ausgänge, zahlreiche feuersichere Treppen, nach außen sich öffnende Zwischen- und Außenthüren, Vorplätze, zur Abführung des Rauches dienende Ventilationseinrichtungen etc.) kamen in neuerer Zeit als bedeutungsvoll hinzu: die Aufführung einer soliden Brandmauer zwischen Bühne und Zuschauerraum in Verbindung mit dem in der Proszeniumsöffnung angebrachten hydraulisch bewegbaren Metallvorhang (s. oben) zur raschen Isolierung beider Räume bei Ausbruch eines Brandes; Ersatz der Gasbeleuchtung durch elektrische Beleuchtung in allen Teilen des Theaters; Schutz aller Theaterrequisiten und des Holzwerks auf der Bühne gegen rasche Entzündbarkeit mittels chemischer Imprägnierung mit unbrennbaren Stoffen. Der am 8. Dez. 1881 ausgebrochene verhängnisvolle Brand des Wiener Ringtheaters führte indessen zu der Einsicht, daß der technische Teil des Theaterwesens den Anforderungen, welche die Richtung der heutigen Kunst an denselben stellt, überhaupt nicht mehr gewachsen sei und einer durchgreifenden Umgestaltung bedürfe. Dieser Einsicht verdankt ein Entwurf nach dem System "Asphaleia" zu einem nicht nur feuersichern, sondern auch technisch zeitgemäß umgestalteten T. seine Entstehung, welcher bei dem 1885 eröffneten königlichen Opernhaus in Budapest seine erste, bereits bewährte Anwendung gefunden hat und seitdem auch anderwärts nachgeahmt worden ist. Weiteres darüber s. in der Textbeilage zur beifolgenden Tafel.

Die schönsten Theatergebäude in Deutschland finden sich zu München, Berlin (Schauspielhaus, Opernhaus, Viktoria- und Wallnertheater), Wien (Opernhaus, Hofburgtheater, s. Tafel "Wiener Bauwerke", und das T. an der Wien), Hannover, Dresden, Leipzig, Magdeburg, Köln, Bremen, Karlsruhe, Braunschweig, Halle, Darmstadt, Frankfurt a. M., Prag, Budapest. Das Wagnertheater in Baireuth wurde bereits oben erwähnt. In Frankreich zeichnen sich aus das Théâtre-Français, die neue Große Oper und das Châtelettheater in Paris, die T. von Lyon, Marseille und Bordeaux; in Italien die T. San Carlo in Neapel, della Scala in Mailand und Fenice in Venedig. Das größte T. in Rußland ist das zu Petersburg (durchaus von Stein und Eisen bis auf das Podium und den Maschinenboden). Londons größte T. sind das Drurylane- und das Coventgardentheater. Die größten der modernen T. fassen 3-7000 Zuschauer (della Scala 7000, San Carlo 7500, das T. in Chicago, gegenwärtig das größte der Welt, hat 8000 Sitzplätze). Vgl. aus der neuern Litteratur Gosset, Traité de la construction des théâtres (Par. 1885); Garnier, Le nouvel Opera de Paris (das. 1876-81); "Das neue Opernhaus in Wien" (Wien 1879); Gwinner, Das neue königliche Opernhaus in Budapest (das. 1885); Staude, Das Stadttheater zu Halle (Halle 1886); Fölsch, Theaterbrände und die zu der Verhütung derselben erforderlichen Schutzmaßregeln (Hamb. 1878); Gilardone, Handbuch des Theaterlösch- und Rettungswesens (Straßb. 1882-84, 3 Bde.). über die Geschichte des Theaters im weitern Sinn vgl. Schauspielkunst. - Anatomisches T. (Anatomie), das Gebäude, in welchem Anatomie gelehrt und ausgeübt wird, besonders der Hörsaal mit amphitheatralisch erhöhten Plätzen.

Theaterbilletsteuer, eine Aufwandsteuer auf den Theaterbesuch, in Frankreich als Zwecksteuer für Wohlthätigkeitsanstalten von größern Städten im Betrag von 10 Proz. des Eintrittsgeldes erhoben.

Theatiner, Orden regulierter Chorherren, gestiftet 1524 in Rom von Joh. Pet. Caraffa, nachmaligem Papst Paul IV., damals Bischof von Theate oder Chieti (daher auch Chietiner, Quietiner, Pauliner), in Verbindung mit Cajetan da Thiene (daher Kajetaner), bestätigt von Paul III. 1540 und Pius V. 1568, vornehmlich aus Adligen bestehend, eine Pflanzschule des höhern Klerus. Die noch jetzt verfolgte Tendenz des Ordens geht auf Erweckung eines reinen apostolischen Geistes mittels Predigt und Gottesdienstes. Die T. legen die drei Mönchsgelübde auf Augustins Regel ab und verpflichten sich außerdem zum Predigen gegen Heiden und Ketzer, zur Seelsorge, zur Pflege der Kranken. Später verbreitete sich der Orden auch über Frankreich, Spanien, Polen und hatte Missionen in Asien. Spätere Päpste, Urban VIII. und Clemens IX., vereinigten mit ihm zwei von Ursula Benincasa 1583 und 1610 gestiftete Kongregationen von Theatinerinnen.

Theatralisch (griech.), das Theater betreffend; bühnenmäßig; affektiert.

Théâtre-Français (auch Comedie-Française genannt), das erste Pariser Theater in litterarischer Beziehung, ist eine Schöpfung Ludwigs XIV. Durch Kabinettsbefehl von 21. Okt. 1680 vereinigte er die Truppe des Hôtel de Bourgogne und die Molièresche, welche nach dem Tod ihres Meisters (1673) aus ihrem Saal im Palais-Royal hatte weichen müssen, zu einer Truppe, um, wie es in dem Befehl hieß, den Schauspielern die Möglichkeit zu gewähren, sich

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Theatrum europaeum - Theben.

immer mehr zu vervollkommnen. Er gab ihr das Privilegium, Tragödien und Komödien aufzuführen, und bewilligte eine jährliche Unterstützung von 12,000 Frank; die Anzahl der Schauspieler wurde fest bestimmt, die Verwaltung geregelt. So war durch die Vereinigung des Repertoires von Corneille und Racine mit dem Molières die klassische Bühne Frankreichs geschaffen; die Schauspieler nannten sich Comédiens ordinaires du roi. 1689 baute sich die Truppe einen eignen Saal in der Straße Fosses Saint-Germain (nachmals Straße de l'Ancienne Comédie) und nannte sich von der Zeit an Théâtre de la Comédie-Française; in demselben blieb das Theater bis zum Jahr 1770. In der ersten Hälfte dieser Periode machte es nur schlechte Geschäfte und vermochte die Konkurrenz der Markttheater (Marionetten, Akrobaten, Bänkelsänger etc.) nur mit polizeilicher Hilfe zu überwinden; die Zeit von 1740 aber, wo Voltaires Dramen die Bühne beherrschten, bis 1780 ist die glänzendste Epoche seiner Geschichte. Eine große Anzahl ausgezeichneter Schauspieler fand sich damals zusammen, von denen wir hier nennen: Grandval, Lekain, Bellecourt, Préville, Molé, Monvel, Brizard, Dugazon, die Damen Dumesnil, Clairon, Dangeville und Contat. Im J. 1770 siedelte das Theater in die Tuilerien über, zwölf Jahre später in einen neuerbauten Saal, wo sich jetzt das Odéon befindet. Hier fand auch 1784 die berühmte erste Vorstellung von "Figaros Hochzeit" statt. Die Revolution spielte dem T. übel mit; den Versuch, die antirepublikanischen Stücke Layas aufzuführen, mußten Schauspieler und Dichter mit Gefängnis büßen; erst nach und nach wurden sie befreit. Zur Ruhe aber kam das T. erst 1803, als es wieder in den Saal des Palais-Royal einziehen durfte, in dem schon Molière gewirkt hatte. Hier ist es seit der Zeit geblieben; der jährliche Zuschuß wurde auf 100,000 Frank erhöht. Eine feste Organisation erhielt es durch Napoleons pomphaftes Dekret vom 15. Okt. 1812 aus Moskau, das ergänzt und im einzelnen modifiziert wurde durch die Dekrete vom April 1850 und November 1859. Hiernach untersteht die Verwaltung einem Komitee von sechs Mitgliedern, unter der Direktion eines vom Staat bestellten Beamten (seit 1833; seit 1885 J. Claretie); dieses hat nicht nur die finanziellen Angelegenheiten zu besorgen und die Sociétaires (fest angestellten Mitglieder im Gegensatz zu den Pensionnaires) zu ernennen, sondern wirkt auch als Lesekomitee und hat über Annahme und Zurückweisung der eingereichten Stücke zu entscheiden. Der Zuschuß ist auf 240,000 Frank erhöht worden. - In dieser ganzen Zeit war die Comédie-Française arm an hervorragenden Talenten; abgesehen von Talma, der 1784 zuerst auftrat, und Rachel Félix, die ihr von 1838 bis 1855 angehörte, sind Sterne erster Größe auf der klassischen Bühne nicht zu verzeichnen. Dafür aber ist sie, besonders seit der Mitte dieses Jahrhunderts, durch ein mustergültiges Zusammenspiel ausgezeichnet, durch das in Verbindung mit der sorgfältigen Ausstattung, einem unermüdlichen Studium und liebevoller Achtung vor der Überlieferung die glänzendsten Erfolge erzielt wurden. Diese Vorzüge kommen besonders der Wiederaufführung der Werke der großen französischen Klassiker zu gute; eine würdige und künstlerisch schöne Darstellung derselben zu bieten, hat das T. immer als wichtigste Aufgabe betrachtet, eine Aufgabe, der die romantische Periode, welche mit der berühmten Theaterschlacht vom 25. Febr. 1830 zum Siege gelangte, es nur vorübergehend zu entfremden vermochte. Dafür hat auch die 200jährige Jubelfeier der Gründung des T. im J. 1880 einen vollgültigen Beweis geliefert. Vgl. Lucas, Histoire du T. (2. Aufl. 1863, 3 Bde.); Despois, Le T. sous Louis XIV (Par. 1886); Chabrol, Histoire et description du Palais-Royal et du T. (das. 1884).

Theatrum europaeum, eine Chronik der Zeitereignisse, welche seit etwa 1616 zu Frankfurt a. M. in Bänden erschien und Vorläuferin der später entstandenen Zeitungen war. Sie ging später in den Besitz der Kupferstecher- und Kunsthändlerfamilie Merian (s. d.) über, deren Mitglieder sie mit Kupferstichen versahen. Seit 1700 führte die Redaktion der Laubacher Pastor Schneider, welcher dem T. einen neuen Aufschwung gab. Doch ging es 1718 zum Teil durch die Verschwendungssucht des Generals und Architekten Eosander v. Goethe ein, welcher die Erbin des Merianschen Verlags geheiratet hatte. Es umfaßt 21 Bände.

Theba (hebr.), s. Arche.

Thebain C12H21NO3, Alkaloid des Opiums, bildet farb- und geruchlose Kristalle, schmeckt scharf, metallisch zusammenziehend, ist leicht löslich in Alkohol und Äther, kaum in Wasser, reagiert stark alkalisch, bildet mit Säuren kristallisierbare Salze, ist sehr giftig und erregt Starrkrampf.

Thebaïs, im Altertum Name von Oberägypten, nach der Hauptstadt Theben (s. d. 1).

Thebaïsche Region, nach der Legende eine vom Kaiser Maximianus 300 n. Chr. aus der ägyptischen Landschaft Thebais gegen die Christen in Gallien gesandte Legion, welche wegen Dienstverweigerung erst zweimal dezimiert, dann mit ihrem Führer Mauritius zu St.-Maurice in Wallis niedergemetzelt und unter dem Namen der 10,000 Ritter (22. Juni) in das Martyrologium aufgenommen ward.

Theben, 1) die alte Hauptstadt Oberägyptens, am Nil, die "hundertthorige Stadt", der einstige Mittelpunkt des Pharaonenreichs, heute nur ein ausgedehntes Ruinenfeld zu beiden Seiten des Nils. Der hieroglyphische Name der Stadt war Ape (mit dem Artikel T'Ape), woraus das griechische Thebae entstanden ist. Die unter den Ptolemäern eingeführte Benennung Diospolis ist eine Übersetzung des altägyptischen Pe-Amun ("Haus des Ammon"). Die Gründung Thebens ist in Dunkel gehüllt. In die Geschichte tritt die Stadt erst mit der 11. Dynastie (2850 v. Chr.) ein, welche von Manetho eine thebaische genannt wird, und deren Gräber dort entdeckt wurden. Nach der Vertreibung der Hyksos und mit der Herstellung der unter ihnen zerstörten Tempel, also unter der 18. Dynastie (1706), begannen die herrlichen Bauten zu entstehen, welche, im Lauf der folgenden elf Jahrhunderte verschönert, vergrößert und vermehrt, die Stadt zum Wunder der Alten Welt erhoben haben. 527 wurde ihr durch Kambyses der erste Stoß versetzt; die Verwüstung und Plünderung durch die Perser war derart, daß T. nie wieder sich zu altem Glanz erheben konnte. Die Verlegung der Residenz unter den letzten Dynastien nach den Städten des Deltas und der Aufschwung Alexandrias unter den Ptolemäern entzogen ihr die Lebenskraft. 84 endlich brachte ihr die Empörung gegen Ptolemäos Soter II. Lathyros den Untergang. Erbittert durch ihren dreijährigen Widerstand, verheerte sie der siegreiche König mit Feuer und Schwert, so daß Strabon hier nur einige ärmliche Ortschaften um die vier Haupttempel gruppiert fand. Das Gebiet von T. nehmen gegenwärtig vier Dörfer: Luksor, Medinet Habu, Karnak und Kurnah, ein, mit den noch erhaltenen großartigen Ruinen der alten Stadt

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Theben - Thecosmilia.

2) (Thebae) die größte Stadt in der griech. Landschaft Böotien, auf den Vorhöhen des Teumessos, wird schon von Homer als die Stadt der sieben Thore (Thebe Heptapylos) genannt und war in der historischen Zeit der wichtigste Ort des Böotischen Bundes. T. lag in quellenreicher, hügeliger Gegend über dem südlichen Rande der aonischen Ebene und hatte eine etwa 15 km lange Ringmauer. Die Stadt oder zunächst die Burg Kadmeia wurde der Sage nach von Kadmos gegründet, nachdem er den Drachen getötet, der das Land verödete. Jedenfalls ließen sich bei T. phönikische Einwanderer nieder, welchen dann griechische aus Kleinasien folgten, was die Sage von Amphion beweist, der durch seine Leier die Steine herbeilockte. Zu dem Geschlecht der Kadmeionen gehörte auch der Sohn des Laios, Ödipus (s. d.), der die Regierung seinen Söhnen Eteokles und Polyneikes mit der Bestimmung übergab, daß jeder allemal ein Jahr regieren sollte. Eteokles brach den Vertrag und veranlaßte dadurch den berühmten Zug der Sieben gegen T. (s. Sieben gegen Theben), dem 20 Jahre später der Zug der Epigonen, d. h. der Söhne jener Sieben, folgte, welcher mit der Niederlage der Thebaner bei Glisas und der Zerstörung des alten T. endete. T. gehörte zum Böotischen Bund (s. Böotien) und ward bald Sitz der Böotarchen und somit Hauptstadt des Bundes. 728 v. Chr. erhielt die Stadt von dem Bakchiaden Philolaos aus Korinth neue Gesetze. Auf Athens wachsende Macht eifersüchtig und über den Abfall Platääs vom Böotischen Bund erbittert, begann es 507 einen Krieg gegen Athen, wurde aber besiegt. In den Perserkriegen stand T. mit Orchomenos auf der Seite der Perser und erlitt mit diesen die Niederlage bei Platää 479, worauf die Häupter der persischen Partei hingerichtet wurden. Thebens Ansehen hatte infolgedessen so gelitten, daß Athen durch Errichtung demokratischer Verfassungen in den böotischen Städten Thebens Einfluß wiederholt zu brechen und Böotien seiner eignen Hegemonie zu unterwerfen suchte. Nachdem durch den Sieg bei Önophyta 456 Böotien (außer T.) für den Athenischen Bund gewonnen worden war, schlugen die aus Böotien Verbannten im Verein mit den Orchomeniern ein athenisches Heer unter Tolmides 447 bei Koroneia, wodurch Böotien sich vom Athenischen Bund wieder losriß. Zugleich wurde die aristokratische Verfassung in T. wiederhergestellt. Im Peloponnesischen Kriege gehörte T. zu den erbittertsten Feinden Athens und versuchte 431 vergeblich, Platää zu erobern; erst 427 gelang ihm die Zerstörung dieser Stadt. 410 schloß es einen neuen Bund mit Sparta. Als nach dem Sturz der Demokratie in Athen die 30 Tyrannen eine Schreckensherrschaft daselbst führten, sammelten sich besonders in T. die athenischen Flüchtlinge und besetzten von hier aus 403 unter Thrasybulos die kleine Grenzfeste Phyle und später den Piräeus. Infolge dieses Umstandes und zugleich aus Eifersucht auf die wachsende Macht Spartas nahm T. wieder eine demokratische Verfassung an. Auch begann es 395 in Verbindung mit Korinth und Argos offenen Krieg, den Korinthischen (s. d.), gegen Sparta, ward aber 394 bei Koroneia geschlagen. Beim Ausbruch des olynthischen Kriegs (382) besetzte der spartanische Feldherr Phöbidas durch einen Handstreich die Burg von T., stellte die Herrschaft der Aristokratie wieder her und schickte die Häupter der demokratischen Partei in die Verbannung. Aber schon 379 kehrte Pelopidas (s. d.) mit den übrigen Flüchtlingen nach T. zurück, stürzte die Aristokraten und erzwang mit Hilfe eines athenischen Heers die Räumung der Burg. T. schloß hierauf ein Bündnis mit Athen, Pelopidas u. Epameinondas (s. d.) aber traten an die Spitze des Staats. Zwei Einfälle der Lakedämonier wies T. mit Hilfe der Athener ab, ja es unterwarf sich auch die übrigen böotischen Städte. Als die Thebaner 371 den allgemeinen Frieden nicht annahmen, weil die Spartaner die Auflösung des Böotischen Bundes forderten, begann der thebanische Krieg, in welchem T. durch des Epameinondas Sieg bei Leuktra (371) die Hegemonie errang. Es stürzte auch Spartas Macht auf dem Peloponnes, indem Epameinondas den Arkadischen Bund stiftete und die Unabhängigkeit Messeniens wiederherstellte; ja, es strebte sogar nach einer Seeherrschaft. Jetzt glaubte selbst Athen, Thebens Übermacht fürchten zu müssen, und trat auf Spartas Seite über, und nach des Epameinondas Sieg und Tod bei Mantineia (362) sank Thebens Macht wiederum, welche nur durch das Genie seiner beiden größten Staatsmänner so hoch gestiegen war. Neid und Haß trieben T. an, Phokis, das sich ihm nicht unterwerfen wollte, durch das Amphiktyonengericht wegen Verletzung des delphischen Tempelgebiets zu einer hohen Geldstrafe verurteilen und sich zum Vollstrecker bestellen zu lassen. Hierdurch erregte es den zweiten Heiligen Krieg (355-346), in dem es jedoch unterlag, worauf es Philipp von Makedonien zu Hilfe rief und ihm Gelegenheit gab, sich in Hellas festzusetzen. Erst nachdem die Amphiktyonen 339 den Lokrern von Amphissa den zweiten Heiligen Krieg erklärt und Philipp herbeigerufen hatten, ihr Urteil gegen die Lokrer zu vollstrecken, und dieser Elateia besetzte, griffen die Athener und Thebaner zu den Waffen gegen jenen, erlagen aber in der Schlacht bei Chäroneia 338. T. mußte darauf makedonische Besatzung in die Kadmeia aufnehmen. Nach Philipps Tod (336) empörte sich T. gegen Alexander (335) auf die falsche Nachricht von dessen Tod. Schon nach zwölf Tagen stand dieser vor der Stadt und zerstörte sie nach dem Beschluß des korinthischen Synedrions; 6000 Thebaner fielen, 30,000 wurden als Sklaven verkauft. Erst 315 wurde T. von Kassandros mit Hilfe der Athener wieder aufgebaut und stand nun unter makedonischer Herrschaft. Im achäischen Krieg 146 schloß es sich der Kriegserklärung der Achäer an die Römer an; nach Verlust der Schlachten bei Skarpheia und Leukopetra flohen aber die Einwohner Thebens nach dem Peloponnes, und T. verödete seitdem. Pausanias fand nur noch die Burg und einige Tempel vor. Im 2. Jahrh. n. Chr. war die untere Stadt schon gänzlich verschwunden. In neuerer Zeit hat man den Kabirentempel ausgegraben. Aus Thebens Gebiet stammte Pindar. An Stelle der phönikischen Burg Kadmeia erhob sich Thivä (s. d.).

Theben (ungar. Dévény), Markt und Dampfschiffstation im ungar. Komitat Preßburg, an der Mündung der March in die Donau und am Fuß des 513 m hohen Thebner Kogels, mit dem die Kleinen Karpathen am Donaudurchbruch (der Porta Hungarica) dem Leithagebirge gegenüber beginnen, hat (1881) 1655 meist deutsche Einwohner, die bedeutenden Handel mit Gemüse treiben. In der Nabe T.-Neudorf, Station der Wien-Preßburger Bahnlinie, an der March, über welche eine Brücke nach dem kaiserlichen Jagdschloß Schloßhof führt, mit 1711 meist slowak. Einwohnern.

Theca (lat., "Büchse"), die Frucht der Moose (s. d., S. 790); das Antherenfach der Staubgefäße (s. d.): bei Pilzen der Sporenschlauch (s. d.).

Thecosmilia, s. Korallen.

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Thé dansant - Thee.

Thé dansant (franz., spr. dangssang), ein Tanzfest, wobei Thee gereicht wird; ein kleiner Ball.

Thedinghausen, Flecken im Herzogtum Braunschweig, Kreis Braunschweig, Exklave in der preuß. Provinz Hannover, südöstlich von Bremen, aus den Orten Bürgerei, Hagen u. Westerwisch bestehend, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, Vieh- und Pferdehandel und (1885) 1697 Einw.

Thee (Theestrauch, Thea L.), Gattung aus der Familie der Ternströmiaceen, immergrüne Sträucher oder kleine Bäume mit abwechselnden, lederigen oder krautigen, glänzenden, meist gesägten, einfachen Blättern, achselständigen, einzeln oder in Büscheln stehenden, weißen oder rosenroten Blüten und holzigen, dreifächerigen, dreisamigen Kapseln. Die wenigen Arten dieser Gattung sind im obern Indien, in China und Japan heimisch. Die wichtigste Art der auf Ostasien beschränkten Gattung (mit welcher oft die Gattung Camellia vereinigt wird), T. chinensis Sims., ein 1-3, selbst 10 m hoher Strauch mit kahlen oder seidighaarigen Zweigen und Blattstielen, lanzettlichen, verkehrt eilanzettlichen oder länglich-eiförmigen, spitzen, selten stumpfen, gesägten, kahlen und glänzenden Blättern, ziemlich großen, weißen, rosa angehauchten, wohlriechenden Blüten, braunen, dreikantigen Kapseln und kirschkerngroßen, glänzend braunen Samen mit gelbem Nabel, variiert ungemein und hat im Lauf einer mehr als tausendjährigen Kultur zahlreiche Spielarten ergeben, welche ziemlich konstant sind (man unterscheidet T. viridis L. [s. Tafel "Genußmittelpflanzen"], mit langen, breit lanzettlichen, T. Bohea L., mit kürzern, mehr verkehrt eirunden, und T. stricta Hayne, mit schmälern Blättern als die vorige und straff aufrechten Ästen), und von denen die breitblätterige T. assamica Lindl., welche in Assam einen hohen Baum bildet, vielleicht die Stammpflanze ist. Genau kennt man das Vaterland des Thees nicht, doch ist dasselbe wahrscheinlich in Oberassam zu suchen. Durch die Kultur ist der Theestrauch bis 40° nördl. Br. verbreitet, namentlich in China und Japan, auch in Kotschinchina, Korea, Indien, Java, Sumatra und in Amerika. Der Theestrauch wird in China vorwiegend zwischen dem 25. und 31.° nördl. Br., besonders in den Provinzen Kuangtung, Fukian, Kiangsi, Tschikiang und Nganhui, gewöhnlich auf den südlichen Abhängen der Hügel kultiviert, wohl niemals aber in eignen, ihm allein gewidmeten Anlagen, sondern entweder in zerstreuten Büschen oder in Reihen zwischen den Feldern, nicht selten zwischen den Reisfeldern auf den mehr oder weniger hohen Dämmen. Man pflanzt den T. durch Samen fort, versetzt die etwa einjährigen Sämlinge in Reihen, 1,25 m voneinander entfernt, stutzt die Pflanze im dritten Jahr auf etwa 60 cm und sammelt die neuentwickelten Blätter vom April bis September. Die kaum aus den Knospen sich entwickelnden, seidenartig glänzenden, weißlichen Blättchen heißen nach der Zubereitung Theeblüten. Im siebenten Jahr schneidet man den Strauch nahe am Boden ab, damit die Stümpfe neue Schößlinge und zarte Blätter treiben. Die geernteten Blätter läßt man an der Luft auf Matten welken, knetet sie dann mit nackten Füßen in Kübeln zu einer Kugel und erhitzt sie unter beständigem Mischen auf einem seichten Bambusgeflecht über Kohlenfeuer, rollt sie, indem man die flach aufgelegten Hände im Kreis herumführt, und trocknet sie an der Luft. Dann folgt das Sieben, Sichten, Mischen und Auslesen, worauf man die Blätter noch einmal erhitzt, um alle während der Bearbeitung aufgenommene Feuchtigkeit zu beseitigen. Das Verfahren weicht übrigens in verschiedenen Gegenden sehr voneinander ab, und die auf eine oder die andre Weise provisorisch zubereiteten Blätter werden von den Agenten der Theehändler angekauft und in den größern Handelsplätzen weiter bearbeitet. Man erhitzt sie unter beständigem Mischen auf eisernen Pfannen über Aschenglut viermal abwechselnd mit Auslegen des erhitzten Thees an die Sonne oder in einen luftigen Raum, rollt dabei die Blätter noch besser ein, röstet sie und parfümiert sie für den europäischen Geschmack mit den Blüten von Camellia sasaqua, Aglaia odorata, Gardenia florida, Olea fragrans, Jasminium Sambac und paniculatum, Orangenblüten etc. Abgesehen von dem Einfluß der Beschaffenheit der ältern oder jüngern Blätter auf die Qualität des Thees verdanken die verschiedenen Handelssorten ihren Ursprung ausschließlich einer verschiedenen Zubereitungsweise, und der schwarze und grüne T. können von derselben Pflanze gewonnen werden, wenn man die Blätter so schnell trocknet, daß sie ihre Farbe behalten, oder so langsam, daß der Blattsaft einer Gärung unterliegt. Den grünen T. bereitet man in der Provinz Hupei aus den im Anfang der Saison gewonnenen feinhaarigen Kuppen der jüngsten Zweige. Der beste schwarze T., welcher vier Fünftel der Gesamtausfuhr nach England ausmacht, kommt aus dem Distrikt Kienningfu in der Provinz Fukian, von den berühmten Boheahügeln, und führt im Handel unzählige Namen, welche hauptsächlich auf die Lokalitäten, wo derselbe wächst, oder auf die Eigentümer des Grundstücks sich beziehen. Der beste grüne T. kommt aus Huangho und Santotschu und soll um so mehr an Güte abnehmen, aus je weiter nördlich von Kanton gelegenen Distrikten er auf den Markt gebracht wird. In Japan baut man den T. von 33-36° nördl. Br., und die bedeutendsten Theedistrikte befinden sich nordöstlich und östlich von Oasaka in den Provinzen Yamasiro und Ise sowie südlich vom Fusijama. Man pflanzt die Sträucher um die Felder meist zwischen Maulbeerbäumen; doch soll es auch eigne, vom Theestrauch allein eingenommene Pflanzungen geben. Die Kultur ist ähnlich der chinesischen. Die Blätter werden sofort in eisernen Pfannen über Kohlenfeuer unter fortwährendem Mischen mit den Händen etwa 40 Minuten gewärmt, dann auf Matten ausgebreitet, mit den Händen gerollt und getrocknet. Alle diese Operationen werden mehrmals wiederholt. Man behandelt die Blätter aber auch auf Sieben zunächst mit Wasserdampf und trocknet sie, nachdem sie braun geworden, auf einer Matte. Die getrockneten Blätter werden auf einem Rahmen mit Papierboden oder in eisernen Pfannen über Kohlenfeuer erhitzt und schließlich gerollt. Das Produkt ist ein grüner, starker, im ganzen aber geringerer T. als der chinesische. Man unterscheidet die Sorten hauptsächlich nach ihrer Qualität und nicht, wie in China, nach der Provenienz. Der japanische T. geht meist nach Nordamerika. Die Theegärten Indiens befinden sich in den Distrikten Assam, Dakka (Kachar, Silhet) und Dardschiling der Provinz Bengalen und in dem Kangradistrikt des Pandschab. Die Pflanzungen auf den Nilgiri (Präsidentschaft Madras) sowie jene in den Nordwestprovinzen und in Britisch-Birma sind von geringerer Bedeutung. Die Kultur ist im wesentlichen dieselbe wie in China, und man produziert auch hier zum weitaus größten Teil schwarze Thees, indem man die Blätter eine Woche welken läßt, zu faustgroßen Kugeln zusammenknetet und rollt und dann zwei Stunden unter feuchten Tüchern einer

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Thee (Physiologisches, Bereitung, Handelssorten).

Gärung überläßt, wobei sich die Blätter braun färben. Nun erhitzt man die wieder isolierten Blätter unter fleißigem Umrühren etwa drei Minuten in eisernen Pfannen, rollt sie von neuem, setzt sie in dünner Schicht einige Stunden der Luft aus und erhitzt sie dann, mit Matten bedeckt, etwa 24 Stunden, wobei sich das herrliche Aroma entwickelt. Zuletzt folgt das Auslesen und Sortieren. Nach der Qualität unterscheidet man Orange-Flowery-Pekoe, Flowery-Pekoe, Pekoe, Broken-Pekoe, Pekoe-Dust, Pekoe-Souchong, Souchong, Broken-Tea, Kongoe, Dust. Der indische T. zeichnet sich durch Stärke und durchdringendes Aroma aus und eignet sich deshalb vortrefflich zur Mischung mit schwächeren chinesischen T. Die Sorten führen dieselben Bezeichnungen wie die chinesischen. Der größte Teil geht nach England. Der anfangs sehr schlechte Javathee hat sich durch Verbesserungen in Kultur und Zubereitung sehr gehoben; er ist herber und stärker als Chinathee, ohne den Assamthee an Wohlgeschmack zu erreichen. Die in Amerika unternommenen Versuche der Theekultur in Brasilien und den Südstaaten der Union haben bis jetzt wenig Bedeutung.

[Physiologisches. Bereitung.] Die Theeblätter enthalten Kaffein (Thein), Gerbsäure, Boheasäure, Gallussäure, Oxalsäure, Quercitrin, ätherisches Öl, Eiweißstoff (wahrscheinlich Legumin) etc. Der Kaffeingehalt schwankt zwischen 0,8 und 5 oder 6,2 Proz., beträgt im Durchschnitt 2 Proz., kann aber durchaus nicht als Wertmesser des Thees gelten, da bei den grünen Sorten die wohlfeilern an Kaffein reicher sind als die im Handel höher geschätzten, während beim schwarzen T. das Umgekehrte stattfindet. Der grüne T. ist reicher an Gerbsäure als der schwarze, bei dessen Bereitung ein Teil derselben, wie es scheint durch den Gärungsprozeß, zerstört wird. Schwarzer T. enthält durchschnittlich 10 Proz. Gerbsäure, und die Abweichungen nach oben und unten überschreiten nicht 1,5 Proz. In den Aufguß gehen etwa 29-45 Proz. löslicher Stoffe über. Unter den mineralischen Bestandteilen des Thees ist Kali vorherrschend, welches auch größtenteils in den Auszug übergeht, während Kalk, Magnesia, Phosphorsäure in den extrahierten Blättern bleiben. Auffallend ist, daß der Auszug trotz der Gerbsäure Eisen enthält. Die wirksamen Bestandteile des Thees sind das Kaffein und das ätherische Öl, während die Gerbsäure, wenigstens bei nicht übermäßigem Genuß, kaum in Frage kommt; einen Nahrungswert besitzt der T. nicht. Er äußert seinen erregenden Einfluß auf das Nervensystem, zumal auf das Gehirn, indem er wach erhält. Die Kraft, erhaltene Eindrücke zu verarbeiten, wird durch den Genuß von T. gesteigert; man wird zu sinnigem Nachdenken gestimmt, und trotz einer gröern Lebhaftigkeit der Denkbewegungen läßt sich die Ausmerksamkeit von einem bestimmten Gegenstand fesseln. Es findet sich ein Gefühl von Wohlbehagen und Munterkeit ein, und die produktive Thätigkeit des Gehirns gewinnt einen Schwung, der bei der größern Sammlung und der bestimmter begrenzten Aufmerksamkeit nicht leicht in Gedankenjagd ausartet. Wird der T. im Übermaß getrunken, so stellt sich erhöhte Reizung des Nervensystems ein, die sich durch Schlaflosigkeit, allgemeines Gefühl der Unruhe und Zittern der Glieder auszeichnet. Es können selbst krampfhafte Zufälle, erschwertes Atmen, ein Gefühl von Angst in der Präkordialgegend entstehen. Da das ätherische Öl des Thees, in größerer Menge genossen, narkotisch wirkt, so erklärt sich daraus die Eingenommenheit des Kopfes, die sich nach übermäßigem Theetrinken anfangs als Schwindel, dann als Betäubung zu erkennen gibt. Diese nachteiligen Wirkungen hat der grüne T. in viel stärkerm Maß als der schwarze. Der Chinese und Japaner trinkt den Aufguß des Theeblattes ohne jede Beimengung; in Europa setzt man dem T. wohl allgemein Zucker zu, häufig genießt man ihn auch mit Milch und verdeckt das Aroma oft vollständig durch Vanille, Rum etc. Asiatische Völker bereiten den T. auch mit Salz, Milch, Butter, Mehl sowie mit Betel, Soda, Gewürzen, und hier und da werden auch die erschöpften Blätter gegessen. Zur Bereitung des Thees (einen Theelöffel voll T. auf die Person und einen auf die Kanne) spült man die (metallene) Kanne mit heißem Wasser aus, schüttet den T. hinein, gießt wenig kochendes Wasser hinzu, füllt nach 3 Minuten die Kanne mit siedendem Wasser und läßt noch 5 Minuten ziehen. Nach einer andern beliebten Methode übergießt man den T. nur mit 1/5-¼ des erforderlichen siedenden Wassers, läßt 5 Minuten ziehen, gießt dann ab und füllt nun die Tasse, indem man etwa ¼ Extrakt und ¾ heißes Wasser hineingießt. Die Hauptsache bleibt immer, daß man gutes reines Wasser in einem Gefäß erhitzt, welches niemals zu andern Zwecken benutzt wird.

[Handelssorten.] Die bei uns gebräuchlichsten Handelssorten des chinesischen schwarzen Thees sind: Pekoe ("Milchhaar"), die feinste Sorte, besteht aus zarten, jungen, schwarzbraunen Blättern, die besonders gegen die Spitze zu mit weißem, seidenartigem Filz (Blüte) bedeckt sind. Der Aufguß ist hell, goldgelb. Kongoe (d. h. T., auf welchen Arbeit verwendet wurde), auch Kamp-hu genannt, kurze, dünne, schwärzlichgraue Blätter, liefert einen hellen Aufguß von angenehmem Geruch; diese Sorte bildet zwei Drittel der gesamten englischen Einfuhr. Souchong (kleine Sorte), bräunliche, etwas ins Violette spielende, große Blätter von Melonengeruch, gibt einen klaren, duftenden Aufguß von süßlichem Geschmack. Diese Sorte bildet namentlich den Karawanenthee, welcher auf dem Landweg nach Rußland importiert ward und bei diesem Transport viel weniger leidet als der T., welcher den Seeweg nimmt. Gegenwärtig hat die Absendung von Theekarawanen fast ganz aufgehört, und was von Nishnij Nowgorod unter dem Namen Karawanenthee versandt wird, hat meist vorher den Weg über London und Königsberg dorthin genommen. Pouchong, breite, lange, stark gedrehte Blätter mit vielen Blattstielen, gibt einen grüngelblichen Aufguß von ambraartigem Geruch. Kaperthee, Kaper-Kongoe, die geringste schwarze Theesorte, wegen ihrer Ähnlichkeit mit Kapern so genannt, bildet einen sehr bedeutenden Teil der europäischen Einfuhr. Von grünem T. unterscheidet man: Imperial- oder Kaiserthee (Kugelthee), kugelförmig zusammengerollte Blätter, großkörnig, bläulichgrün; Gunpowder (Schießpulver, Perlthee), kleinkugelig, dunkler; Haysan, seitlich zusammengerollte Blätter, grün, ins Bläuliche fallend; Younghaysan, Tonkay und Haysanchin. Eine eigentümliche Ware ist der Ziegelthee (Backsteinthee), welcher aus Theeblättern und -Stengeln, Abfällen aller Art von der Bereitung des Thees dargestellt wird, indem man dieselben dämpft, zusammenpreßt, dabei in Form von Ziegeln bringt und trocknet. Dieser nur in China bereitete T. dient den Nomadenvölkern Rußlands, den Kalmücken, Kirgisen, Baschkiren etc., als gewöhnliches und sehr beliebtes Nahrungsmittel, welches mit Milch und Hammelfett gekocht wird. In Nordasien gelten diese Ziegel auch als Handelsmünze.

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Thee, mongolischer - Thefillin.

Der T. unterliegt manchen Verfälschungen, besonders in Kanton (daher die Handelsbezeichnung Canton made im Gegensatz zu Country), aber auch in Europa. Sehr gebräuchlich ist die Färbung des grünen Thees mit Berliner Blau, Indigo, Kurkuma und das Bestäuben (Glasieren) mit Gips; in England verfälscht man den T. mit Blättern von Schlehdorn, Ulme, Esche, Weidenröschen etc.; auch wird sehr häufig schon einmal benutzter T. mit Katechu etc. wieder aufgefrischt. Bis zu Beginn der 70er Jahre lieferte China fast ausschließlich T. für den Weltmarkt, dann begann Japan sich zu beteiligen, und bald nachher trat Ostindien mit so bedeutenden Quantitäten auf, daß die monopolistische Stellung Chinas wesentlich geschwächt ist. China exportierte 1885: 1,618,404 Pikuls schwarzen, 214,693 grünen T., 280,112 Ziegelthee und 15,505 Staubthee, im ganzen 2,128,714 Pikuls = 128,7 Mill. kg im Wert von 173 Mill. Mk. Dazu kommt die chinesische Theeausfuhr nach Sibirien und nach der Mongolei, so daß sich die Gesamtausfuhr für 1885 auf 138,7 Mill. kg berechnet. Man nimmt an, daß die Ausfuhr etwa ein Drittel der Produktion beträgt. Außerdem lieferten für den Weltmarkt: Britisch-Ostindien 31,2, Japan 16 (?), Java und Madura 2,4 (?), Ceylon und andre Gebiete 1,8 Mill. kg. Der Gesamtexport beträgt 190,1 Mill. kg gegen 120 im J. 1872. Der Theeverbrauch beträgt in einem Jahr pro Kopf der Bevölkerung in:

Austral. Kolonien 3,47 kg Portugal . . 0,05 kg

Großbritannien 2,16 - Schweiz . . . 0,05 -

Kanada . . . 1,67 - Norwegen . . 0,o4 -

Vereinigte Staate. 0,59 - Deutschland . 0,03 -

Niederlande 0,48 - Schweden . . 0,01 -

Dänemark . . 0,17 - Österreich . . 0,01 -

Europ. Rußland 0,17 - Belgien . . . 0,01 -

[Kulturgeschichtliches.] Der Gebrauch des Thees ist in China sehr alt. Ein buddhistischer Heiliger soll im frommen Eifer das Gelübde gethan haben, sich des Schlafs zu enthalten. Da ihn derselbe endlich doch überwältigte, so schnitt er zur Sühne seine Augenlider ab und warf sie auf die Erde; aus ihnen erwuchs die schlasverscheuchende Theestaude. Dieser Heilige lebte angeblich im 6. Jahrh. Doch ist bekannt, daß der T. schon früher medizinisch benutzt wurde. Am Ende des 8. Jahrh. war derselbe in China schon besteuert, und um diese Zeit haben chinesische Bonzen den Strauch nach Japan verpflanzt, wo er bald ebenso wie in China verbreitet wurde. Hier trinkt man ihn allgemein, wenn auch der Ärmere sich mit Surrogaten behilft, die auf dem Feld wild wachsen. Wie es scheint, hat der Mangel an gutem Trinkwasser die Sitte des Theetrinkens sehr befördert; doch hat der T. jedenfalls auch in seiner Eigenschaft als narkotisches Genußmittel sich zahlreiche Freunde erworben. In Asien verbreitete sich die Sitte des Theetrinkens im 15. Jahrh.; die Araber, welche seit dem 9. Jahrh. mit China Handel trieben, beschrieben den T. unter dem Namen Scha, entsprechend dem chinesischen Namen Tscha, welcher in Fukian Tiä (daher T.) lautet. Europa erhielt die erste Nachricht vom T. 1559 durch die Portugiesen und Holländer, Maffei erwähnt ihn 1588 in seiner "Historia indica", und 1610 brachten die Holländer in Bantam von chinesischen Kaufleuten erstandenen T. auf den Markt. 1635 soll T. zuerst nach Paris gekommen sein; drei Jahre später erhielt ihn Rußland auf dem Landweg, indem russische Gesandte ihn als Geschenk für den Zaren mitbrachten. 1650 wurde der T. in England bekannt, und zehn Jahre später trank man ihn als kostbares Getränk in Londoner Kaffeehäusern. 1665 brachte Lord Arlington den ersten T. direkt aus Ostindien, während die frühern Sendungen durch Holländer und andre Vermittler geschehen waren. Die Sitte des Theetrinkens machte indes zunächst langsame Fortschritte, zumal bald viele Feinde derselben auftraten, welche den Genuß des Thees wie den des Kaffee bekämpften. Dagegen rühmten wieder andre (Molinari 1672, Albinus 1684, Pechlin 1684, Blankaart 1686, Blegna 1697) den T. auf das lebhafteste, und besonders Bontekoe, welcher Leibarzt des Kurfürsten von Brandenburg war, veröffentlichte 1667 eine Lobrede auf den T. voll arger Übertreibungen. Er machte den T. zuerst in Deutschland bekannt. Solange der T. Monopol einzelner Kompanien war und hoch besteuert wurde, blieb der Verbrauch beschränkt. Noch 1820 erhielten Europa und Nordamerika nur 32 Mill. Pfd., wovon drei Viertel auf England entfielen. Seitdem hat sich durch Verminderung der Zölle und Aufhebung des Monopols der Ostindischen Kompanie der Verbrauch ungemein vergrößert. Wirklich zur Volkssitte ist das Theetrinken aber nur bei Holländern und Engländern geworden, durch welche es auch nach den Kolonien verpflanzt wurde. Sonst ist der Theekonsum nur noch in Rußland, Skandinavien und den Küstengegenden des mittlern Europa von Bedeutung, in den übrigen Ländern hat die Sitte nur in den Städten und den höhern Schichten der Bevölkerung Eingang gefunden. 1825 entdeckte Bruce die Theepflanze in Assam, und zehn Jahre später wurden die ersten Regierungspflanzungen gegründet und diese 1839 an die Assam Tea Company abgetreten. 1851 betrug der indische Export nur 262,839 Pfd., seit 1861 aber nahm derselbe einen rapiden Aufschwung. Auf Java datiert die Theekultur seit 1825, und elf Jahre später kam der erste Javathee nach Amsterdam. In Brasilien begann man 1812 mit dem Theebau, ohne indes besonders gute Resultate zu erzielen; die Versuche in Nordamerika begannen etwa 1848 in Südcarolina und Tennessee. In Europa wurde die erste Theestaude 1658 von Jonquet in Paris gepflanzt, in Südeuropa hält sie im Freien aus, und in Hohenheim bei Stuttgart überstand sie sogar den harten Winter von 1784. In Frankreich, Portugal, Kleinasien, auf St. Helena, Bourton und am Kap ist der Theebau ohne wesentlichen Erfolg versucht worden. Vgl. Jacobson, Handbuch der Theekultur (in holländ. Sprache, Batav. 1844); Bruce, Report on the manufacture of teas (Lond. 1849); Ball, Cultivation and manufacture of tea in China (das. 1848); Fries, Darstellung der Theekultur und des Theehandels in China (Wien 1878); Money, Cultivation and manufacture of tea (4. Aufl., Lond. 1888); Schwarzkopf, Der T., Bestandteile etc. (Halle 1881); Feistmantel, Die Theekultur in Britisch-Ostindien (Prag 1888).

Thee, mongolischer, s. Saxifraga.

Thee von New Jersey, Ceanothus.

Theebaum, weißer, s. Melaleuca.

Theeheide, s. Gaultheria.

Theekraut, mexikanisches, s. Chenopodium.

Theemaschine, s. Samowar.

Theer, s. Teer.

Thefillin (hebr., Gebetriemen, griech. Phylakterien, nach Luthers Übersetzung, Matth. 23,5, "Denkzettel"), bei den Juden Pergamentstreifen, mit Bibelsprüchen (5. Mos. 6,4-9; 11,13-21; 2. Mos. 13,1-16) beschrieben, die, in zwei würfelförmige Kapseln gelegt, beim werktägigen Morgengebet an die Stirn und an den linken Arm dem Herzen gegenüber mit ledernen Riemen gebunden werden, um anzudeuten, daß man Gedanken und Herz auf Gott

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Theïn - Thekla.

richten müsse. Eine Mißdeutung des ursprünglichen Sinnes war es, wenn man sie für Amulette hielt (daher griechisch Phylakterien).

Theïn, s. v. w. Kaffein.

Theiner, Augustin, gelehrter kathol. Kanonist, geb. 11. April 1804 zu Breslau, studierte daselbst Theologie, dann Philosophie und die Rechte, gab mit seinem Bruder Anton (s. unten) eine oppositionelle Schrift: "Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen" (Altenb. 1828, 2 Bde.; 2. Ausg. 1845), heraus, unternahm seit 1830 eine wissenschaftliche Reise nach Wien, London und Paris und ging 1833 nach Rom, wo er für den Ultramontanismus gewonnen ward. Seit 1855 war er Präfekt des vatikanischen Archivs. Nicht bloß hat er des Baronius "Annales ecclesiastici" neu herausgegeben (Bar le Duc 1864 ff.) und fortgesetzt (Rom 1856-57, 3 Bde.), sondern daneben auch eine große Anzahl selbständiger Schriften verfaßt, namentlich kirchenrechtlichen und kirchengeschichtlichen Inhalts, z. B.: "Die neuesten Zustände der katholischen Kirche in Polen und Rußland" (Augsb. 1841); "Geschichte der Zurückkehr der regierenden Häuser von Braunschweig und Sachsen in den Schoß der katholischen Kirche" (Einsiedeln 1843); "Die Staatskirche Rußlands im Jahr 1839" (anonym, Schaffh. 1844); "Zustände der katholischen Kirche in Schlesien von 1740 bis 1758" (Regensb. 1852, 2 Bde.); "Über Ivos vermeintiiches Dekret" (Mainz 1852); "Geschichte des Pontifikats Clemens' XIV." (Leipz. u. Par. 1853, 2 Bde.); "Documents inédits relatifs aux affaires religieuses de la France" (Par. 1858, 2 Bde.); "Monumenta vetera historica Hungariam sacram illustrantia" (Rom 1859-60, 2 Bde.; "Vetera monumenta Poloniae et Lithuaniae gentiumque finitimarum historiam illustrantia" (das. 1860-64, 4 Bde.); "Codex diplomaticus dominii temporalis S. Sedis" (das. 1861-62, 3 Bde.); "Vetera monumenta Slavorum meridionalium historiam illustrantia" (Bd. 1, das. 1863); "Vetera monumenta Hibernorum et Scotorum historiam illustrantia" (das. 1864); "La souveraineté temporelle du Saint-Siège, jugée par les conciles généraux de Lyon, en 1245, de Constance, en 1414" (Bar le Duc 1867). Diese Urkundenwerke wurden in einer von ihm eigens eingerichteten Offizin im Vatikan gedruckt. Während des vatikanischen Konzils wurde T. gemaßregelt und ihm das Archivariat abgenommen, weil er beschuldigt war, verschiedene Aktenstücke den deutsch-österreichischen Oppositionsbischöfen in die Hand gespielt zu haben. Der eigentliche Thäter war Friedrich in München. Während letzterer in Theiners Auftrag anfing, die von diesem in der vatikanischen Bibliothek vorbereiteten "Acta genuina concilii Tridentini" (Agram u. Leipz. 1874, 2 Bde.) herauszugeben, starb T. 10. Aug. 1874. Vgl. Gisiger, Vater T. und die Jesuiten (Mannh. 1875). - Sein älterer Bruder, Joh. Anton, geb. 1799 zu Breslau, war seit 1824 außerordentlicher Professor des Kirchenrechts daselbst; die in dem mit seinem Bruder gemeinschaftlich herausgegebenen Buch über den Cölibat hervortretende liberale Tendenz sowie seine Teilnahme an den damaligen Reformbestrebungen des Klerus bewogen die Regierung, ihm die Vorlesungen über Kirchenrecht zu untersagen; er wurde daher 1830 Pfarrer, trat 1845 zum Deutschkatholizismus über und starb 1860 als Sekretär der Universitätsbibliothek in Breslau. Er schrieb unter anderm: "Das Seligkeitsdogma der katholischen Kirche" (Bresl. 1847).

Theiothermin, s. Baregin.

Theïsmus (griech.), im Gegensatz zum Atheismus allgemeine Bezeichnung für jegliche Art von Gottesglauben; insbesondere in neuerer Zeit die Lehre von einem persönlichen, über die Welt ebenso erhabenen wie lebendig ihr nahen und sie durchweg bedingenden Gott, im Gegensatz nicht bloß zum Pantheismus (s. d.), sondern auch zum Deismus (s. d.).

Theiß (ungar. Tisza, lat. als Grenzfluß Daciens Tissus, Tisia oder Pathissus), der größte Nebenfluß der Donau, der zweitgrößte Fluß Ungarns und der fischreichste Europas, entsteht im Komitat Marmaros auf den Waldkarpathen aus der Vereinigung der Schwarzen und Weißen T., fließt anfangs südlich durch enge Gebirgspässe und wendet sich nach Aufnahme des Vissó, der Iza, des Taraczko, Talabor und Nagyág west- und nordwestwärts über Sziget nach Huszt. Bis hierher ist die T. rein und schnell fließend, in der Ebene aber schleichend und schlammig. Nachdem sie sodann rechts die Borsova, links die Thur und die Szamos aufgenommen, fließt sie von Csap über Tokay bis Szolnok gegen SW., dort wendet sie sich südwärts, welche Richtung sie, Csongrád und Szegedin berührend, bis zur Mündung in die Donau (unterhalb Neusatz), mit der sie in einer durchschnittlichen Entfernung von 90 km parallel läuft, beibehält. Die Ufer sind meist flach und infolge der häufigen Überschwemmungen sumpfig. Ihre Breite beträgt 160-320 m. Schiffbar wird sie bei Sziget, für größere Fahrzeuge an der Hernádmündung, für Dampfboote, welche früher bis Tokay verkehrten, erst bei Szolnok, von wo an sie ebenso große Lasten wie die Donau trägt. Der Bácser oder Franzenskanal verbindet sie mit der Donau, der Begakanal mit der Temes. Seit längerer Zeit hat man neben der Theißregulierung auch die Trockenlegung der Ufermoräste und die Sicherung des Ufergebiets vor Überschwemmung begonnen, durch die unvollständige Durchführung aber anderseits die tiefern Gegenden geschädigt. Der Lauf der T. beträgt mit den Krümmungen 1308 km, der direkte Abstand von der Quelle nur 467 km; ihr Gebiet umfaßt 146,500 qkm (2660 QM.). Der Lauf ist des sehr geringen Gefälles halber ziemlich träge; von Namény bis zur Mündung sinkt der Wasserspiegel nur um 40 m. Überschwemmungen der doppelt schnellern Donau stauen die T. weit aufwärts. Nebenflüsse derselben sind rechts: Taraczko, Talabor, Nagyág, Borsova, Bodrog, Sajó (Hernád), Eger, Zagyva; links: Vissó, Iza, Szamos, Körös, Maros, Bega. Vgl. Hieronymi, Die Theißregulierung (Budapest 1888).

Theißblüte, s. Eintagsfliegen.

Theißholz (ungar. Tiszolcz), Markt im ungar. Komitat Gömör und Station der Ungarischen Staatsbahn, mit (1881) 3511 slowakischen und ungar. Einwohnern, Schafzucht, Käsebereitung, Eisensteinbergbau, bedeutendem Eisenwerk (Produktion 130,000 metr. Ztr.), Papierfabrik und einem Sauerbrunnen.

Thekaspore (griech.), s. Sporen und Pilze, S. 66.

Thekla, die heilige, nach der Legende eine vornehme Jungfrau aus Ikonion, die vom Apostel Paulus zum Christentum bekehrt ward und ihm nach Antiochia folgte. Da sie das Gelübde eines ehelosen Lebens gethan, hatte sie von seiten ihrer Familie und ihres Bräutigams heftige Verfolgungen zu erdulden und wurde endlich, von letzterm als Christin denunziert, im Zirkus den winden Tieren vorgeworfen, von diesen aber, wie ein späteres Mal von den Flammen, denen man sie preisgab, verschont. Nach Paulus' Tod lebte sie bis ins hohe Alter in einer Höhle bei Seleukia. Ihr Tag ist der 23. September. T. ist die

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Thekodonten - Themistokles.

Heldin eines christlichen Romans aus dem 2. Jahrh., betitelt: "Die Akten des Paulus und der T.", der im wesentlichen noch erhalten ist und von Tischendors in den "Acta apostolorum apocrypha" (Leipz. 1851) herausgegeben wurde. Eine poetische Nachbildung der Legende verdankt man P. Heyse. Vgl. Schlau, Die Akten des Paulus und der T., und die ältere Theklalegende (Leipz. 1877); Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten, Bd. 2 (Braunschw. 1884-86).

Thekodonten, s. Reptilien, S. 738.

Thelemarken, Landschaft im norweg. Stift Christianssand (Amt Bratsberg), wird von einer Gebirgsmasse ausgefüllt, die im Gausta (1884 m) ihren höchsten Gipfel hat. Die Gegend ist reich an großen Seen, die ihr Wasser größtenteils dem Norsjö abgeben, der wieder durch die 10 km lange Skienselv seinen Abfluß zum Meer hat. Am Gausta ist das großartige Westfjorddal mit dem Wasserfall Rjukan bemerkenswert. Vornehmlich das nördliche T. wird seiner Naturschönheiten halber viel von Touristen besucht. Die Bewohner sind ein kräftiger Schlag, rauh und keck, aber gutmütig und höflich; sie haben in ihren Sitten noch viel Originelles. Ihre Tracht besteht aus einer kurzen, grauen, grün besetzten Jacke, einem grauen, kurzen Beinkleid und Schuhschnallen; dazu tragen sie langes Haar und stets ein Messer an der Hüfte. In den hohen Teilen des Landes herrscht Armut, aber überall findet sich eine gewisse Bildung. Zu den größern Gehöften gehört ein sogen. Staatshaus (Stue), das für die Gäste bestimmt tst, während der Besitzer in seinem Vorratshaus (Stolpebod, Stabur) wohnt, das auf schlanken geschnitzten Säulen ruht und ungeheure Eß- und Kleiderschränke enthält. Der Wohlstand wird durch die Zahl der Pelz- und Wolldecken bestimmt. Ein andres Haus ist Schlaf- und Wohnstätte der Familie, und darüber sind die Kammern für das Gesinde. Abgesondert steht auch das Feuerhaus oder die Küche.

Thema (griech.), das Gesetzte, Aufgestellte; daher in der Rhetorik der einer jeden stilistischen Darstellung zu Grunde liegende Hauptgedanke; in der Musik derjenige Gedanke (Satz) in einem Tonstück, der dem ganzen Stück oder doch einer größern Abteilung desselben zu Grunde gelegt ist, daher als Hauptgedanke am meisten wiederholt und in der Art weiter ausgeführt ist, daß er in den verschiedensten Wendungen und Veränderungen und in verschiedenen Tonarten wiederkehrt. Bei den kontrapunktischen Formen (Fuge etc.) wird das T. auch Subjekt genannt. Vgl. Kompositionslehre und Fuge.

Themar, Stadt im sachsenmeining. Kreis Hildburghausen, an der Werra, Knotenpunkt der Linien Eisenach-Lichtenfels und T.-Schleusingen der Werraeisenbahn, hat eine evang. Kirche, eine Ringmauer mit Türmen, ein Amtsgericht, Holzhandel, 2 Dampfziegeleien, eine Dampfmahlmühle, Korbwarenfabrikation und (1885) 1694 Einw. Dabei die Ruine Osterburg und das Nadelöhr, ein Felsenriff, welches die Werra durchbrochen hat.

Themis, in der griech. Mythologie eine der Titaniden, Tochter des Uranos und der Gäa, war eine Zeitlang Inhaberin des delphischen Orakels, überließ dasselbe aber dem Apollon, als Zeus sie zu seiner zweiten Gemahlin erhob. Sie gebar demselben die Horen und die Mören (Parzen). In weiterer Ausbildung erscheint sie als Personifikation der gesetzlichen Ordnung. Dargestellt wird sie auf Münzen mit Füllhorn und Wage, auch als Göttin der Gerechtigkeit, entsprechend der Justitia. Vgl. Ahrens, Über die Göttin T. (Hannov. 1862 u. 1864).

Themistios, mit dem Beinamen Euphrades ("Wohlredner"), peripatetischer Philosoph und Rhetor aus Paphlagonien, lehrte in Nikomedia, späterhin in Konstantinopel, wo er 355 Senator, 362 Stadtpräfekt und, obgleich Heide, von Kaiser Theodosius zum Erzieher seines Sohns Arcadius bestellt wurde; starb zwischen 387 und 390. Außer einem Kommentar zu einigen Schriften des Aristoteles (hrsg. von Spengel, Leipz. 1866; von Wallies in den "Commentaria in Aristotelem graeca" der Berliner Akademie, Bd. 23, Berl. 1884) besitzen wir von ihm 33 Reden, die unter andern Dindorf (das. 1874) herausgab.

Themisto, nach griech. Mythus Tochter des Lapithenkönigs Hypseus und dritte Gemahlin des Athamas (s. d.), tötete aus Versehen ihre eignen Kinder und dann, nachdem sie ihren Irrtum erkannt, sich selbst.

Themistokles, berühmter athenischer Feldherr und Staatsmann, geboren um 527 v. Chr. zu Athen, Sohn des Neokles aus dem altattischen Stamm der Lykomiden, aber einer fremden (thrakischen oder karischen) Mutter, weswegen er nicht vollbürtig war, zeigte schon als Knabe hellen Verstand, treffende Urteilskraft, großes Selbstbewußtsein und hochstrebenden Geist, aber auch ein leidenschaftliches, trotziges Gemüt. Er erlangte durch seine geistige überlegenheit und Kühnheit bald Einfluß bei der Bürgerschaft und war bemüht, sie für die Schaffung einer herrschenden Seemacht zu gewinnen. 493 zum Archonten erwählt, bewirkte er die Anlage des neuen Hafens im Piräeus, ermutigte 490 die Athener zum Widerstand gegen die persische Übermacht und kämpfte als einer der zehn Strategen in der Schlacht bei Marathon. Da er aber die Rückkehr der Perser mit verstärkter Macht voraussah, welcher die Athener nur mit einer Flotte erfolgreich entgegentreten könnten, so bewirkte er den Beschluß, die Einkünfte der Silberbergwerke von Laurion zur Erbauung von 100 neuen Schiffen zu verwenden, und setzte das Gesetz durch, daß die Flotte einen jährlichen Zuwachs von 20 neuen Trieren erhalten sollte. Da Aristeides diese Beschlüsse für verderblich ansah und ihrer Ausführung entgegenwirkte, wurde er 483 auf T.' Betrieb durch den Ostrakismos verbannt, und nun hatte T. allein die Herrschaft in Athen und benutzte sie zur Vermehrung der Seerüstungen, so daß bald 200 Trieren fertig waren. An der Spitze derselben nahm er an den Kämpfen von 480 (s. Perserkriege) teil, und ihm war es zu danken, daß die griechische Flotte bei Artemision aushielt und die ersten Kämpfe wagte; er bewog die Athener, ihre ganze Existenz der neuen Flotte anzuvertrauen, und führte endlich durch Ausdauer und List den Kampf bei Salamis herbei, der mit dem glänzenden Sieg der Griechen endete. Hierauf zwang er die Kykladen zur Unterwerfung und zur Zahlung ansehnlicher Bußgelder. Mißgunst und Eifersucht bewirkten, daß T. nicht nur den gebührenden ersten Siegespreis nicht erhielt, sondern auch für 479 nicht zum Feldherrn ernannt wurde. Athen wurde hierauf 478 unter seiner Leitung wieder aufgebaut und befestigt. Den Einspruch Spartas gegen den Bau von Mauern beseitigte er durch List, zog sich aber dadurch dessen Haß zu. Auch der Piräeus wurde von neuem in großem Maßstab befestigt, der Hafenbau vollendet und durch Beförderung der Einwanderung die junge Stadt bevölkert. Trotzdem verlor T. bald sein Ansehen und seinen Einfluß, weil er nicht frei von Eitelkeit, willkürlicher Gewalttätigkeit und Bestechlichkeit war und deshalb von Aristeides verdunkelt wurde; da er diesem entgegenwirkte und das gute

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Themse - Thenenet.

Einvernehmen mit Sparta störte, wurde er 471 durch das Scherbengericht verbannt. Er begab sich nach Argos, mußte aber, als seine Feinde, die Spartaner, ihn der Teilnahme am Hochverrat des Pausanias beschuldigten und in Athen seine Verurteilung und Verfolgung durchsetzten, 466 von da flüchten. Er ging nun über Kerkyra zu dem Molosserkönig Admetos und, als die Spartaner auch von diesem seine Auslieferung verlangten, 465 über Ephesos nach Susa zu dem Perserkönig Artaxerxes, der ihm die Einkünfte dreier Städie überwies: Magnesia zum Brot, Lampsakos zum Wein, Myus für die Zukost. In Magnesia lebte T. längere Zeit als persischer Satrap in fürstlichem Prunk. Als er gerade nach Ausbruch des ägyptischen Aufstandes eine persische Flotte gegen seine Heimat führen sollte, starb er plötzlich (um 460), vielleicht freiwillig durch Gift. Seine Freunde brachten seine Gebeine heimlich nach Attika und setzten sie beim Vorgebirge Alkimos bei. Zu Magnesia zeigte man nachmals sein Grabmal und auf dem Markte daselbst seine Bildsäule. Die Briefe, welche wir unter seinem Namen besitzen, sind unecht, wie Bentley ("Abhandlungen", deutsch von Ribbeck, Leipz. 1867) nachgewiesen hat. Sein Leben beschrieben Cornelius Nepos und Plutarch. Vgl. Finck, De Themistoclis Neoclis etc. aetate (Götting. 1849); Bauer, Themistokles (Merseb. 1881).

Themse (engl. Thames, franz. Tamise, im Altertum Tamesis oder Tamesa), der wichtigste Fluß Englands, entspringt als Churn in den Cotswoldhügeln im S. von Cheltenham, wird durch den der Quelle Thames Head (115 m ü. M.) entströmenden Bach verstärkt und vereinigt sich nach einem Laufe von 32 km oberhalb Cricklade mit dem aus W. kommenden kleinern Quellfluß, der eigentlichen T. oder Isis. Der Fluß stießt nun östlich an Lechdale vorbei, wo er für Boote schiffbar wird, nimmt bei Oxford den von N. kommenden Cherwell auf, verstärkt sich weiter unterhalb durch Thame (bei Dorchester), Kennet (bei Reading), Loddon, Colne, Wey, Mole und Brent sowie unterhalb London durch Lea (s. d.), Ravensbourne, Darent und Medway (s. d.), berührt außer den oben genannten Orten noch Maidenhead (am malerischten Teil des Flusses), Windsor, Kingston und unterhalb London Greenwich, Woolwich, Gravesend und Sheerneß und fällt unterhalb letzterer Stadt in die Nordsee. Mitten in ihrer 7 km breiten Mündung, bei der "Nore" genannten Sandbank, liegt ein weltberühmtes Leuchtschiff. Das Flußgebiet der T. umfaßt 15,371 qkm (279 QM.) und gehört 14 Grafschaften an. Die direkte Entfernung der Mündung des Flusses von der Quelle beträgt 201 km, der Stromlauf 346 km. Der unterhalb der Londonbrücke gelegene Teil des Flusses, der eigentliche Hafen Londons, heißt Pool, aber gesetzlich erstreckt sich der Hafen bis zu einer Linie, welche man sich vom Nord Foreland bis zum Harwich Naze gezogen denkt. Die Breite des Flusses beträgt bei Gravesend noch 731 m, bei der Londonbrücke 244 m. Die Tiefe bis dahin ist nirgends unter 3,6 m. Die Flut steigt alle 12 Stunden 4-6 m senkrechter Höhe mit einer Schnelligkeit von 3-5 km auf die Stunde, so daß Schiffe bis zu 800 Ton. in die Catherinedocks dicht bei der Londonbrücke einlaufen können. Die Flut macht sich bis Teddington, 29 km oberhalb der Londonbrücke, bemerkbar, wo die erste Schleuse ihrem weitern Fortschreiten ein Ziel setzt. Nur selten bildet sich Eis im Fluß; wohl aber überschwemmt derselbe häufig seine Ufer, die unterhalb London meilenweit durch Deiche geschützt sind, da die dortigen Marschen bei hoher Flut 1 m unter dem Wasserspiegel liegen. In Beziehung auf den Handel ist die T. einer der wichtigsten Flüsse der Welt, indem an ihren Ufern London, die größte Handelsstadt der Welt, liegt. Ihre Wichtigkeit wird erhöht durch zahlreiche Kanäle, welche die T. mit fast allen Teilen Englands verbinden. Die wichtigsten unter ihnen sind: der Thames- und Severnkanal, welcher Lechdale an der obern T. mit dem Severn und der englischen Westküste verbindet; der Oxfordkanal, der von Oxford ins mittlere England führt; der Wilts- und Berkskanal; der Grand Junctionkanal (s. d.), mit mehreren Zweigen, welcher London mit dem innern England verbindet. Gegen feindliche Angriffe ist die übrigens wegen der Sandbänke sehr schwierige Themseeinfahrt durch in neuester Zeit sehr verstärkte Befestigungen geschützt. An der Mündung des Medway in die T. liegt Sheerneß, den Zugang zum Kriegshafen Chatham versperrend. Weiter oberhalb verteidigen vier große Forts (bei Cliffe Creek, Coalhouse Point, Shorne Creek und Tilburn) den Zugang zu Gravesend. Vgl. "The royal river T." (Lond. 1886).

Themsetunnel, ein Tunnel, welcher 2,1 km unterhalb der Londonbrücke unter der Themse weg führt und die Verbindung zwischen den beiden Ufern herzustellen bezweckt, ohne doch dem Schiffsverkehr auf dem Fluß hinderlich zu sein. Die 1798 (von R. Dodd) und 1805-1808 gemachten Versuche schlugen fehl, und erst Marc Isambard Brunel (s. d.) gelang es, durch Erfindung des Teredobohrers das Werk 1825 mit Aussicht auf Erfolg wieder in Angriff zu nehmen. Durch mehrere Unglücksfälle unterbrochen, wurde dasselbe 25. März 1843 von Page vollendet. Der Tunnel ist 361,8 m lang, 4,27 m breit, 5,18 m hoch, und sein Boden liegt 24,34 m unter dem Straßenniveau. Der Bau kostete über 9 Mill. Mk. 1869 ging derselbe in den Besitz einer Eisenbahngesellschaft über, welche eine Verbindungsbahn durchgeführt hat. Weiter oberhalb liegt ein 1869-70 erbauter zweiter T. (Tower subway), 405 m lang und nur für den Personenverkehr bestimmt. Ein dritter Tunnel soll jetzt weiter unterhalb gebaut werden.

Thenar, Daumenballen.

Thénard (spr. -ár), Louis Jacques, Chemiker, geb. 4. Mai 1774 zu Louptière im Departement Aube, studierte zu Paris, ward Professor der Chemie am Collège de France, später an der polytechnischen Schule und an der Universität und 1833 Pair von Frankreich. 1840 legte er seine Professur nieder und starb 20. Juni 1857 in Paris. Thénards Untersuchungen, welche sich über fast alle Teile der Chemie erstreckten, waren zum Teil epochemachend für seine Zeit. Namentlich lieferte er in Gemeinschaft mit Gay-Lussac eine Reihe der wichtigsten Arbeiten. So entdeckten sie das Bor, die Alkalisuperoxyde und das Baryumsuperoxyd, stellten zuerst die Alkalimetalle ohne Anwendung einer galvanischen Batterie dar und bildeten die Elementaranalyse aus. T. entdeckte auch das Wasserstoffsuperoxyd und das Kobaltblau sowie eine neue Methode der Bleiweißfabrikation, vervollkommte die Ölraffinerie etc. Seine Hauptschriften sind: "Traité de chimie élémentaire théorique et pratique" (6. Aufl., Par. 1836, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1825-30, 7 Bde.) und "Recherches physico-chimiques" (mit Gay-Lussac, Par. 1811, 2 Bde.).

Thenardit, natürlich vorkommendes Glaubersalz (schwefelsaures Natron).

Thénardsblau, s. Kobaltblau.

Thenenet, ägypt. Göttin, Begleiterin des Gottes Month, eine Form der Hathor.

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Theobroma - Theodolit

Theobroma, s. Kakaobaum.

Theobromin C7H8N4O2, Alkaloid, findet sich zu 1,5 Proz. in den Kakaobohnen und wird dargestellt, indem man entölten Kakao anhaltend mit Wasser und wenig Schwefelsäure kocht, die klare Abkochung mit Bleioxyd neutralisiert, filtriert, das Filtrat gären läßt, kocht, mit Soda neutralisiert und das sich ausscheidende T. durch wiederholtes Lösen in Salpetersäure und Fällen mit Ammoniak reinigt. T. bildet ein farb- und geruchloses, kristallinisches Pulver, schmeckt bitter, ist wenig löslich in Wasser, kaum in Alkohol und Ather, leicht in Ammoniak, sublimiert bei 290°, reagiert neutral, bildet leicht kristallisierbare, unbeständige Salze und gibt in ammoniakalischer Lösung mit salpetersaurem Silberoxyd einen Niederschlag von Theobrominsilber, welches mit Jodmethyl Jodsilber und Kaffein (Methyltheobromin) bildet. T. wirkt wie Kaffein, aber viel schwächer.

Theodat (Deodat), König der Ostgoten, letzter männlicher Sprößling des Königsgeschlechts der Amaler, Graf von Tuscien, ward von Amalasuntha nach ihres Sohns Athalarich Tod (534) zum Mitherrscher erkoren, obwohl er wegen seiner Habsucht und Gewaltthätigkeit allgemein verhaßt war und schon in verräterischer Verbindung mit dem Hofe von Konstantinopel stand, ließ, gereizt durch Amalasunthas Verachtung, diese 535 im Bad ermorden, benahm sich, unkriegerisch und zu gelehrter Spielerei neigend, als Belisar das Ostgotenreich angriff, feig und kriechend demütig, erbot sich sogar, sein Reich an Justinian abzutreten, und ward 536 von einem über seine Feigheit ergrimmten Goten ermordet. Vgl. O. Abel, T., König der Ostgoten (Stuttg. 1855).

Theodéktes, griech. Redner und tragischer Dichter, aus Phaselis in Lykien, trug achtmal den Sieg davon, so 351 v. Chr. mit seiner Tragödie "Mausolos" in dem tragischen Wettstreit, welchen die Königin Artemisia zu Ehren ihres verstorbenen Gemahls Mausolos veranstaltet hatte. Von seinen Tragödien sind nur unbedeutende Bruchstücke übrig (abgedruckt bei Nauck, "Tragicorum graecorum fragmenta", Leipz. 1856). Vgl. Märcker, De Theodectis vita et scriptis (Bresl. 1835).

Theodelinde, Königin der Langobarden, Tochter des Bayernherzogs Garibald, ward 589 mit dem langobardischen König Authari, der unerkannt um sie warb, vermählt, reichte nach dessen Tod (590) dem Herzog Agilulf von Turin die Hand und verschaffte ihm dadurch die Krone, übte unter ihm und ihrem Sohn Adelwald (615-624) großen Einfluß auf die Regierung aus und vermittelte namentlich den Frieden zwischen den arianischen Langobarden und der römisch-katholischen Kirche. Sie erbaute die Kathedrale in Monza, wo fortan die Eiserne Krone aufbewahrt wurde.

Theoderich (got. Thiudareiks, "Volksherrscher", Theodorich, Theuderich, später Dietrich), Name zweier westgotischer Könige: 1) T. I., 419-451, Nachfolger Wallias, wählte Tolosa zum Herrschersitz, besiegte 439 den römischen Feldherrn Litorius, verband sich 451 mit Aetius gegen die Hunnen und fiel, tapfer kämpfend, in der Schlacht bei Catalaunum.

2) T. II., 453-466, Sohn des vorigen, ermordete seinen ältern Bruder, König Thorismund, regierte kräftig und focht siegreich, ward 466 von Eurich ermordet.

3) T. der Große, König der Ostgoten, geb. 454, Sohn des Amalers Theodemir, kam 462 als Geisel an den byzantinischen Hof, an dem er zehn Jahre verweilte, nahm dann an seines Vaters Kämpfen teil, ward nach dessen Tod 475 König der Ostgoten und stand im Bund mit dem oströmischen Kaiser Zenon, der ihn mit Ehren und Würden Überhäufte und ihm die Erlaubnis erteilte, Italien für den Kaiser wiederzuerobern. 488 zog er über die Ostalpen, schlug Odoaker 489 am Isonzo und bei Verona, 490 an der Adda, zwang ihn 493 in Ravenna zur Übergabe und tötete ihn mit eigner Hand. Er nannte sich nun, obwohl er die Oberhoheit des byzantinischen Kaisers anerkannte, König von Italien und begründete das ostgotische Reich. Er erweiterte und sicherte dessen Grenzen nach außen, erwarb Sizilien, die Alpenlande und die Provence, suchte den Frieden unter den germanischen Reichen aufrecht zu erhalten und ward von denselben als mächtiger Schiedsrichter hoch geachtet. Im Innern stellte er ebenfalls eine vortreffliche Staatsordnung her. Seinen Goten wies er ein Dritteil des Grundbesitzes an und übertrug ihnen den bewaffneten Schutz des Reichs; für die Italiker ließ er die römische Verfassung, Gerichtsordnung und Gesetzgebung bestehen und suchte dieselben überhaupt durch Milde und Gerechtigkeit für sich zu gewinnen, begünstigte den Ackerbau, errichtete Getreidemagazine, um der Teurung vorzubeugen, und schmückte die größern Städie des Landes mit Kirchen, Palästen, Bädern, Wasserleitungen etc., wovon noch jetzt Überbleibsel vorhanden sind. Kurz, Italien begann unter seiner Regierung nach jahrhundertelanger innerer Zerrüttung und Anfeindung von außen sich aller Segnungen des Friedens wieder zu erfreuen. Dennoch gelang es ihm nicht, die Goten mit den Römern zu verschmelzen und die Abneigung des orthodoxen Klerus gegen die Herrschaft der arianischen Ketzer zu überwinden. Die Ränke desselben verleiteten ihn 524 zur Hinrichtung der hochgeachteten Senatoren Boethius und Symmachus. Er starb 26. Aug. 526, ohne einen Sohn zu hinterlassen, daher das Reich auf seinen zehnjährigen Enkel Athalarich, den Sohn seiner Tochter Amalasuntha, überging. Auch in der Sage und im Lied lebte T. als Dietrich von Bern (s. d.) fort, und im deutschen Heldenbuch wie im Nibelungenlied wird er als einer der hervorragendsten Helden gefeiert. Vgl. Dahn, Könige der Germanen, Bd. 3 (Würzb. 1866); Deltuf, Théodoric, roi des Ostrogothes (Par. 1869); Martin, T. der Große bis zur Eroberung Italiens (Freiburg 1889).

Auch Name zweier fränkischer Könige aus dem Geschlecht der Merowinger: 4) T. I., außerehelicher Sohn Chlodwigs, folgte diesem 511 im Osten des Frankenreichs (Austrasien) mit der Hauptstadt Reims, eroberte 530 das Thüringer Reich, dessen letzten König, Hermanfried, er hinterlistig tötete; starb 534. - 5) T. II., Sohn Childeberts, erbte von diesem 596 Burgundien, entriß seinem Bruder Theodebert 612 Austrasien, starb aber 613 in Metz.

Theodicee (griech., "Gottesrechtfertigung"), der religionsphilosophische Versuch des Erweises, daß das Vorhandensein des Übels und des Bösen vereinbar sei mit einer weisen, gütigen und gerechten Vorsehung. Für die älteste T. gilt gewöhnlich das Buch Hiob; aber Begriff und Aufgabe derselben stehen erst fest seit Leibniz' Schrift "Essai de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal" (Amsterd. 1712). Vgl. Optimismus.

Theodolít (griech.), ein hauptsächlich zu geodätischen Zwecken, aber auch in der Astronomie benutztes Winkelmeßinstrument, besteht aus zwei geteilten Kreisen, von denen der eine horizontal, der andre vertikal steht. Der Horizontalkreis ist in fester Verbindung mit dem massiven dreifüßigen Gestell und kann

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Theodor - Theodora

mit Hilfe von Stellschrauben und einer Libelle genau horizontal eingestellt werden. In dem Kreis liegt ein zweiter, um eine vertikale Achse drehbarer Kreis (Alhidadenkreis), welcher mit seinem Rand genau an den Horizontalkreis anschließt und an den Enden eines Durchmessers zwei Nonien zur Zählung der Grade trägt. Senkrecht darauf steht ein fester Träger für ein Fernrohr mit Fadenkreuz, welches um eine mit dem Horizontalkreis parallele Achse drehbar ist, und dessen Visierlinie von der Alhidadenachse geschnitten wird und auf der Drehachse des Fernrohrs senkrecht steht. Fest verbunden mit der Drehachse des Fernrohrs steht der Vertikalkreis, welcher alle Bewegungen des Fernrohrs mitmacht. Zur Messung derselben dienen zwei feststehende Nonien, welche an dem Ende eines mit dem Horizontalkreis parallelen Durchmessers liegen. Nebenbestandteile sind die Klemm- und Mikrometerschrauben für die grobe und feine Drehung des Vertikal- und Alhidadenkreises und die Lupen zum Ablesen. Von diesem einfachen T. unterscheidet sich der Repetitionstheodolit (MultipliKations-, Repetitionskreis) dadurch, daß er bei einmaliger Aufstellung und zweimaliger Ablesung ein beliebig großes Vielfache eines gegebenen Winkels zu messen gestattet, aus dem man durch Division leicht den einfachen Winkel finden kann. Man vermindert in dieser Weise den Einfluß der Beobachtungsfehler auf den gemessenen Winkel. Statt des Hängekompasses, welcher nur eine geringe Genauigkeit der damit aufgenommenen Winkel gewährt, wendet man die Grubentheodolite an, welche sich von den andern nur dadurch unterscheiden, daß sie in der Regel mit einer Bussole umgeben sind. Über den magnetischen T. s. Magnetometer. Kleine Theodolite mit distanzmessendem Fernrohr, mit Bussole und Vertikalkreis werden als Tachymeter (Schnellmesser, daher Tachymetrie), Tacheometer, Tachygraphometer in der praktischen Geometrie zum Feldmessen und Abstecken heutzutage vielfach gebraucht. Vgl. Jordan, Handbuch der Vermessungskunde (2. Aufl., Stuttg. 1878). Ein ähnliches Instrument ist der Katersche Kreis. Große Theodolite mit Vertikalkreisen genauester Konstruktion werden allgemein Universalinstrumente genannt. Offizinen zu deren Verfertigung: Breithaupt in Kassel, Ertel in München, Repsold in Hamburg, Kern in Aarau, Starke in Wien. Das Urbild des Theodolits ist das von Regiomontan im 15. Jahrh. erfundene Astrolabium, ein Kreisbogen, in dessen Zentrum behufs Horizontalwinkelmessung eine Alhidade (Zeiger, Radrus) sich drehte, über deren Endpunkte man mittels Diopter visierte, dann an der feststehenden Gradeinteilung den Winkel ablas. Die Alhidade wurde später zum Alhidadenkreis erweitert, auf welchem sich ein Kippfernrohr mittels Bocks oder Säule erhob; dieses erhielt dann noch zur Vertikalmessung den Vertikal- oder Höhenkreis. Das Ganze auf Stativ befestigt, bildete nun den T.

Theodor (griech., "Gottesgabe" oder "Gottgeweihter"), 1) König von Corsica, s. Neuhof.

2) (Theodoros) König von Abessinien, eigentlich Kasa, geboren um 1820 im Land Quara als Sohn des dortigen Statthalters Hailu Marjam und einer Mutter niederer Abkunft, führte den Titel Ledsch (Prinz), ward in einem Kloster erzogen, widmete sich aber dem Kriegerstand, suchte sich an der Spitze einer Räuberbande im Kampf gegen Moslims und Heiden Ruhm und Macht zu erwerben, erhielt 1847 vom König von Gondar, Ras Ali, die Herrschaft über ein großes Gebiet, stürzte darauf Ras Ali durch den Sieg bei Aischal (1853) und ließ sich, nachdem er auch den König Ubieh von Tigré seiner Herrschaft beraubt hatte, 11. Febr. 1855 von dem Abuna Selama in der Kirche von Deresgeh Marjam unter dem Namen T. zum König der Könige (Negus Negesti) von Äthiopien salben und krönen. Er eroberte darauf auch noch das Land der Wollo Galla und Schoa, mußte aber unaufhörlich gegen Aufstände in diesen Ländern kampfen, welche seine Kraft aufrieben und die Durchführung seiner Reformabsichten vereitelten. Dazu kamen Streitigkeiten mit der mächtigen Geistlichkeit und mit England, das T. durch Nichtachtung beleidigte. Obwohl T. eigentlich danach strebte, die europäische Zivilisation in seinem Land einzuführen, wurde sein Zorn durch Anmaßung und Taktlosigkeiten der europäischen Konsuln und Missionäre so gereizt, daß er 1864 alle Europäer ins Gefängnis warf. Im unaufhörlichen Kampf mit Rebellen und der Ungunst des Auslandes waren seine Willkür und Grausamkeiten gewachsen. Als er 1866 den englischen Gesandten Rossam, der eine Verständigung versuchte, gefangen nahm und seine Auslieferung verweigerte, landeten die Engländer Ende 1867 bei Massaua und drangen, von den Rebellen unterstützt, bis zur Bergfeste Magdala vor, wo T. sie erwartete. Nach einer Niederlage seines Heers bot er Frieden an, als aber die Engländer forderten, er solle sich als Gefangener stellen, erschoß er sich selbst (14. April 1868). Sein Sohn Alemajehu wurde nach England gebracht, starb hier aber bald. Vgl. Acton, The Abyssinian expedition and the life and reign of king T. (Lond. 1868).

Theodor Laskaris, Name zweier griech. Kaiser von Nikäa. 1) T. I., Schwiegersohn des oströmischen Kaisers Alexios III., flüchtete 1204 nach der Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzfahrer nach Kleinasien und gründete hier das griechische Kaiserreich von Nikäa, welches er in tapfern Kämpfen gegen Lateiner und Seldschukken glücklich behauptete. Er starb 1222.

2) T. II., Enkel des vorigen, Sohn des Kaisers Johann Vatatzes, folgte demselben 1254 auf dem Thron, kämpfte glücklich gegen die Bulgaren und den abtrünnigen Despoten von Epirus, starb aber schon 1258.

Theodora, 1) Gemahlin des oströmischen Kaisers Justinian I., Tochter eines Zirkusbeamten, Acacius von Cypern, war früher Schauspielerin, Tänzerin und Hetäre, dann die Geliebte und endlich die Gemahlin des Justinianus. Als derselbe 527 den byzantinischen Thron bestieg, erhielt auch sie die Krönung vom Patriarchen und die Würde als Mitherrscherin. Sie übte eine bedeutende Gewalt über den Kaiser und gab vielfache Beweise von Klugheit und Mut, aber auch von Hochmut, Herrschsucht und rachsüchtiger Grausamkeit. Bei dem 532 in Konstantinopel ausgebrochenen Nika-Aufstand rettete sie ihren Gemahl, welcher den Mut verloren hatte und fliehen wollte, durch unerschrockenes Auftreten. Ihre vertraute Freundin war die sittenlose Gemahlin Belisars, Antonina, weswegen sie Belisar begünstigte. Durch äußere Frömmigkeit und kirchliche Rechtgläubigkeit, durch Spenden und Stiftungen an Kirchen, Klöster und Spitäler suchte sie ihren frühern Lebenswandel zu sühnen. Sie starb, 40 Jahre alt, 548 an einer schrecklichen Krankheit. Prokopios hat in der "Geheimgeschichte" ("Anecdota") ein abschreckendes Bild ihrer Sittenlosigkeit gegeben, welches die neuere Kritik aber als ein sehr übertriebenes erkannt hat. Vgl. Debidour, L'impératrice T. (Par. 1885).

2) Gemahlin des oströmischen Kaisers Theophilos, nach dessen Tod 842 Regentin für ihren unmündigen Sohn Michael III. Schon bei Lebzeiten ihres bilder-

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Theodoretus - Theodotion.

feindlichen Gemahls heimlich dem Bilderdienst zugewandt, stellte sie nach ihrer Thronbesteigung denselben wieder her, entsetzte den widerstrebenden Patriarchen Johannes und erhob Methodios an seine Stelle. Sie wurde 856 auf Veranstalten ihres Bruders Bardas von ihrem Sohn in ein Kloster geschickt, später aber aus demselben wieder entlassen und überlebte noch den Tod Michaels (867).

3) Tochter des oströmischen Kaisers Konstantin VIII., wurde 1042 nach dem Sturz Michaels V. mit ihrer Schwester Zoe auf den Kaiserthron erhoben, führte dann nach dem Tode der letztern und des dritten Gemahls derselben, Konstantin VII. Monomachos, 1054 bis 1056 allein die Regierung. Mit ihr erlosch die von Basilius I. begründete makedonische Dynastie.

4) Römerin, Gemahlin des Konsuls Theophylactus, schön, klug und ehrgeizig, aber sittenlos, Mutter der Marozia und der jüngern Theodora, stand mit diesen an der Spitze der patrizischen Partei und beherrschte mehrere Jahre Rom und den päpstlichen Stuhl, auf den sie 914 Johann X., ihren frühern Geliebten, erhob.

Theodoretus, Kirchenhistoriker, geboren zu Antiochia, ward 420 Bischof in Cyrus am Euphrat, als Vertreter der antiochenischen Schule in den nestorianischen und eutychianischen Streitigkeiten zwar auf der sogen. Räubersynode in ein Kloster verbannt, vom Konzil zu Chalcedon aber als rechtgläubig anerkannt und starb 457. Seine Schriften wurden von Schulze und Nösselt (Halle 1769, 5 Bde.) herausgegeben, die wichtigste darunter, die "Historia ecclesiastica", welche die Zeit von 322 bis 428 umfaßt, von Gaisford (Oxf. 1854). Vgl. Binder, Études sur Théodorète (Genf 1844); Bertram, Theodoreti doctrina christologica (Hildesh. 1883).

Theodorus von Mopsuëstia, griech. Kirchenvater, aus Antiochia gebürtlg, war anfänglich Mönch, seit 393 Bischof von Mopsuestia in Kilikien, wo er 428 starb. Er war der erste Exeget seiner Zeit, zugleich der unbefangenste im ganzen kirchlichen Altertum. In der morgenländischen Kirche ward er als Anhänger des Pelagianismus sowie des Nestorianismus auf dem fünften ökumenischen Konzil als Ketzer verdammt. Die syrischen Fragmente seiner Schriften gab Sachau (Leipz. 1869) heraus, die exegetischen Schriften Fritzsche (Zürich 1847) und Swete (Cambridge 1880 bis 1882, 2 Bde.). Vgl. Kihn, T. und Junilius (Freiburg 1880).

Theodosia, Stadt, s. Feodosia.

Theodosianus Codex (lat.), vom Kaiser Theodosius veranstaltete und 438 als Gesetzbuch in 16 Büchern publizierte Sammlung von Gesetzen, welche die Verordnungen von Konstantins d. Gr. Zeit bis auf die seinige umfassen. Gute ältere Ausgaben sind die von Gothofredus (Leid. 1665) und Ritter (Leipz. 1736-45), die besten neuern lieferten Hänel (Bonn 1837-42) und Krüger (Berl. 1880).

Theodosius, 1) T. I., der Große, röm. Kaiser, geb. 346 n. Chr., war der Sohn des aus Spanien stammenden Flavius T., der unter Valentinian I. in Britannien und Afrika dem Reich als Feldherr bedeutende Dienste geleistet hatte, aber 376 in Ungnade fiel und hingerichtet wurde. Der Sohn hatte sich schon bei Lebzeiten seines Vaters ebenfalls als Feldherr ausgezeichnet, zog sich aber nach dessen Hinrichtung auf sein Landgut in Spanien zurück, wo er in völliger Verborgenheit sich ganz den Geschäften der Landwirtschaft widmete. Als aber die Goten die Donau überschritten und 378 in der Schlacht bei Adrianopel den Kaiser des Ostens, Valens, geschlagen und getötet und fast das ganze Heer desselben vernichtet hatten, wurde er 379 von Gratianus (s. d.), dem Kaiser des Westens, berufen, um als Kaiser des Ostens das Reich gegen die eindringenden Feinde zu verteidigen. Er brachte die Goten teils durch glückliche Unternehmungen, teils durch Unterhandlungen dahin, daß sie sich 382 unterwarfen, worauf er ihnen feste Wohnsitze in Thrakien und Dacien anwies und einen Teil derselben in sein Heer ausnahm. Außer gegen auswärtige Feinde hatte er aber auch gegen innere Krieg zu führen. Als Maximus (s. d. 3), welcher bereits Gratian gestürzt hatte, auch Valentinian H. bedrohte, zog er 388 gegen Maximus und brachte ihm bei Siscia eine völlige Niederlage bei, und 394 unternahm er den Krieg gegen Arbogastes (s. d.), welcher, nachdem wahrscheinlich auf sein Anstiften Valentinian II. ermordet worden, Eugenius als Kaiser des Westens eingesetzt hatte; auch dieser wurde bei Aquileja völlig geschlagen und fand bald darauf den Tod. Auf diese Art wurde das ganze Reich zum letztenmal unter der Herrschaft Eines Kaisers vereinigt. Im Innern war T. besonders bemüht, die Arianer zu unterdrücken und dem Heidentum ein Ende zu machen, weshalb er 381 auf dem Konzil zu Konstantinopel das Nicäische Glaubensbekenntnis für allein gültig erklären ließ und 392 durch ein Edikt den heidnischen Kultus völlig verbot. Als er 390 die Stadt Thessalonich wegen eines Aufstandes durch ein grauenhaftes Blutbad züchtigte, mußte er sich vor Bischof Ambrosius von Mailand einer Kirchenbuße unterwerfen. Er starb 17. Jan. 395 in Mailand. Nach seinem Tod wurde das Reich unter seine beiden Söhne Arcadius und Honorius geteilt, die er schon bei seinen Lebzeiten zu Mitkaisern ernannt hatte. Vgl. Güldenpenning und Ifland, Kaiser T. d. Gr. (Halle 1878).

2) T. II., der jüngere, Sohn des Arcadius und der Eudoxia, Kaiser des oströmischen Reichs, geb. 401, folgte seinem Vater 408 und stand bis 414 unter Vormundschaft des Präfekten Anthemius, worauf seine Schwester Pulcheria für ihn bis an seinen Tod die Herrschaft führte; er selbst verbrachte seine Zeit mit Jagen und andern nutzlosen Beschäftigungen. Während seiner Herrschaft wurde ein Krieg mit Persien geführt, welcher 422 durch einen nicht unrühmlichen Frieden beendigt ward; dagegen wurde das Reich seit 441 durch die Einfälle der Hunnen unter Attila schwer heimgesucht, denen 447 ein großer Strich Landes südlich der Donau abgetreten und, außer einer Summe von 6000 Pfd. Goldes, ein jährlicher Tribut bewilligt werden mußte. An den theologischen Streitigketten nahm T. eifrig teil. In dem Streit über die natürliche Geburt Christi erklärte er sich unter Pulcherias Einfluß für die Lehre Cyrillus' und schickte den Patriarchen Nestorius in die Verbannung; später wurde er für die Lehre des Entyches gewonnen und geriet darüber in ein Zerwürfnis mit Pulcheria, welche 449 auf kurze Zeit vom Hof entfernt wurde. Noch ist zu bemerken, daß unter ihm 438 der Codex Theodosianus (s. d.), eine Sammlung der kaiserlichen Edikte von Konstantin d. Gr. bis auf die Gegenwart, veröffentlicht wurde. T. verheiratete sich 421 mit Athenais (s. d.), die nach der Taufe den Namen Eudotia erhielt, sich aber 441 von ihm trennte. Er starb 450. Vgl. Güldenpenning, Geschichte des oströmischen Reichs unter den Kaisern Arcadius und T. (Halle 1885).

Theodotion, Kirchenschriftsteller des 2. Jahrh., über dessen Person und Heimat Widersprechendes berichtet wird, lieferte gleich seinem Zeitgenossen Aquila (s. d. 1) eine griechische Übersetzung des Al-

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Theodulie - Theologie.

ten Testaments, welche von Origenes in die "Hexapla" (s. d.) aufgenommen wurde.

Theodulie (griech.), Gottesdienst.

Theognis, griech. Elegiker, zwischen 540 und 470 v. Chr., wurde als Anhänger der Aristokratie aus seiner Vaterstadt Megara vertrieben und kehrte erst in spätern Jahren in die Heimat zurück. Aus den Überresten seiner Elegien ersieht man, daß dieselben mit seinen politischen Erlebnissen in innigstem Zusammenhang standen. Den Untergang derselben hat ihr außerordentlicher Reichtum an Sentenzen herbeigeführt, die man schon frühzeitig auszog und zusammenstellte, um sie für den Jugendunterricht zu verwerten, wie dies namentlich in Athen geschah. Wir besitzen unter dem Namen des T. eine planlose, oft nach bloßen Stichwortern geordnete Sammlung von allerlei distichischen Sprüchen und Ermahnungen in 1389 Versen, unter denen sich auch manches dem Dichter nicht Gehörige findet. Ausgaben besorgten Bekker (Berl. 1827), Welcker (Frankf. 1826), Orelli (Zürich 1840), Bergk (in "Poetae lyrici graeci"), Ziegler (2. Ausg., Tübing. 1880) und Sitzler (Heidelb. 1880); Übersetzungen liegen vor von Weber (Bonn 1834) und Binder (Stuttg. 1860).

Theognosie (griech.), Gotteserkenntnis.

Theogonie (griech.), die Lehre von der Abstammung der Götter, wie sie in mehreren alten Dichtungen der Griechen niedergelegt war. Erhalten hat sich davon nur die T. des Hesiod.

Theok, Längenmaß, s. Thuok.

Theokratie (griech.), "Gottesherrschaft", Staatswesen, bei welchem die Gottheit selbst als oberster Regent gedacht ist; zunächst eine dem Josephus (gegen Apion, 2,16) entlehnte Bezeichnung des Mosaismus, sofern hier der im Gesetz und durch den Mund der Richter, Priester und Propheten sich kundgebende Wille Gottes die oberste Norm für das Gemeinwesen war. Ähnliche Vorstellungen sind übrigens dem antiken Staatswesen überhaupt eigentümlich, und ihre großartigste Verwirklichung fand die Idee eines "Gottesstaats" in der mittelalterlichen Kirche.

Theokritos, der Schöpfer und Hauptvertreter der bukolischen Poesie der Griechen, aus Syrakus oder Kos gebürtig, blühte um 270 v. Chr. und lebte teils in Alexandria, teils zu Syrakus. Unter seinem Namen besitzen wir außer einer Anzahl von Epigrammen 32 größere Gedichte, sogen. Idylle. Die meisten derselben haben eine dramatische Form und sind teils künstlerische Nachahmungen des Wechselgesangs der sizilischen Hirten, teils stellen sie Szenen des gemeinen Lebens dar, während andre mythologische Erzählungen enthalten, noch andre rein lyrischer Natur sind. Schon bei den Alten standen sie wegen des echten Dichtergeistes, der lebendigen und doch prunklosen Darstellung der Natur in hohem Ansehen. Wie die Form, ist auch die Sprache meist die epische, letztere jedoch zur Erhöhung des volkstümlichen Eindrucks in höchst kunstvoller Weise mit Formen des auf Sizilien heimischen dorischen Dialekts gemischt. Ausgaben von Valckenaer (mit Bion und Moschos, Leid. 1779, 1810), Meineke (ebenso, zuletzt Berl. 1856), Ahrens (ebenso, Leipz. 1855-59, 2 Bde.; Textausg., das. 1856), Ziegler (2. Aufl., Tübing. 1867), Fritzsche (3.Aufl., Leipz. 1881); Übersetzungen von Voß (2.Aufl., Tübing. 1815), Eberz (Frankf. 1858), F. Rückert (im "Nachlaß", Leipz. 1867), Mörike und Notter (2. Aufl., Berl. 1882). Ein "Lexicon Theocriteum" bearbeitete Rumpel (Leipz. 1879).

Theolatrie (griech.), Gottesdienst.

Theologia deutsch, s. Deutsche Theologia.

Theologie (griech.), bei den Griechen die Lehre von den Göttern und göttlichen Dingen. Daher nannten die Griechen denjenigen einen Theologos, welcher über das Wesen und die Geschichte der Götter Auskunft zu erteilen vermochte. So führen diesen Namen der Syrer Pherekydes und der Kreter Epimenides. Die alte Kirche nannte Theologen die Verteidiger der Gottheit des Logos, wie den vierten Evangelisten und Gregor von Nazianz. Erst die Scholastik versteht unter T. den Komplex der christlichen Lehre, und so spricht man noch heute im Unterschied von der gesamten Religionswissenschaft von T. im Sinn einer positiven Wissenschaft, welche einer bestimmten geschichtlichen Religion gilt. Insonderheit ist die christliche T. die Fakultätswissenschaft der Diener der Kirche, wie die Jurisprudenz diejenige der Staatsdiener. Daraus ergibt sich teils der wesentliche Unterschied der T. von dem Begriff der Religion (s. d.), teils ihr nahes Verhältnis zur Philosophie (s. Religionsphilosophie). Fast jedes philosophische System ist auf die T. angewendet worden, und in langen Perioden der Geschichte bildete die T. den alles bedingenden Hintergrund für die Geschichte der Philosophie. Formell ist man seit Schleiermacher ziemlich allgemein darin einverstanden, daß in der T. eine Reihe von Disziplinen, welche der Sache nach in die Gebiete der Geschichte, der Philosophie und der Philologie gehören, im Interesse der Kirchenleitung in eine, jeder dieser Disziplinen an sich fremde, Association versetzt wurde. Da es sonach bloß ein praktischer Gesichtspunkt ist, welcher als zusammenhaltende Klammer für die sonst mannigfach divergierenden Beschäftigungen der "theologischen Fakultät" dient, würde an sich nichts im Weg stehen, ihre einzelnen Elemente in die ihnen natürliche Verbindung zurücktreten zu lassen, wofern nicht ein leider oft allzu wenig erkanntes Interesse des Staats selbst es erheischte, die Kirche durch eine von ihm, nicht von ihr zu besetzende theologische Fakultät in dem lebendigen und befruchtenden Zusammenhang mit dem sich entwickelnden wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Bewußtsein der Zeit zu erhalten oder, wo dieser Zusammenhang verloren gegangen ist, ihn wiederherzustellen. Im übrigen unterscheidet man herkömmlicherweise innerhalb der T. als christlicher (bez. auch jüdischer) Religionswissenschaft die Hauptgebiete der historischen, systematischen und praktischen T. Die historische T. hat zum Gegenstand den Ursprung, den weitern Fortgang und die gegenwärtige Lage der Kirche und zerfällt daher wieder in die exegetische, kirchenhistorische und statistische T. Unter der erstern begreift man alles das, was auf das Bibelstudium oder auf die Erklärung der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments Bezug hat. Sie umfaßt außer der eigentlichen Exegese auch die dazu nötigen Hilfswissenschaften. Diese sind: die biblische Philologie, die Einleitungswissenschaft oder Isagogik und die Hermeneutik. An die Quellen der Offenbarung reiht sich der Inhalt derselben als eigentliche biblische Geschichte und Archäologie und als biblische Glaubens- und Sittenlehre (biblische T.) und wieder an die biblische Geschichte speziell die historische T. an, welche die Geschichte der Kirche seit ihrer Entstehung im nachapostolischen Zeitalter bis auf die neueste Zeit fortsetzt. Einige Zweige der Kirchengeschichte sind besonders bearbeitet worden, so: die Dogmengeschichte, die Symbolik, die Patristik, die kirchliche Archäologie, die Geschichte des Kultus und der Kirchenverfassung, oft auch der christ-

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Theomantie - Theophano.

lichen Kunst und Sitte in den ersten Jahrhunderten, die Darstellung des christlichen Lebens in den verschiedenen Zeitaltern, die Missionsgeschichte und die Ketzergeschichte. Die kirchliche Statistik endlich ist die Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der äußern und innern Lage der Kirche in den verschiedenen christlichen Ländern. Unter der systematischen T. begreift man die wissenschaftliche Darstellung der christlichen Lehre, sowohl nach dem Glauben als nach dem ihm entsprechenden sittlichen Leben. Die Dogmatik (s. d.) oder Glaubenslehre bildet eigentlich den Mittelpunkt der T., indem in ihr die Resultate der exegetischen und historischen T. zu einem geordneten Ganzen verbunden werden. Als besondere Bestandteile gehören ihr an: die Apologetik, die Polemik und deren Gegensatz, die Irenik. Die christliche Moral oder Sittenlehre hatte früher als besondere Disziplinen neben sich die Kasuistik und die Asketik. Die praktische T. würde, falls sich die oben angeregte Auseinandersetzung der theologischen mit der philosophischen Fakultät vollziehen ließe, ganz außerhalb der Universitätsstudien fallen und Sache kirchlicher Seminare werden, sofern sie die Theorie von Kirchenleitung und Kirchendienst darstellt. Auch sie umfaßt mehrere besondere Disziplinen, namentlich die Katechetik, Liturgik, Homiletik, Pastoraltheorie und unter Umständen das Kirchenrecht; wir verweisen auf die betreffenden Artikel.

Theologische Encyklopädie heißt diejenige Disziplin, welche den gesamten Organismus der theologischen Wissenschaften darzustellen und in denselben einzuführen hat. Die neuesten Werke sind: Hofmann, Encyklopädie der T. (hrsg. von Bestmann, Nördling. 1879; Hagenbach, Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften (11. Aufl., hrsg. von Kautzsch, Leipz. 1884); Rothe, Theologische Encyklopädie (hrsg. von Ruppelius, Wittenb. 1880); Räbiger, Theologik oder Encyklopädie der T. (Leipz. 1880); Zöckler u. a., Handbuch der theologischen Wissenschaften (3. Aufl., Nördling. 1889 ff., 4 Bde.). Lexikalische Hilfsmittel: Herzogs "Realencyklopädie für protestantische T. und Kirche" (2. Aufl., Leipz. 1876-88, 18 Bde.); Holtzmann und Zöpffel, Lexikon für T. und Kirchenwesen (2. Aufl., Braunschw. 1888); Meusels "Kirchliches Handlexikon" (Lpz. 1885 ff.); Zellers "Theologisches Handwörterbuch" (Kalw 1889 ff.); katholischerseits: Wetzer und Weltes umfangreiches "Kirchenlexikon" (2. Aufl. von Hergenröther und Kaulen, Freiburg 1880 ff.) und Schäflers "Handlexikon der katholischen T." (Regensb. 1880-88, 3 Bde.).

In den ersten Jahrhunderten war die T. wesentlich Exegese, zuerst des Alten, dann auch des Neuen Testaments; in dieser Beziehung unterschieden sich namentlich die Alexandrinische (s. d.) und die Antiochenische Schule (s. d.). Seit dem 3. und noch mehr seit dem 4. Jahrh. trat die Dogmatik in den Mittelpunkt der T., während zugleich durch den herrschenden Gebrauch, auf Konzilen Glaubensgesetze aufzustellen, die Freiheit der theologischen Forschung gehemmt wurde. Später trat die Macht der Päpste an die Stelle der Konzile. Nachdem so das Dogma durch die Hierarchie festgestellt war, fand die scholastische T. (s. Scholastiker) ihre Aufgabe in der Durchbildung des Lehrbegriffs im einzelnen, namentlich aber in dem Nachweis seines innern Zusammenhanges und in der philosophischen Begründung der Kirchenlehre. Erst gegen Ende des 14. Jahrh. beginnt eine durchgreifende, auf das Wesen des Christentums zurückgehende Reformation der T. mit Wiclef, die durch Huß, aber auch durch seine Gegner, die nominalistischen Theologen Frankreichs, fortgesetzt, durch die Reformatoren vollendet und praktisch ins Werk gesetzt wurde. Von diesem Zeitpunkt an durchläuft die theologische Wissenschaft, als die Schöpferin einer neuen Kirche, neue Phasen. Die Reformation brachte der evangelischen T. zunächst Freiheit der Forschung dadurch, daß sie die Herrschaft und die Macht der bloßen Autorität über die Geister brach und die Heilige Schrift als alleinige Erkenntnisquelle hinstellte. Im Gegensatz gegen die neue Fessel, als welche nun der Schriftbuchstabe in der zu einer zweiten Scholastik erstarrten protestantischen T. des 17. Jahrh. auftrat, regte sich mit Erfolg das teils philosophisch fortgeschrittenere, teils historisch geschultere Bewußtsein des 18. Jahrh., während das 19., besonders in Schleiermacher, mit der philosophischen und historischen Unbefangenheit auch wieder eine tiefere Würdigung des Wesens der Religion und der Interessen der Kirche zu verbinden wußte. Gleichwohl ließen die restaurativen Tendenzen, welche zeitweilig im Staate, dauernd in der Kirche die Herrschaft gewannen, es kaum zur Bildung einer eigentlich freien, die Grundlage und Methode der übrigen Wissenschaften teilenden T. kommen. Vgl. Holtzmann, Über Fortschritte und Rückschritte der T. unsers Jahrhunderts (Straßb. 1878); Dorner, Geschichte der protestantischen T. (Münch. 1867); Werner, Geschichte der katholischen T. (2. Aufl., das. 1889).

Theomantie (griech.), im Altertum die Wahrsagung zukünftiger Dinge durch göttliche Eingebung, die weder an einen bestimmten Ort noch an eine bestimmte Zeit geknüpft war, meist bei Privatangelegenheiten stattfand und sich vom Orakel (s. d.) ebenso wie von der Weissagung aus Opfern unterschied.

Theon, 1) T. von Smyrna, griech. Philosoph um die Mitte des 2. Jahrh. n. Chr., verfaßte ein für die Kenntnis der altgriechischen Arithmetik wichtiges Werk über die zum Verständnis des Platon nötigen mathematischen, musikalischen und astronomischen Sätze (hrsg. von Hiller, Leipz. 1878).

2) T. von Alexandria, griech. Mathematiker und Astronom, gegen Ende des 4. Jahrh. n. Chr. in Alexandria lebend, Vater der Hypatia (s. d.), schrieb unter anderm Kommentare zu Eukleides und Ptolemäos. Seine Schriften gab Halma (Par. 1821-23, 2 Bde.) mit französischer Übersetzung heraus.

3) Älios, aus Alexandria, griech. Rhetor des 5. Jahrh. n. Chr., ist Verfasser einer trefflichen Anleitung, sogenannter "Progymnasmata" (hrsg. von Finckh, Stuttg. 1834, und in den "Rhetores graeci" von Walz und von Spengel).

Theophanes, mit dem Beinamen Isauricus oder Confessor, byzantin. Geschichtschreiber, geb. 758 zu Konstantinopel, bekleidete daselbst mehrere Hofämter, ward dann Vorsteher eines Klosters in Bithynien, aber als Bilderverehrer von Kaiser Leo III. verbannt und starb 817 in Samothrake. Er verfaßte eine "Chronographia" (hrsg. von Classen und Becker, Bonn 1839-41, 2 Bde.; von Boor, Leipz. 1883-85, 2 Bde.).

Theophanie (griech., "Gotteserscheinung"), in der christlichen Kirche s. v. w. Epiphania (s. d.).

Theophano (Theophania), Kaiserin, Tochter des oström. Kaisers Romanos II. und der berüchtigten Theophano, welche 963 Romanos und 969 ihren zweiten Gemahl, Nikephoros Phokas, ermorden ließ, geb. 960, ward 972 mit dem jungen Kaiser Otto II. in Rom vermählt. Sie war eine Frau von hoher Schönheit, starkem Geist und feiner Bildung, erlangte

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Theophilanthropen - Theorie.

bald nach der Thronbesteigung ihres Gemahls (973) großen Einfluß auf denselben, dem sie 980 den spätern Kaiser Otto III. gebar, begleitete ihn 981 nach Italien und kehrte nach Ottos II. Tod 984 nach Deutschland zurück. Als Vormünderin ihres jungen Sohns und Reichsregentin anerkannt, führte sie die Regierung mit Kraft und Umsicht und erzog ihren Sohn in griechischer Bildung, starb aber schon 15. Juni 991 in Nimwegen. Vgl. Moltmann, Theophano (Schwerin 1878).

Theophilanthropen (Theanthropophilen, griech., "Gottes- und Menschenfreunde"), deistische Religionsgesellschaft in Frankreich, welche sich 1796 in Paris zur Erhaltung der Religion bildete und vom Direktorium zehn Pfarrkirchen in Paris eingeräumt erhielt, aber schon 1802 erlosch. Vgl. Grégoire, Geschichte des Theophilanthropismus (deutsch, Hannov. 1806).

Theophilos, 1) oström. Kaiser, Sohn Michaels II., schon von diesem zum Mitkaiser erhoben, bestieg nach dem Tode desselben im Oktober 829 den Thron. Er war ein talentvoller, hochgebildeter Fürst, welcher strenge Gerechtigkeit übte, die Wissenschaften und Künste förderte, die Hauptstadt mit prächtigen Bauten schmückte und ihre Festungswerke verstärkte. Er war ein eifriger Bilderfeind und verfolgte die Verehrer derselben, namentlich die halsstarrigen Mönche. Er kämpfte tapfer gegen die Araber, erlitt aber mehrere Niederlagen und konnte nicht verhindern, daß 838 der Kalif Mutassim auf einem großen Heereszug seine Heimatstadt Amorion in Phrygien eroberte und zerstörte. Er starb 20. Jan. 842 und hinterließ die Regierung seinem unmündigen Sohn Michael III. unter der Vormundschaft seiner Gemahlin Theodora.

2) Ein Heidenchrist, seit 168 Bischof von Antiochia, wo er 180 und 181 die drei Bücher an den Autolykos schrieb, eine Apologie des Christentums (hrsg. von Otto im "Corpus apologetarum", Bd. 8, Jena 1861).

3) Nach der Legende Bistumsverweser zu Adana in Kilikien, verschrieb sich, infolge von Verleumdungen seines Amtes entsetzt, dem Teufel und ward hieraus restituiert. Von Gewissensbissen gefoltert, wandte er sich später an die heilige Jungfrau, erhielt von dieser die verhängnisvolle Handschrift zurück und starb drei Tage darauf. Diese schon im 10. Jahrh. vorhandene Legende, eine Vorläuferin der Faustsage, ward bis in das 16. Jahrh. herab dichterisch behandelt. Bearbeitungen wurden herausgegeben unter andern von Blommaert (eine niederländische metrische des 14. Jahrh., Gent 1836); von Pfeiffer (Stuttg. 1846) aus den Marienlegenden des Verfassers des alten Passionals; von Ettmüller (Quedlinb. 1849); von Hoffmann von Fallersleben (Hannov. 1853) nach dramatischer Bearbeitung in niederdeutscher Sprache aus dem 14. und 15. Jahrh.; von W. Meyer ("Radewins Gedicht über T.", Münch. 1873). Vgl. Sommer, De Theophili cum diabolo foedere (Berl. 1844); Wedde, T., das Faustdrama des deutschen Mittelalters (Hamb. 1888).

Theophrastos, griech. Philosoph, geb. 390 v. Chr. zu Eresos auf der Insel Lesbos, war in Athen erst Schüler des Platon, dann des Aristoteles und ward von diesem zum Erben seiner Bibliothek und zu seinem Nachfolger in der Leitung der peripatetischen Schule ernannt. Er starb in Athen, 85, nach andern 106 Jahre alt. In seinen Reden zeigte T. so viel Würde und Anmut, daß Aristoteles seinen eigentlichen Namen Tyrtamos in T., d. h. göttlicher Redner, umgewandelt haben soll. T. ist der Verfasser von etwa 200 Schriften dialektischen, metaphysischen, moralischen und physikalischen Inhalts, von denen einige naturhistorische und philosophische, zum Teil Fragmente aus größern Werken, erhalten sind. Die bekanntesten sind: "Ethici characteres" (hrsg. von Foß, Leipz. 1858, und Petersen, das. 1859; deutsch von Schnitzer, Stuttg. 1858; von Binder, das. 1864; vgl. La Bruyère) und die "Naturgeschichte der Gewächse" (hrsg. von Schneider, Leipz. 1818-21, 5 Bde.; deutsch von Sprengel, Altona 1822, 2 Bde.). Eine Gesamtausgabe des noch Vorhandenen von seinen Schriften besorgte Wimmer (Leipz. 1854-62, 3 Bde., und Par. 1866, 1 Bd.). Zur Entwickelung der Philosophie scheint T. nicht viel beigetragen, sondern die Aristotelische Philosophie nur fortgepflanzt und erläutert sowie durch Zusätze zur Logik und Politik erweitert zu haben. Vgl. Kirchner, Die botanischen Schriften des T. (Leipz. 1874).

Theophylaktos, Erzbischof von Achrida in der Bulgarei, gest. 1107, hat katenenartige Kommentare zum größten Teil des Neuen Testaments verfaßt; im Streit mit der abendländischen Kirche nahm er eine versöhnliche Stellung ein. Auch hinterließ er eine Schrift über Prinzenerziehung und 130 Briefe. Seine Werke erschienen Venedig 1754-63, 4 Bde.

Theopneustie (griech.), s. v. w. Inspiration (s. d.).

Theopompos, 1) griech. Historiker, von Chios, Schüler des Isokrates, lebte im 4. Jahrh. v. Chr. und starb, aus Chios verbannt, in Ägypten. Er schrieb eine "Hellenika" betitelte Fortsetzung von des Thukydides Geschichtswerk bis zur Seeschlacht bei Knidos (394 v. Chr.) und "Philippika", eine allgemeine Geschichte seiner Zeit von Ol. 105, 1 (360 v. Chr.) an. Herausgegeben sind die Fragmente derselben von Wichers (Leid. 1829), Theiß (Nordh. 1837) und Müller in den "Historicorum graecorum fragmenta" (Bd. 1, Par. 1841). Vgl. Pflugk, De Theopompi vita et scriptis (Berl. 1827).

2) Griech. Komödiendichter, ein jüngerer Zeitgenosse des Aristophanes, dichtete noch um 370 v. Chr. Von seinen 24 Dramen, von denen die spätern den Übergang von der alten zur mittlern Komödie anbahnten, sind nur geringe Bruchstücke erhalten (gesammelt in Meinekes "Fragmenta comicorum graecorum", Bd. 2, Berl. 1840). Vgl. Bünger, Theopompea (Straßb. 1874).

Theorbe (ital. Tiorba, Tuorba), ein veraltetes, im 16.-18. Jahrh. sehr angesehenes, zur Familie der Laute gehöriges Saiteninstrument. Vgl. Laute.

Theorem (griech.), s. v. w. Lehrsatz (s. d.).

Theorie (griech.), eigentlich das Betrachten, Beschauen, vorzugsweise aber das geistige Anschauen und Untersuchen, die daraus hervorgehende wissenschaftliche Erkenntnis und Entwickelung der einzelnen Erscheinungen einer Wissenschaft in ihrem innern Zusammenhang. Jeder Kreis von Gedankenobjekten hat demnach seine besondere T., welche darauf hinausläuft, aus allgemeinen Gesetzen, welche nicht erfahren, sondern denkend gefunden werden, die Mannigfaltigkeit der auf irgend eine Weise erkannten Einzelheiten in ihrem Kausalnexus zu begreifen. Jede auf Erfahrung gegründete Wissenschaft kommt von selbst, je mehr der innere Zusammenhang klarer vor die Augen tritt, zu Theorien, welche umso vollkommener aufgestellt werden können, je mehr die Masse der Erscheinungen Anhaltspunkte für die wissenschaftliche Untersuchung darbietet. Bei der Endlichkeit des menschlichen Geistes behalten alle Theorien ihre Mängel; die beste wird die sein, welche am einfachsten und ungezwungensten die Ergebnisse der Erfahrung aus einem oder einigen Grundprinzipien herzuleiten im

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Theorikon - Therapie.

stande ist. Im gemeinen Leben pflegt man unter T. im Gegensatz zur Praxis die bloße Erkenntnis einer Wissenschaft ohne Rücksicht auf Anwendung derselben zu besondern Zwecken zu verstehen (danach theoretisch, s. v. w. der T. angehörig, wissenschaftlich). In dieser Beziehung behauptet man oft, daß etwas in der T. wahr, für die Praxis aber unbrauchbar sei, welche Behauptung insofern gegründet sein kann, als die Gedanken nach des Dichters Wort "leicht bei einander wohnen", die Sachen aber, deren die That zur Verkörperung des Gedankens bedarf, "sich hart im Raume stoßen". - Bei den Griechen hießen Theorien insbesondere auch die Festgesandtschaften, welche von den einzelnen Staaten zu den großen Nationalfesten sowie zu den Festen befreundeter Staaten geschickt wurden, um sich offiziell an der Feier zu beteiligen. Diese Festgesandtschaften waren Ehrengäste des betreffenden Staats.

Theorikon (griech.), bei den alten Athenern das Theatergeld, eine seit Perikles aus der Staatskasse an die ärmern Bürger gezahlte Spende von zwei Obolen (25 Pfennig), um ihnen den Theaterbesuch zu ermöglichen; 338 v. Chr., kurz vor der Schlacht bei Chäroneia, abgeschafft.

Theosophie (griech.), die tiefere Erkenntnis Gottes und göttlicher Dinge; dann im Unterschied von der Theologie und Philosophie das angeblich höhere Wissen von Gott und Welt, welches der Mystik (s. d.) infolge unmittelbarer Anschauung und göttlicher Erleuchtung zu teil werden soll. T. ist daher ein Gesamtname für alle mystischen Systeme, insonderheit auch der auf den Neuplatonismus zurückgehenden pantheistischen. Der neuern Zeit gehören an: Jakob Böhme, V. Weigel, Swedenborg, Ötinger, Saint-Martin, F. v. Baader.

Theotókos (griech., russ. Bogoroditza), "Gottgebärerin", d. h. Maria, die Mutter Jesu, eine Bezeichnung, welche die Griechisch-Gläubigen sehr lieben.

Theoxenien (griech.), Götterbewirtung, ein im alten Griechenland in manchen Gegenden gefeiertes Fest, an welchem neben der Hauptgottheit des Lokalkultus auch alle übrigen Götter gleichsam als Gäste derselben gefeiert wurden. Eine solche Feier fand namentlich zu Delphi in dem danach benannten Monat Theoxenios (August) im Namen des Apollon statt. Über die Art derselben ist näheres nicht bekannt.

Thera, Insel, s. Santorin.

Theramenes, Athener, Adoptivsohn Hagnons, fein gebildet, klug und beredt, aber charakterlos, gehörte anfangs zur gemäßigten Partei der Oligarchen und nahm 411 v. Chr. am Umsturz der Solonischen Verfassung, dann aber, zur Volkspartei übergehend, an ihrer Herstellung teil. Er kämpfte daraus bei Kyzikos, vor Byzanz und bei den Arginusen mit; da er sich aber zurückgesetzt und seinen Ehrgeiz nicht befriedigt fand, so ging er wieder zur volksfeindlichen Partei über und betrieb die Verurteilung der sechs Feldherren, welche bei den Arginusen gesiegt, wegen der Versäumnis der Aufsammlung der Leichen, welche eigentlich ihm selbst zur Last fiel. Nachdem er 405 bis 404 durch seine langwierigen Verhandlungen mit Lysandros die Athener an einer mutigen Verteidigung ihrer Stadt gehindert und sie zum schimpflichen Frieden gezwungen hatte, erreichte er das Ziel seiner Herrschsucht, indem er zu einem der 30 Tyrannen ernannt wurde. Da er die Grausamkeiten seiner Genossen nicht billigte und dem gewalttätigen Kritias sich widersetzte, ward er 403 von diesem zum Tod verurteilt und mußte den Giftbecher leeren. Vgl. Pöhlig, Der Athener T. (Leipz. 1877).

Therapeuten (griech., "Diener", nämlich Gottes), ein Orden von Asketen, welche, den Essäern ähnlich, am See Möris bei Alexandria lebten. Übrigens kennen wir sie bloß aus einer etwas zweifelhaften Schrift: "De vita contemplativa", welche bislang Philo zugeschrieben wurde, jetzt aber als Machwerk christlich-asketischen Ursprungs erkannt ist, und ihre historische Existenz steht keineswegs ganz fest. Vgl. Lucius, Die T. (Straßb. 1879).

Therapie (griech., "Dienst, Pflege", Heilkunst), derjenige Teil der Medizin, welcher den eigentlichen Endzweck des medizinischen Wissens bildet, die Lehre von der Behandlung der Krankheiten. Die Mutter der T. ist die Erfahrung, und so findet sich in den Uranfängen der medizinischen Kunst noch vor Hippokrates oder irgend einer ausgebildeten Lehre die empirische Behandlung vor, welche bis auf unsre Tage ihr gutes Recht geltend macht und nicht selten Aufgaben löst, die für die exakte Forschung noch auf lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln sind. So hat vor mehreren Jahrhunderten die Erfahrung gelehrt, daß das Einimpfen von Kuhpockenlymphe einen Schutz gegen die wahren Pocken gewährt; seitdem sind dank der durchgreifenden Einführung der Impfung die Blatterepidemien aus den Kulturländern fast verschwunden, und noch immer sucht man nach der Ursache, auf welcher dieser geheimnisvolle Schutz beruht. Seit langem ist die geradezu spezifische Wirkung des Quecksilbers gegen die Syphilis oder des Chinins gegen das Wechselfieber bekannt, jeder Arzt wendet diese Mittel empirisch an, aber niemand kann Auskunft geben, auf welche Weise diese Wirkung zu stande kommt. Neben der Erfahrungstherapie hat es zu allen Zeiten eine rationelle Behandlung gegeben. Diese Ratio nun ist so wechselvoll gewesen wie die vielfachen Systeme und Schulen der Medizin (s. d.) selbst, welche im Lauf der Jahrtausende aufeinander gefolgt sind, und rationelle T. bedeutet darum nichts allgemein Feststehendes, sondern nur ein auf dem Grund irgend welcher gerade herrschenden Lehre aufgebautes Heilverfahren. Es ist z. B. rationell, wenn man einen Nierenkranken, dessen Harnabsonderung stockt, in heiße Decken hüllt, damit die im Blut sich anhäufenden schädlichen Stoffe auf einem andern Weg durch den Schweiß, aus dem Körper entfernt werden. Diese T. beruht auf einer Reihe von wissenschaftlich begründeten Vorstellungen, bei denen der Arzt zielbewußt handelt, während er beim Wechselfieber vorläufig das "Warum" seiner T. noch nicht kennt. - Radikalkur ist eine solche T., bei welcher das Übel gleichsam mit der Wurzel (radix) ausgerissen werden kann, z. B. eine erfolgreiche Bandwurmkur, die Durchschneidung verkürzter Sehnen, das Ausziehen eines schmerzenden Zahns etc. Ist eine solche gründliche T. nicht möglich, etwa weil das Organ nicht zugänglich ist, so muß sich die T. beschränken, die drohendsten oder lästigsten Symptome, z. B. den Schmerz durch Betäubungsmittel, zu bekämpfen (symptomatische T.). Liegt eine Krankheit vor, bei welcher erfahrungsgemäß ein günstiger Ausgang zu erwarten ist, wie bei Masern, leichten Fällen von Lungenentzündung bei kräftigen Personen, so muß sich der Arzt abwartend verhalten und nur jederzeit aufmerksam sein, daß nicht etwanige neue Übel hinzutreten; man spricht dann wohl von exspektativer T., die aber eben nur eine Beobachtung ist. Dies sind dann die Fälle, bei denen die Homöopathie, die Naturheilung und andre Systeme ihre Triumphe feiern, da sich eben die Prozesse durch kein Mittel in ihrem Ablauf beschleunigen lassen. Das Vorbeugen

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Theremin - Thermen.

durch Schutzmaßregeln, welche die Entstehung oder Verbreitung einer Krankheit hemmen, heißt Prophylaxis. Eine T. ohne eine gründliche Kenntnis der Pathologie ist weder wissenschaftlich denkbar noch vor dem Gewissen eines ehrlichen Menschen zu verantworten. Es gibt deswegen kein Lehrbuch der T., das nicht gleichzeitig ein solches der Pathologie wäre, wohl aber Lehrbücher der Pathologie, welche nicht von T. handeln. Vgl. Billroth, Allgemeine chirurgische Pathologie und T. (14. Aufl., Berl. 1889); die Handbücher der allgemeinen Pathologie und T. von Lebert (2. Aufl., Tübing. 1875) und F. v. Niemeyer (11. Aufl., das. 1881, 2 Bde.); Petersen, Hauptmomente in der geschichtlichen Entwickelung der medizinischen T. (Kopenh. 1877).

Theremin, Ludwig Friedrich Franz, protest. Kanzelredner, geb. 19. März 1780 zu Gramzow in der Ukermark, wurde 1810 zum Prediger der französischen Gemeinde in Berlin, 1814 zum Hof- und Domprediger und 1824 zum Oberkonsistorialrat und vortragenden Rat im Ministerium des Kultus, 1834 zum Wirklichen Oberkonsistorialrat ernannt und bekleidete seit 1839 zugleich eine Professur an der Berliner Universität. Er starb 26. Sept. 1846. Außer "Predigten" (Berl. 1829-41, 9 Bde.) u. Erbauungsschriften, wie die "Abendstunden" (6. Aufl., Frankf. 1869), die sich besonders durch klassische Form auszeichnen, veröffentlichte er: "Die Beredsamkeit, eine Tugend" (Berl. 1814; neue Ausg., Gotha 1889) und "Demosthenes und Massillon, ein Beitrag zur Geschichte der Beredsamkeit" (Berl. 1845). Vgl. Nebe, Zur Geschichte der Predigt, Bd. 3 (Wiesb. 1878).

Therese, Schriftstellername, s. Bacheracht.

Therese von Jesu, Heilige, geb. 1515 zu Avila in Altkastilien, wo sie 1535 in ein Karmeliterkloster trat. Sie stellte in den von ihr reformierten Klöstern der unbeschuhten Karmeliterinnen den Orden in seiner ursprünglichen Reinheit wieder her und hatte schwere Verfolgungen von seiten der Karmeliter der laxen Observanz auszustehen, die selbst gegen sie einen Ketzerprozeß anstrengten. Sie starb 1582 im Kloster zu Alba de Liste in Altkastilien und ward 1622 kanonisiert. Ihre bei den katholischen Mystikern in hohem Ansehen stehenden Erbauungsbücher (die berühmtesten: "Selbstbiographie", "Seelenburg" u. a.), in denen sie in Visionen und ekstatischen Zuständen schwelgt, wurden in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, ins Deutsche von Schwab (3. Aufl., Regensb. 1870, 5 Bde.) und L. Clarus (2. Aufl., das. 1866-1868, 5 Bde.). Ihre Briefe ("Cartas de Santa Teresa de Jesus") erschienen in 4 Bänden (Madr. 1793; deutsch in den genannten Ausgaben). Vgl. Pösl, Das Leben der heil. T. (2. Aufl., Regensb. 1856); Hofele, Die heilige T. (das. 1882); Pingsmann, Santa Teresa de Jesus (Köln 1886).

Theresienorden, bayr. Damenorden, gestiftet 12. Dez. 1827 von der Königin Therese von Bayern als Auszeichnung und Unterstützung für zwölf unvermögende adlige unverheiratete Damen, die jährlich 516 Mk. beziehen. Auch andre adlige Damen können ihn erhalten, heißen aber Ehrendamen und genießen keine Einkünfte. Die Dekoration ist ein hellblau emailliertes, mit der Krone gedecktes Kreuz, in dessen Mittelschild auf dem Avers ein T, vom Rautenkranz, auf dem Revers 1827, von der Devise: "Unser Erdenleben sei Glaube an das Ewige" umgeben, sich befinden. Das Band ist weiß mit himmelblauen Rändern.

Theresienstadt, Stadt und Festung in der böhm. Bezirkshauptmannschaft Lettmeritz, an der Eger, unweit ihrer Mündung in die Elbe, Station der Österreichischen Staatseisenbahn, mit Lederfabrik, Bierbrauerei, Mühlen und (1880) mit Einschluß ron 4325 Mann Militär 7014 Einw. Der Fluß kann durch Schleusen, die durch eine Citadelle gedeckt sind, zu Inundationen benutzt werden. T. wurde 1780 von Joseph II. angelegt und zu Ehren seiner Mutter benannt.

Theresiopel, ungar. Stadt, s. Maria-Theresiopel.

Therezina, Hauptstadt der brasil. Provinz Piauhy, am Parnahyba, 250 km oberhalb dessen Mündung, regelmäßig angelegt, aber ohne hervorragende öffentliche Gebäude, mit Gewerbeschule, Lyceum und 6000 Einw., die lebhaften Handel treiben, den die kleinen, den Fluß befahrenden Dampfschiffe vermitteln.

Theriak (griech.), altes Universalarzneimittel in Form einer Latwerge, angeblich vom Leibarzt Kaiser Neros, Andromachus, erfunden, ist aus 70 Stoffen zusammengesetzt und wurde bis in die neuere Zeit in den Apotheken Venedigs, Hollands, Frankreichs mit gewissen Feierlichkeiten und unter Aufsicht von Magistratspersonen gefertigt. Jetzt wird es nur noch bei Tierkrankheiten benutzt. Nach der "Pharmacopoea germanica Ed. I." bereitet man T. aus 1 Teil Opium, 3 Teilen spanischem Wein, 6 Teilen Angelikawurzel, 4 Teilen Rad. Serpentariae, 2 Teilen Baldrianwurzel, 2 Teilen Meerzwiebel, 2 Teilen Zitwerwurzel, 2 Teilen Zimt, 1 Teil Kardamom, 1 Teil Myrrhe, 1 Teil Eisenvitriol und 72 Teilen gereinigtem Honig.

Theriakwurz, s. Valeriana.

Theriodónten, s. Reptilien, S. 738.

Thermä, Name mehrerer alter Orte mit warmen Quellen. Am bekanntesten sind: Thermae Himerenses, an der Nordküste von Sizilien, westlich von Himera, dessen Einwohner es nach der Zerstörung ihrer Stadt gründeten, seit Ende des ersten Punischen Kriegs im Besitz der Römer; heute Termini. Ein zweites T. (Thermae Selinuntinae) lag an der Südwestküste von Sizilien bei Selinus; heute Sciacca.

Thermäischer Meerbusen, im Altertum Name des Golfs von Saloniki (in ältester Zeit Thermä).

Thermästhesiometer (griech.), Vorrichtung zur Prüfung des Temperatursinns, beruht im wesentlichen auf der Applizierung eines erwärmten, resp. abgekühlten Thermometers.

Thermen (griech.), "warme Quellen", d. h. solche, welche eine höhere Temperatur besitzen als die mittlere Jahrestemperatur der Orte, an denen sie auftreten. Sie sind eine besondere Art der Mineralquellen (s. d.), eben durch diese erhöhte Temperatur charakterisiert, wogegen ihr Gehalt an gelösten Mineralbestandteilen oft ein auffallend geringer ist. Nach der am meisten verbreiteten Ansicht verdanken sie ihre hohe Temperierung der Erdwärme, indem sie aus bedeutenden Tiefen, in denen die Gesteine eine hohe, sich den Wässern mitteilende Temperatur besitzen, emporsteigen (vgl. Erde, S. 746). - Bei den Römern führten diesen Namen (thermae) zum Unterschied von den gewöhnlichen Bädern (balnea) die unter Augustus von Agrippa eingeführten öffentlichen Anstalten, welche die Einrichtung der griechischen Gymnasien (Ringplatz, offene und bedeckte Säulenhallen, Konversatsonszimmer, Räume für den Unterricht und die verschiedenen Übungen, namentlich auch für das Ballspiel, allgemeines Badebassin u. a.) mit warmen Bädern verbanden. Die umfangreichsten und prächtigsten Anlagen dieser Art befanden sich in Rom und sind zum Teil noch in Trümmern vorhanden, insbesondere die des Caracalla (Rekonstruktion s. Tafel "Baukunst VI", Fig. 11); der Erhaltung nach nehmen die wichtigste Stelle ein die beiden T. von Pompeji (den Plan der einen s. Bad, S. 222, Fig. 2).

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thermia - Thermochemie.

Vgl. "Le terme dei Romani" (Zeichnungen von Palladio, hrsg. von Scamozzi, Vicenza 1785); Canina, L'architettura romana, Bd. 1; Overbeck, Pompeji (4. Aufl., Leipz. 1884); Marquardt, Privatleben oer Römer, Bd. 1 (2. Aufl., das. 1886).

Thermia (das alte Kythnos), griech. Insel im Ägelschen Meer, zu den Kykladen gehörig, 76 qkm (1,38 QM.) groß, gebirgig, aber wohl angebaut, mit (1879) 2923 Einw., die vorliegend Seeleute oder Weinbauer sind. Die Hauptstadt Kythnos, im Zentrum der Insel, ist Sitz eines griechischen Bischofs, hat einen Hafen und (1879) 1523 Einw. An der Nordostküste befinden sich mehrere hauptsächlich salzsaure Soda und Magnesia enthaltende Quellen von 40-55° C., von denen die Insel ihren modernen Namen hat.

Thermidor (auch Fervidor, franz., "Hitzemonat"), der elfte Monat im franz. Revolutionskalender, vom 19. Juli bis 17. Aug. Merkwürdig ist der 9. T. des Jahrs II (27. Juli 1794), an welchem Robespierre gestürzt ward, dessen Gegner sich deshalb Thermidoristen nannten.

Thermik (griech.), Lehre von der Wärme (s. d.).

Thermische Anomalie, s. Isanomalen.

Thermobarograph, s. Meteorograph.

Thermobarometer, s. Barothermometer.

Thermo-cautère (griech.-franz., spr. -kotähr), s. v. w. Paquelinscher Brennapparat.

Thermochemie (griech.), die Lehre von den durch chemische Prozesse bedingten Wärmeerscheinungen. Die neuere Physik lehrt bekanntlich, daß der Wärmezustand eines Körpers bedingt werde durch die Art der Bewegung der kleinsten Massenteilchen, der Moleküle. Je schneller sich diese Teilchen bewegen, je größer ihre lebendige Kraft ist, um so wärmer erscheint uns der Körper, dem sie angehören; je geringer dagegen die Geschwindigkeit der Moleküle ist, um so weniger Wärme wird der Körper zu enthalten scheinen. Mithin muß, wenn durch irgendwelche äußere Einwirkung oder innere Veränderung die Bewegung der Moleküle in einem beliebigen Massensystem geändert wird, auch der Wärmezustand dieses Systems eine Veränderung erleiden. Wenn sich zwei isolierte Gasatome, die sich vollkommen unabhängig voneinander bewegen, zu einem Molekül vereinen, so werden bedeutende Bewegungsgrößen zerstört, da die früher frei beweglichen Atome durch die chemische Verbindung gezwungen sind, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen. Der scheinbare Wärmeinhalt des Systems wird also nach der Vereinigung der beiden Atome ein geringerer sein, es wird während der Vereinigung Wärme nach außen abgegeben. Mithin wird bei der chemischen Vereinigung zweier Atome stets Wärme frei. Zur Trennung der chemisch vereinten Atome ist die Anziehungskraft zu überwinden, welche die Atome zwingt, sich innerhalb bestimmter Grenzen zu bewegen; den Atomen ist eine so lebhafte Bewegung mitzuteilen, daß sie sich voneinander losreißen, sich unabhängig voneinander bewegen können. Es wird also bei der Zersetzung einer chemischen Verbindung Wärme von außen zugeführt werden müssen, es wird Wärme gebunden werden und zwar genau so viel, wie bei der Entstehung der betreffenden Verbindung frei geworden war. Da nun aber bei der Entstehung einer chemischen Verbindung um so mehr Wärme frei wird, je größer die durch die Affinität zerstörten oder richtiger in Wärme verwandelten Bewegungsgrößen der Elementaratome oder nähern Bestandteile der fraglichen Verbindung waren, so gibt die frei werdende Wärmemenge ein relatives Maß der bei der Entstehung der fraglichen Verbindung sich betätigenden Verwandtschaftskräfte ab, vorausgesetzt, daß nicht anderweitige physikalische oder chemische Vorgänge, welche sich neben der eigentlichen Reaktion abspielen, von Wärmeerscheinungen begleitet sind. Das letztere ist nun gewöhnlich der Fall, so daß die thermochemischen Daten nur mit Vorsicht als Maß für die chemischen Verwandtschaftskräfte zu benutzen sind. Wenn bei der Vereinigung von Wasserstoff und Chlor zu gasförmiger Chlorwasserstoffsäure 22 Kal. entwickelt werden, so ist diese Wärmeentwickelung nicht durch die bei der Vereinigung der beiden Gase in Frage kommende Affinität allein bedingt, sondern es kommen noch andre Faktoren in Betracht. Der Prozeß ist nicht: H+Cl==HCl, sondern: H2+Cl==2HCl, d. h. es müssen erst die Wasserstoff- und die Chlormoleküle in die diskreten Atome zerlegt werden, ehe die letztern sich zu Chlorwasserstoff vereinigen können. Die oben angeführte Wärmetönung gibt also die Bildungswärme des Chlorwasserstoffs, vermindert um die Zersetzungswärme der Wasserstoff- und der Chlormoleküle. Aus dem Umstand, daß jede Wärmetönung, wie sie durch die direkte Beobachtung gegeben wird, als eine Differenz angesehen werden muß, ergibt sich auch die Erklärung für die sonst schwerverständliche Thatsache, daß viele Verbindungen unter Wärmeabsorption entstehen. Nichtsdestoweniger haben die thermochemischen Daten als relatives Maß der bei einem chemischen Prozeß zum Ausgleich kommenden Affinitäten ihren hohen Wert. Man darf eben nur auf solche Prozesse bezügliche Zahlen direkt miteinander vergleichen, welche analog verlaufen und Produkte von analoger Konstitution liefern, so daß man eine annähernde Gleichheit der sekundären Wärmeerscheinungen annehmen kann. Die letztern werden sich dann bei der Differenzierung aufheben.

Es gibt eine Reihe wichtiger chemischer Prozesse, deren Verlauf teils wegen der Langsamkeit der Reaktion, teils wegen der geringen Beständigkeit der dabei entstehenden Produkte und aus ähnlichen Gründen keiner genauen thermischen Untersuchung unterzogen werden kann. Will man nun dennoch einen Aufschluß über die durch derartige Prozesse bedingten Wärmeerscheinungen erhalten, so muß man mittels Rechnungsoperationen aus anderweitigen Versuchsdaten erschließen, was die direkte Beobachtung nicht ergeben kann. Die Handhabe für diese Rechnungen bietet der sogen. zweite Hauptsatz der T., welcher aussagt, daß, wenn ein System einfacher oder zusammengesetzter Körper unter bestimmten äußern Umständen und Bedingungen chemische und, wie wir gleich hinzusetzen können, physikalische Veränderungen erleidet, die dabei auftretende Wärmeabsorption oder Emission allein von dem Anfangszustand und dem Endzustand des Systems abhängig ist und dieselbe bleibt, welches immer die Beschaffenheit und die Aufeinanderfolge der Zwischenzustände sei. Es geht daraus hervor, daß, wenn ein System von zwei verschiedenen Anfangszuständen zu demselben Endzustand oder von einem und demselben Anfangszustand zu zwei verschiedenen Endzuständen übergeführt wird, die Differenz der diesen beiden Prozessen entsprechenden Wärmetönungen diejenige Wärmetönung ergibt, welche dem übergang des Systems aus dem einen Anfangs-, bez. Endzustand in den andern entspricht. Die Affinitätskräfte beruhen auf der Zerstörung von Bewegungsgrößen oder richtiger auf ihrer Verwandlung in Wärme. Jedes bewegte Massensystem strebt aber dem Zustand des stabilen Gleichgewichts zu, und das Gleichgewicht ist am stabilsten, wenn das System den größtmöglichen Verlust an lebendiger Kraft er-

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Thermochrose - Thermoelektrizität.

litten hat. Mithin ist stets die wahrscheinlichste Reaktion, vorausgesetzt, daß nur die Affinitätskräfte den Verlauf derselben bedingen, diejenige, bei welcher die Atome den größten Verlust an lebendiger Kraft erleiden, bei welcher also die größte Wärmemenge entwickelt wird. Dies Prinzip der größten Arbeit, das am meisten bestreitbare und auch bestrittene Prinzip der T., ist nur eine erste Annäherung, welche man unter Vernachlässigung aller sekundären Kräfte erhält, und welche ihren Wert nur so lange bewahren kann, als diese Vernachlässigung statthaft ist. Unter dieser Voraussetzung hat das Prinzip für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Reaktion seinen großen Wert. Ein Problem, an dessen Lösung man oft gezweifelt hat, ist das, was eintritt, wenn man eine Säure auf das Salz einer andern Säure einwirken läßt. Bringt man z. B. Natriumsulfat und Salpetersäure zusammen, so könnten folgende Reaktionen eintreten: die Salpetersäure könnte die Schwefelsäure vollkommen verdrängen, so daß in der Lösung schließlich nur Natriumnitrat und freie Schwefelsäure vorhanden wären. Es könnte aber auch eine nur teilweise Verdrängung der Schwefelsäure eintreten, so daß wir eine Mischung von Natriumnitrat und Natriumsulfat, von freier Salpetersäure und freier Schwefelsäure in der Endlösung anzunehmen hätten. Die Schwefelsäure würde sich dann aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Natriumsulfat zu Natriumbisulfat vereinigen. Die T. hat die vollkommene Sicherheit dafür verschafft, daß die zuletzt erwähnte Teilung im Schoß der Lösung vor sich geht. Die T. liefert also nicht allein die Mittel, um die Affinitätskräfte einer genauen relativen Messung zu unterziehen, sie gibt zugleich Aufschluß über die Wirkungen dieser Kräfte in Fällen, wo alle rein chemischen Methoden bisher versagt haben. Sie gibt die Handhabe, um über die Möglichkeit, in vielen Fällen sogar über die Wahrscheinlichkeit des Verlaufs eines chemischen Prozesses von vornherein zu entscheiden, und eröffnet der theoretischen chemischen Forschung dadurch ganz neue Bahnen. Vgl. Berthelot, Méchanique chimique (Par. 1879, 2 Bde.); Thomsen, Thermochemische Untersuchungen (Leipz. 1882-1886, 4 Bde.); Naumann, Lehr- und Handbuch der T. (Braunschw. 1882); Jahn, Grundsätze der T. (Wien 1882); Horstmann, Theoretische Chemie einschließlich der T. (Braunschw. 1885); Ditte, Anorganische Chemie, gegründet auf die T. (deutsch von Böttger, Berl. 1886).

Thermochrose (griech., Wärmefärbung), s. Wärmestrahlung.

Thermoelektrizität (griech.), durch Wärme hervorgerufene Elektrizität. Lötet man einen Bügel m n (Fig. 1) von Kupfer an einen Wismutstab o p und erwärmt die eine Lötstelle, so zeigt eine innerhalb des Bügels auf einer Spitze schwebende Magnetnadel a durch ihre Ablenkung, daß ein elektrischer Strom entstanden ist, welcher an der erwärmten Lötstelle vom Wismut zum Kupfer übergeht. Wird die Lötstelle unter die Temperatur der umgebenden Luft abgekühlt, so entsteht ein thermoelektrischer Strom von entgegengesetzter Richtung. Verbindet man einen Antimonstab mit dem Kupferbügel, so geht der Strom an der erwärmten Lötstelle vom Kupfer zum Antimon. Einen solchen aus zwei Metallen, welche an zwei Stellen miteinander verlötet sind, gebildeten Bogen nennt man ein geschlossenes thermoelektrisches Element (Thermoelement). Zwei Metallstäbchen, welche bloß am einen Ende zusammengelötet sind, während die freien Enden Leitungsdrähte tragen, bilden ein offenes thermoelektrisches Element (Fig. 2), das zu einem geschlossenen wird, wenn man die Drahtenden miteinander in leitende Verbindung bringt. Die verschiedenen Metalle lassen sich in eine Reihe (thermoelektrische Spannungsreihe) derart ordnen, daß, wenn man aus zwei derselben ein Element bildet und die Lötstelle erwärmt, der positive Strom von dem in der Reihe höher stehenden Metall zu dem tiefer stehenden übergeht; diese Reihe ist: Wismut, Quecksilber, Platin, Gold, Kupfer, Zinn, Blei, Zink, Silber, Eisen, Antimon. Einige Schwefel- und Arsenmetalle sowie einige Oxyde, z. B. Kupferkies, Arsenikkies, Bleiglanz, Pyrolusit etc., stehen noch über dem Wismut, eine Legierung aus 2 Teilen Antimon mit 1 Teil Zinn noch unter dem Antimon. Zur Konstruktion möglichst wirksamer Thermoelemente wählt man zwei Metalle, welche in der Spannungsreihe weit voneinander entfernt stehen, z. B. Wismut und Antimon. Die Wirkung wird verstärkt, wenn man mehrere Elemente nach Art der Voltaschen Säule zu einer thermoelektrischen Säule (Thermosäule, Fig. 3) verbindet; mehrere Stäbchenschichten, deren Zwischenräume mit einer isolierenden Substanz ausgegossen sind, werden, zu einem Bündel vereinigt, in eine Fassung p (Fig. 4) gebracht, so daß ihre Endstäbchen mit den Stiften x und y in leitender Berührung stehen. Eine solche Thermosäule in Verbindung mit einem Galvanometer (Multiplikator) wird Thermomultiplikator genannt und bildet ein sehr empfindliches Mittel zum Nachweis und zur Messung der strahlenden Wärme. Marcus hat eine größere Thermosäule konstruiert, worin einerseits eine Legierung aus 10 Teilen Kupfer, 6 Teilen Zink und 6 Teilen Nickel, an-

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Thermograph - Thermometer.

derseits eine solche aus 12 Teilen Antimon, 5 Teilen Zinn und 1 Teil Wismut angewandt wird. Die eine Reihe der Lötstellen wird durch Flammen erwärmt, die andre durch Wasser oder Eis gekühlt. 30 Elemente dieser Art erzeugen einen Elektromagnet von 75 kg Tragkraft. Weit günstigere Resultate gibt die Thermosäule von Noë, deren 20 Elemente sternförmig angeordnet sind, von der Mitte aus durch einen Bunsenschen Brenner erwärmt werden und durch Vermittelung kupferner Blechspiralen die Wärme an die Luft abgeben. Ebenfalls auf Luftkühlung eingerichtet ist die Clamondsche Thermosäule; auch sie wird von einem cylindrischen Hohlraum aus geheizt, um welchen die Elemente in übereinander geschichteten Kränzen aufgebaut sind. Vier solche Säulen zu je 400 Elementen, welche zusammen pro Stunde 3,2 cbm Gas verzehren, ersetzen 50 Bunsenelemente und können demnach elektrisches Kohlenlicht erzeugen. Leitet man durch ein Thermoelement einen galvanischen Strom, so bringt derselbe an der Lötstelle eine Temperaturveränderung hervor, welche derjenigen entgegengesetzt ist, die einen Thermostrom von gleicher Richtung erzeugen würde. Geht z. B. der galvanische Strom vom Antimon zum Wismut, so erwärmt sich die Lötstelle; sie kühlt sich dagegen ab, wenn der Strom vom Wismut zum Antimon übergeht (Peltiers Phänomen).

Thermograph (griech.), s. Registrierapparate.

Thermographie (griech.), graphische Darstellung der Schwankungen der Körpertemperatur bei fieberhaften Krankheiten; auch ein dem Naturselbstdruck (s. d.) ähnliches Verfahren mechanischer Vervielfältigung, von Abate in Neapel erfunden, das aber nur geringe Verbreitung gefunden hat.

Thermohypsometer (griech.), s. Barothermometer.

Thermolyse (griech.), s. v. w. Dissociation.

Thermometer (griech., Wärmemesser), Instrument zur Bestimmung der Temperatur. Bei den gewöhnlichen Thermometern mißt man die durch das Fallen und Steigen der Temperatur veranlaßten Volumveränderungen einer in einem Gefäß mit Kapillarrohr eingeschlossenen Flüssigkeit, besonders des Quecksilbers. Das Gefäß ist am besten cylindrisch, weil es bei dieser Form im Verhältnis zu der von ihm aufgenommenen Quecksilbermenge der Umgebung eine größere Oberfläche darbietet. Je größer die Kapazität des Gefäßes im Verhältnis zum Querschnitt des Kapillarrohrs ist, desto merklicher wird das Steigen oder Sinken des Quecksilbers bei gleicher Änderung der Temperatur sein. Das Rohr des Thermometers muß überall gleiche innere Weite haben, so daß ein Quecksilberfaden an allen Stellen desselben gleiche Länge behält. Bei der Anfertigung des Thermometers wird die Luft vollständig aus dem Instrument entfernt. Der Raum über dem Quecksilber muß absolut luftleer sein, so daß letzteres das Rohr beim Umkehren des Instruments bis in die äußerste Kuppe füllt. Das fertige T. wird in schmelzendes Eis getaucht und der Stand des Quecksilbers bestimmt. So erhält man den Gefrierpunkt. Zur Bestimmung des Siedepunktes hängt man das T. in einer Röhre auf, durch welche der Dampf von kochendem destillierten Wasser strömt, und markiert den Stand des Quecksilbers. Durch den Druck der äußern Luft auf das luftleere Instrument wird das Gefäß des letztern etwas zufammengepreßt und dadurch die Skala etwas verrückt. Es ist deshalb der Gefrierpunkt nach längerer Zeit wiederholt zu bestimmen. Den Raum zwischen Gefrier- und Siedepunkt teilt Reaumur in 80, Celsius in 100 Teile oder Grade. Auf den Fahrenheitschen Thermometern ist der Eispunkt mit 32, der Siedepunkt mit 212 bezeichnet, der 0-Punkt liegt also 3.2° F. unter dem Eispunkt. Die Grade über dem Gefrierpunkt werden durch das Zeichen +, die unter dem Gefrierpunkt durch - bezeichnet. Um die Angaben einer der verschiedenen Skalen in eine andre zu übertragen, dienen folgende Formeln:

t° C. = 8/10 t° R. oder 9/5 t + 32° F.,

t° R. = 10/8 t° C. oder 9/4 t + 32° F.,

t° F. = 5/9 (t -32)° C. oder 4/9 (t - 32)° R.

Vergleichnng der Thermometerskalen.

C. R. F. C. R. F.

-40 -32 -40 35 28 95

-35 -28 -31 40 32 104

-30 -24 -22 45 36 113

-25 -20 -13 50 40 122

-20 -16 - 4 55 44 131

-15 -12 5 60 48 140

-10 - 8 14 65 52 149

- 5 - 4 23 70 56 158

0 0 32 75 60 167

5 4 41 80 64 176

10 8 50 85 68 185

15 12 59 90 72 194

20 16 68 95 76 203

25 20 77 100 80 212

30 24 86

Bei Siedepunktbestimmungen ist immer der Barometerstand zu berücksichtigen, weil das Sieden einer Flüssigkeit von dem auf ihr lastenden Druck abhängig ist. Die Thermometerskalen beziehen sich stets auf normalen Barometerstand von 760 mm. Über den Siedepunkt des Wassers hinaus trägt man die Skala empirisch auf und kann sie bis fast zum Siedepunkt des Quecksilbers ausdehnen. Bei -40° gefriert das Quecksilber, und man bedient sich daher zur Messung

Fig. 1. Rutherfords Maximum- und Minimumthermometer.

niedriger Temperaturen des Alkoholthermometers, welches ebenso wie das Quecksilberthermometer angefertigt und nach einem solchen graduiert wird. Rutherfords Maximum- und Minimumthermometer (Thermometrograph, Fig. 1) gibt die höchste und die niedrigste Temperatur an, welche in einer gewissen Zeit geherrscht hat. Es besteht aus einem Weingeist- und einem Quecksilberthermometer, deren Röhren horizontal liegen. In der Röhre des Quecksilberthermometers schiebt das Quecksilber einen feinen Stahlcylinder vor sich her, läßt ihn aber liegen, wenn es sich bei fallender Temperatur zusammenzieht. Im Weingeistthermometer befindet sich ein feines Glasstäbchen, welches aus

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Thermometer (zu verschiedenen Zwecken).

dem Weingeist nicht herauszufallen vermag; es folgt dem beim Sinken der Temperatur sich zusammenziehenden Weingeist, bleibt aber liegen, wenn der Weingeist sich wieder ausdehnt. Das Sixsche Maximum- und Minimumthermometer (Fig. 2) besteht aus einer heberförmig gebogenen Röhre n o p, deren unterer Teil Quecksilber enthält. Das Gefäß d und der linke Schenkel sind bis auf das Quecksilber mit Weingeist gefüllt; im rechten Schenkel, der mit dem Gefäß q endigt, befindet sich über dem Quecksilber ebenfalls Weingeist. Jeder Schenkel der Röhre enthält in seinem mit Weingeist gefüllten Teil einen Stahlstift a und b, von denen der letztere bei steigender Temperatur, der erstere bei fallender Temperatur durch das Quecksilber hinaufgeschoben und beim Rückgang des Quecksilbers stehen gelassen wird. Der Stift a gibt also das Minimum, der Stift b das Maximum der Temperatur seit der letzten Einstellung an. Die Einstellung wird durch einen kleinen von außen an die Röhre gehaltenen Magnet bewirkt, durch welchen man die beiden Stifte wieder bis zu den Quecksilberkuppen herabzieht. Das Six-T. ist namentlich zum Messen der Temperatur der Meerestiefen sehr geeignet. Zur Messung der menschlichen Blutwärme gebrauchen die Ärzte ein kleines Maximumthermometer, das sogen. Fieberthermometer (Fig. 3, natürliche Größe), von dessen Quecksilbersäule das obere Stück durch eine ganz kleine Luftblase von dem übrigen Queck-Silber abgetrennt ist. Beim Steigen wird der abgetrennte Faden vorgeschoben und bleibt bei der Abkühlung an der erreichten Stelle stehen. Durch Schwingen des Thermometers muß vor jeder neuen Beobachtung der abgetrennte Faden wieder bis zum übrigen Quecksilber zurückgeführt werden, wobei eine doppelte Umbiegung der Röhre eine völlige Vereinigung mit diesem verhindert. Beim Gebrauch steckt man das Gefäß des Thermometers in die Achselhöhle oder in den After des Kranken und wartet 10 Minuten bis zur Ablesung. Die Einteilung gestattet, Zehntelgrade abzulesen, und braucht nur im Bereich der vorkommenden Bluttemperaturen ausgeführt zu sein. Das Geothermometer zum Messen der Temperatur in Bohrlöchern ist ein Ausflußthermometer, es besitzt ein großes cylindrisches Gefäß, welches mittels Korks zwischen zwei durch Schrauben verbundene Metallplatten eingeklemmt ist; die Röhre ist oben offen u. so kurz, daß der Endpunkt der Skala noch unter der zu messenden Temperatur liegt. Füllt man nun das Rohr vollständig mit Quecksilber u. überläßt das Instrument einige Zeit neben einem gewöhnlichen T. sich selbst, so kann man die Temperatur, welche es anzeigt, als T notieren; senkt man es dann ins Bohrloch, so dehnt sich das Quecksilber aus, und ein Teil desselben fließt aus. Nach dem Versuch zeigt das Geothermometer t1° und ein gewöhnliches T. daneben t°, wobei t1 kleiner ist als t. Die Temperatur im Bohrloch ist dann x=t-t1+T. Für wissenschaftliche Zwecke wendet man das Luftthermometer (s. Ausdehnung, S. 110) an, bei welchem die Ausdehnung oder Druckzunahme eines bestimmten Volumens Luft gemessen wird. Dieses Instrument gibt zwischen 0 und 100° dieselben Grade an wie das Quecksilberthermometer, über 100° hinaus gibt dagegen letzteres stets höhere Temperaturen an. Das Quecksilber dehnt sich nämlich von 0-100° gleichförmig, von 100° an aber in einem stärkern Verhältnis aus. Nur die Ausdehnung der Luft ist der absorbierten Wärmemenge stets proportional, und deshalb muß man auch, wenn es sich um genaue Bestimmung höherer Temperaturen handelt, stets das Luftthermometer anwenden. Die Benutzung desselben ist aber umständlich, da man die Temperatur nicht direkt ablesen, sondern jedesmal durch einen mehr oder minder umständlichen Versuch ermitteln muß. Das Metallthermometer von Breguet (Fig. 4) ist ein spiralförmig gewundenes, 1-2 mm breites Band, das aus Silber, Gold u. Platin besteht. Drei Streifchen dieser Metalle sind so aufeinander gelötet, daß sich das Gold in der Mitte zwischen dem stärker ausdehnbaren Silber u. dem weniger ausdehnbaren Platin befindet, und dann zu einem sehr dünnen Band ausgewalzt. Das eine Ende der Spirale A ist an einem Stativ befestigt, das andre B trägt einen Zeiger cd, der über einer Kreisteilung schwebt. Beim Wechsel der Temperatur windet sich die Spirale auf oder zu und bewegt so den Zeiger, dessen Angaben nach einem guten Quecksilberthermometer reguliert werden. Das Instrument ist äußerst empfindlich. Bei dem abgebildeten Metallthermometer hängt ein an der Nadel cd befestigtes Stäbchen in das Quecksilbergefäß H H herab, welches mit dem Messingbügel N N A nur durch das Spiralband in leitender Verbindung steht. Wird nun das Quecksilbergefäß mit dem einen, der Messingbügel mit dem andern Pol eines galvanischen Stromerzeugers verbunden, so geht der Strom durch das Spiralband, welches sich infolgedessen erwärmt, und die Nadel dreht sich um eine der Stärke des Stroms entsprechende Anzahl von Graden. Das Quadrantenthermometer (Fig. 5) enthält ein innen aus

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Thermometer (Tiefsee -T.).

Kupfer, außen aus Platin bestehendes, kreisförmig gebogenes Band fgh, dessen eines Ende f befestigt ist, während das andre t t mittels eines Hebelwerks boa durch den gezahnten Bogen cd einen Zeiger z z in Bewegung setzt, sobald sich das Band mehr streckt oder biegt. Bei abnehmender Temperatur bewirkt die Spiralfeder s s eine Drehung in entgegengesetzter Richtung. Auf demselben Prinzip beruht das Metall-Maximum- und Minimumthermometer von Herrmann und Pfister (Fig. 6). Das eine Ende der Spirale s s, welche aus zwei Metallstreifen, außen Stahl, innen Messing, zusammengelötet ist, ist an einen festen Metallzapfen a angeschraubt, das andere Ende b ist frei. Steigt die Temperatur, so dehnt sich das Messing stärker aus als der Stahl, die Spirale öffnet sich etwas, ihr freies Ende geht nach links u. schiebt den leicht beweglichen Zeiger cd mittels des Stifts p vor sich her; beim Erkalten schließt sich die Spirale wieder mehr, ihr freies Ende bewegt sich nach rechts, läßt den Zeiger cd auf der erreichten Maximaltemperatur stehen und schiebt nun den Zeiger fg mittels des Stifts q nach rechts, wo derselbe bei erneuter Erwärmung stehen bleibt und das Temperaturminimum anzeigt. Die bogenförmige Skala wird durch Vergleichung mit einem Quecksilberthermometer graduiert. Solche Spiralen eignen sich sehr gut zur Konstruktion selbstregistrierender T. (s. Registrierapparate, S. 664).

Das Tiefseethermometer von Negretti und Zambra ist ein gewöhnliches Quecksilberthermometer mit cylindrischem Gefäß, dessen Hals verengert und auf besondere Weise zusammengezogen ist (Fig. 7 u. 8). Jenseit dieser Verengerung ist das Thermometerrohr mehr ausgebogen und bildet eine kleine Bucht zur Aufnahme von Quecksilber. Das Ende der alsdann gerade verlaufenden Röhre bildet ein Reservoir für das aus dem cylindrischen Gefäß abfließende Quecksilber. Wird der Apparat zunächst so gehalten, daß dies Gefäß sich unten befindet, so füllt das Quecksilber die ganze Röhre bis zu einem Raum in dem Reservoir am Ende derselben, welcher für die Ausdehnung des Quecksilbers genügt, sobald die Temperatur steigt. Kommt nun aber durch eine plötzliche Umkehrung des Apparats das cylindrische Gefäß nach oben, so zerreißt das Quecksilber bei der Verengerung des Halses, u. der abgerissene Teil des Quecksilbers fließt die Röhre hinab und füllt das Reservoir u. einen Teil der Röhre oberhalb desselben, entsprechend der jedesmaligen Temperatur zur Zeit der Umkehrung; die Röhre ist deshalb von dem Reservoir aus nach oben in Grade eingeteilt und bildet die Thermometerskala. Um das Instrument zur Beobachtung vorzubereiten, muß das cylindrische Gefäß nach unten gebracht werden und so lange in dieser Lage verharren, bis es bei seinem Herablassen in das Wasser die Temperatur seiner Umgebung angenommen hat (Fig. 7). Will man nun für irgend eine Tiefe des Meers, eines Sees oder eines Flusses die Temperatur bestimmen, so muß man das T. umkehren, so daß das cylindrische Gefäß nach oben kommt (Fig. 8), und es in dieser Lage halten, bis die Ablesung nach dem Heraufholen des Thermometers gemacht ist. Die Menge des Quecksilbers in dem untern graduierten Teil der Röhre ist nämlich so gering, daß sie von einer Änderung der Temperatur während des Heraufholens nicht oder nur sehr unbedeutend beeinflußt wird (ausgenommen, wenn diese sehr beträchtlich sein sollte). Dagegen wird sich das Quecksilber in dem cylindrischen Gefäß mit der Ab- und Zunahme der Wärme zusammenziehen oder ausdehnen. In dem letztern Fall wird etwas Quecksilber die Verengerung am Hals des Gefäßes passieren, in die oben erwähnte seitliche Ausbuchtung gelangen und dort verbleiben, solange das Gefäß aufwärts gerichtet ist; somit bleibt die Quecksilbermenge bei dieser Lage des Thermometers in dem untern Teil der Röhre unverändert. Die nach dem Heraufholen des Thermometers mittels der eingeteilten Lotleine an der Oberfläche erfolgende Ablesung desselben gibt also in der That die wirkliche Temperatur der betreffenden, durch die Lotleine bestimmten Tiefenschicht

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Thermomètre automoteur - Theromorphie.

des Wassers an, und das Instrument selbst ist ein genauer Registrierapparat. Bei der Umkehrung des Thermometers in die Lage (Gefäß nach oben) in irgend einer Tiefe muß große Vorsicht angewendet werden. Zu diesem Zweck ist das Instrument in ein hölzernes Gehäuse (s. Figur) eingefügt, welches zum Teil mit Schrotkugeln angefüllt ist, die sich frei von einem Ende zum andern bewegen können, und deren Gewicht so reguliert ist, daß sie den ganzen Apparat gerade schwimmend im Wasser erhalten; dieser selbst ist mittels eines Taues, welches durch eine Öffnung des hölzernen Gehäuses so nahe wie möglich bei dem cylindrischen Gefäß geht, mit der Lotleine befestigt. Bei dem Herablassen wird das T. mit dem Gefäß in der Lage nach unten herabgezogen; bei dem Heraufziehen aber wird der Apparat, infolge des Widerstandes des Wassers, sich umkehren, und das Gefäß kommt in die Lage nach oben (s. Figur). Die Vorrichtung zum Schutz gegen den Wasserdruck besteht in einer das T. umgebenden starkwandigen, hermetisch verschlossenen Glashülle, welche zum größten Teil mit Quecksilber angefüllt ist. Vgl. Gerland, Das T. (Berl. 1885).

Thermomètre automoteur (franz., spr. otomotör), s. Nachtfrost.

Thermomultiplikator, s. Wärmestrahlung.

Thermon, im Altertum Hauptort des erweiterten Ätolien in Griechenland, wozu seit ca. 300 v. Chr. auch Westlokris, Doris, Ötäa und Äniania gehörten, lag am Ostufer der Trichonis (See von Vrachori) und war weniger eine Stadt als ein Komplex von Tempeln, Versammlungsräumen etc. und Sitz des Ätolischen Bundes. T. wurde 218 v. Chr. von Philipp V. von Makedonien geplündert und zerstört, wobei allein 2000 Statuen weggeführt wurden, und blieb seitdem unbedeutend. Seine Ruinen sind wahrscheinlich in Paläo-Bazaro bei Petrochori zu suchen.

Thermopathogenie (griech.), Lehre von der Entstehung des Fiebers.

Thermophore (griech.), s. Radiophonie.

Thermopylen ("Thor der warmen Quellen"), Engpaß an der Grenze der griechischen Landschaften Lokris und Malis (im jetzigen Nomos Phthiotis und Phokis), zwischen dem von Sümpfen umränderten Malischen Meerbusen und einem Ausläufer des Bergs Öta, so benannt nach den daselbst befindlichen warmen Schwefelquellen, war bei einer Länge von mehr als einer Stunde nur 50-60 Schritt breit, an vielen Stellen aber noch weit enger und war als Haupteingang von Thessalien nach Hellas von alters her ein wichtiger strategischer Punkt. Das vom Spercheios herabgeführte Alluvium hat die Küste hier bedeutend verändert und vorgeschoben; kleine Bäche bilden jetzt neben dem Weg einen bodenlosen Sumpf, durch welchen ein Steindamm mit mehreren Brücken führt. - Berühmt ist der Paß besonders durch die heldenmütige Ausopferung des Leonidas und seiner Spartiaten im Juli 480 v. Chr. Während sich die hellenische Bundesflotte an der Nordspitze von Euböa, am Vorgebirge Artemision, aufstellte, übernahmen die Spartaner die Verteidigung der T. gegen das unermeßliche persische Heer. Die dort aufgestellte griechische Schar bestand aus nicht ganz 6000 Mann, darunter bloß 300 Spartiaten unter dem Oberbefehl des Königs Leonidas, welcher die alte Vermauerung des Passes erneuern und den Paß über den Öta am Kallidromos durch 1000 Phoker besetzen ließ. Als Xerxes zum Angriff schritt, schlugen die Griechen die Perser zwei Tage lang, zuletzt selbst die persische Leibwache zurück. Da führte der Malier Ephialtes 20,000 Perser unter Hydarnes auf dem Fußpfad, den die Phoker zu bewachen versäumten, über das Gebirge den streitenden Griechen in den Rücken. Als diese die Kunde von ihrer Umgehung erhielten, beschloß Leonidas, dem Befehl, den Paß zu hüten, gehorsam, mit den Spartiaten zu bleiben und bis auf den letzten Mann zu kämpfen. Die übrigen ließ er zur Verteidigung ihrer Heimat abziehen, mit Ausnahme von 400 Thebanern, die er als Geiseln für die Treue dieser Stadt mitgenommen hatte. Aber auch die 700 Thespier blieben freiwillig bei ihm. Um 10 Uhr vormittags des dritten Tags, als von beiden Seiten die persische Übermacht zum Angriff schritt, führte Leonidas seine Schar mitten unter die Feinde, um ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen; als die Lanzen zersplittert und die Kräfte erschöpft waren, zogen sich die Hellenen auf einen kleinen Hügel südlich von den Quellen zurück, wo sie einer nach dem andern den Pfeilen der Perser erlagen. Von den Thebanern dagegen retteten sich viele dadurch, daß sie nach Leonidas' Tode die Waffen streckten und den Persern beteuerten, daß sie nur gezwungen gegen sie gekämpft hätten. Das Haupt des Leonidas ließ Xerxes auf einen Pfahl stecken, und den Rumpf soll er an das Kreuz haben schlagen lassen. Die Griechen aber widmeten dem Andenken der Helden ein Denkmal mit der Inschrift des Simonides:

Wanderer, meld es daheim Lakedämons Bürgern: erschlagen

Liegen wir hier, noch im Tod ihrem Gebote getreu.

Im J. 191 siegte der römische Konsul Manius Acilius Glabrio über Antiochos d. Gr. und die Ätolier, indem der Legat M. Porcius Cato die Umgehung über das Gebirge ausführte. Auch im griechischen Freiheitskampf wurde hier mehrere Male (6. Sept. 1821, dann 8. und 14. Juli 1822) gekämpft.

Thermosäule, s. Thermoelektrizität.

Thermostat (griech.), Gestell zum bequemen Erhitzen eines Körpers über der Lampe, speziell eine Vorrichtung zur selbsttätigen Regulierung der Temperatur beim Erhitzen. Erreicht die Quecksilbersäule eine bestimmte Höhe, die nicht überschritten werden soll, so schließt sie durch einen in das Thermometer eingeschmolzenen Platindraht einen elektrischen Strom, der nun entweder nur den Wächter durch eine elektrische Klingel herbeiruft, oder auch direkt auf die Flamme wirkt, indem er den Zufluß von Leuchtgas verringert.

Thermotherapie (griech.), Behandlung der Krankheiten mittels heißer Bäder, heißer Bähungen etc.

Thermotonus (griech.), bei Pflanzen mit reizbaren und periodisch beweglichen Organen der durch die Wärme bedingte bewegliche Zustand derselben; vgl. Pflanzenbewegungen.

Théroigne de Méricourt (spr. teroannj d' merikuhr), "die Amazone der franz. Revolution", geb. 13. Aug. 1762 zu Luxemburg, hieß eigentlich Anna Josephe Terwagne, ward in Paris Kurtisane, that sich beim Zug der Pariser nach Versailles (Oktober 1789) hervor, trat in den Dienst der Jakobiner und agitierte für sie in Belgien, wo sie 1790 der kaiserlichen Polizei in die Hände fiel. Nach einjähriger Haft in Wien kehrte sie Anfang 1792 nach Paris zurück, wurde als Verräterin vom Pöbel 10. Aug. beim Sturm auf die Tuilerien ausgepeitscht und starb 9. Juni 1797 im Irrenhaus. Vgl. Fuß, Théroigne de Méricourt (Lüttich 1854).

Theromorphie (griech.), tierähnliche Bildung, sowohl eine Mißbildung als eine atavistische Form, welche auf die Abstammung des Menschen vom Tier hindeutet.

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Theron - Thespis.

Theron, Sohn des Änesidemos aus Gela, Tyrann von Akragas (Agrigent) seit 489 v. Chr., zeichnete sich durch Gerechtigkeit und Milde aus, eroberte Himera, kämpfte 480 in der Schlacht daselbst gegen die Karthager und starb 472. Pindar feiert ihn als Sieger in den Olympischen Spielen. Sein Grabmal zu Akragas galt für ein berühmtes Kunstwerk.

Thersandros, einer der Epigonen, Sohn des Polyneikes und der Argeia, zog mit gegen Theben und ward nach des Eteokles und seines Vaters Tod König von Theben. Später zog er mit gegen Troja und kam in Mysien im Kampf mit Telephos um.

Thersítes, nach griech. Mythus der häßlichste Mann in dem vor Troja lagernden Heer der Griechen, Sohn des Agrios und Verwandter des Diomedes, ein boshafter und schmähsüchtiger Schreier, ward von Odysseus wegen Verleumdung des Agamemnon öffentlich gezüchtigt und nach späterer Sage von Achilleus getötet, weil er dem Leichnam der Amazonenkönigin Penthesileia die Augen ausgerissen hatte. Vgl. Jacobs, Die Episode des T. (in den "Vermischten Schriften", Bd. 6, Leipz. 1844).

Thesa (Tasa, Teja), Stadt in Marokko, östlich von Fes, am Ued el Assar, ein strategisch sehr wichtiger Punkt, hat 3500 Einw., welche mit einer kleinen Garnison des Sultans in der von einer doppelten Mauer umgebenen Stadt leben, aber dieselbe kaum verlassen können, da der die Umgegend bewohnende Stamm der Riata in Wahrheit Herr des ganzen Gebiets ist.

Thesaurus (griech., "Schatz"), bei den alten Griechen s. v. w. Schatzkammer, Schatzhaus. Die in der Regel unterirdischen Schatzhäuser (Thesauren) der alten Herrschergeschlechter gehörten zu den bedeutendsten Anlagen der griechischen Vorzeit; die übliche Grundform derselben war die eines kreisrunden, durch Überkragung horizontaler Schichten kuppelartig geschlossenen Gemachs (am bekanntesten das sogen. Schatzhaus des Atreus zu Mykenä). In der historischen Zeit errichteten die einzelnen Staaten innerhalb des Bezirks allgemein angesehener Heiligtümer (z. B. der zu Olympia und Delphi) eigne Thesauren zur Aufnahme der von ihnen dargebrachten Weihgeschenke. - T. ist außerdem ein in früherer Zeit sehr beliebter und auch jetzt noch vorkommender Titel für Sammlungen von Monographien, zerstreuten Bemerkungen etc., welche, in einem größern Werk vereinigt, ein ganzes wissenschaftliches, besonders sprachliches, Gebiet umfassen, ebenso für umfangreichere, zum Gebrauch für Fachgelehrte bestimmte Wörterbücher. Bekannt sind namentlich: der "T. linguae graecae" von Henricus Stephanus und "T. linguae latinae" von Rob. Stephanus, der "T. antiquitatum graecarum" von Gronovius und "T. antiquitatum romanarum" von Grävius.

Theseus, einer der berühmtesten Heroen des Altertums, Sohn des Königs Ägeus von Athen und der Äthra, ward bei seinem Großvater Pittheus in Trözen erzogen. Herangewachsen, nahm er das Schwert seines Vaters, welches dieser selbst für ihn unter einem Felsblock verborgen hatte, als Erkennungszeichen und ging damit nach Athen. Unterwegs erschlug er die Räuber Periphetes, Sinis, Skiron, Kerkyon, Prokrustes u. a. In Athen angekommen, sollte er auf Anstiften seiner Stiefmutter Medeia (s. d.) vergiftet werden; Ägeus erkannte den Sohn aber am Schwert, und Medeia mußte fliehen. T. machte sich zunächst um das Land verdient, indem er den marathonischen Stier erlegte. Als darauf die Gesandten des Minos nach Athen kamen, um den jährlichen Tribut von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen für den Minotauros zu holen, ließ sich T. unter die Zahl der ausersehenen Opfer aufnehmen, und es gelang ihm, mit Hilfe der Ariadne (s. d.) den Minotauros zu töten (s. Mtnotauros, mit Abbildung). Nach dem Tode des Ägeus trat er die Herrschaft über Attika an und zeichnete sich durch weise Herrschermaßregeln sowie durch kühne Heldenthaten aus. Er stiftete die Panathenäischen und Isthmischen Spiele, zog mit Herakles gegen die Amazonen und erhielt als Siegespreis die Königin Antiope oder Hippolyte, die ihm den Hippolytos gebar, half dem Peirithoos die Kentauren vertreiben und stieg mit demselben in die Unterwelt, um die Persephone zu entführen; hier aber wurden beide gefesselt zurückgehalten, bis sie Herakles befreite. Später nahm T. an dem Argonautenzug und an der kanonischen Jagd teil. Bei seiner Zurückkunft nach Athen den Menestheus, Sohn des Peteos, auf dem Thron findend, ging er nach Skyros, wo er seinen Tod durch einen Sturz von einem Felsen oder durch Verrat des Königs Lykomedes fand. T. war der ionische (speziell athenische) Hauptheros, den seine Verehrer zu gleichem Glanz wie die Dorier ihren Herakles zu erheben suchten, insbesondere Repräsentant des volkstümlichen Königtums. Er erhielt bald Heroendienst in Athen, und es wurde ihm ein prachtvoller Tempel errichtet. Noch jetzt führt ein im Mittelalter als christliche Kirche, dann als Museum benutzter, kunstgeschichtlich höchst bedeutsamer Tempel in Athen den Namen Theseion, wiewohl wahrscheinlich mit Unrecht (s. Athen, S. 997). Die Darstellung des T. auf Kunstwerken ähnelt sehr der des Herakles, nur ist er stets jugendlich aufgefaßt und in seiner ganzen Erscheinung schlanker, die Keule weniger schwer, als die Herakleische. Besonders auf attischen Monumenten (Metopen und Fries des sogen. Theseions in Athen) sind seine Thaten gern dargestellt worden. Vgl. Stephani, Der Kamps zwischen T. und Minotauros (Leipz. 1842); Roßbach, T. und Peirithoos (Tübing. 1852).

Thesiger, Frederick, s. Chelmsford.

Thesis (griech.), ein Satz, namentlich ein zum Beweis aufgestellter (These); in der Metrik der Gegensatz von Arsis (s. d.), ebenso in der Musik.

Thesmophorien (griech.), altes mysteriöses Fest, welches in Athen und vielen andern Orten Griechenlands Anfang November nach Bestellung der Wintersaat gefeiert wurde, und zwar zu Ehren der Demeter Thesmophoros, d. h. der gesetzgebenden Demeter, der Gründerin des Ackerbaues, der bürgerlichen Gesellschaft sowie der rechtmäßigen Eheverbindung. Von der Festfeier, die der Hauptsache nach in einer Prozession der Frauen nahe dem Demetertempel am Vorgebirge Kolias bestand und mit einem Festschmaus unter mimischen Tänzen und Spielen endete, waren die Männer streng ausgeschlossen. Vgl. Mommsen, Heortologie. Antiquarische Untersuchungen über die städtischen Feste der Athener (Leipz. 1864).

Thesmotheten (griech.), s. Archonten.

Thespiä, Stadt im alten Böotien, westlich von Theben, von deren Einwohnern 700 in den Thermopylen kämpften und fielen, wurde von Xerxes zerstört, dann wieder aufgebaut, um später (372 v. Chr.) von den ihr stets feindlichen Thebanern aufs neue zerstört zu werden. T. war Geburtsort des Praxiteles und der Phryne und blühte noch in römischer Zeit. Ruinen bei Erimokastro.

Thespis, nach der griech. Sage der Erfinder des Dramas, speziell der Tragödie, indem er den dithyrambischen Chören bei den Dionysien (Bakchosfesten)

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Thesprotia - Theuriet.

einen Monolog (und also einen Schauspieler) hinzufügte, der in der Regel eine auf Bakchos bezügliche mythische Geschichte enthielt, war aus Ikaria in Attika gebürtig und lebte um 540 v. Chr. Falsch ist die Nachricht, daß T. mit einer wandelnden Bühne aus einem Karren herumgezogen sei; doch ist der Thespiskarren für wandelnde Bühnen seit Horaz sprichwörtlich geworden. Vgl. Schauspielkunst, S. 414.

Thesprotia, Landschaft im alten Epirus, reichte vom Ambrakischen Meerbusen (Golf von Arta) bis an den Thyamis (Kalamas) und ward vom Acheron (heute Phanariotiko) durchströmt. Die Thesproter, die schon in der "Odyssee" als ein seefahrendes, von Königen beherrschtes Volk genannt werden, waren ein illyrischer Stamm, welcher erst allmählich sich hellenisierte; zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs war ihr Staat der mächtigste in Epirus.

Thessalien, alte Landschaft im nördlichen Griechenland, grenzt gegen W. an Epirus, von dem es der Pindos trennt, gegen N. an Makedonien, gegen O. an das Ägeische Meer, gegen S. an den Pagasäischen und Malischen Meerbusen und an das Gebiet der Doloper und Änianen. Die Hauptgebirge sind: der Olympos (2985 m), Ossa (1953 m), Pelion (Plessidi, 1620 m) im N., der Othrys (1728 m) im S., der Pindos (2168 m) im O. Die Gebirge im N. und S. sind leicht zu überschreiten, so daß T. wiederholt Völkerwanderungen und Eroberern zum Durchzugsland diente. Ein nur 800 m hoher Gebirgszug, die berühmten Kynoskephalä, teilt die von jenen Bergen umringte thessalische Ebene, die einst ein Binnensee gewesen ist, in zwei wohlbewässerte Hälften. Hauptfluß ist der Peneios. Der Boden war fruchtbar; besonders gab es gute Weiden, weshalb die Pferdezucht in T. zu Hause war. Die Thessalier waren als Pferdebändiger ebenso berühmt wie als Zauberer. Die einzelnen Stadtgebiete waren (vom Beginn der Olympiaden bis ins 3. Jahrh. v. Chr.) in vier Bezirke (sogen. Tetraden) verteilt. Diese waren: Hestiäotis, nebst dem Gebiet der Perrhäber, der westliche und nördliche Teil des Landes mit den Städten Trikka, Gomphi, Ithome; Pelasgiotis, im O. längs der Halbinsel Magnesia mit Larissa, der größten Stadt des Landes, Krannon, Pherä, Skotussa; Thessaliotis, der südwestliche Teil der thessalischen Ebene, mit Kierion und Pharsalos, und Phthiotis oder Achaia Phthiotis, der Süden u. Südosten des Landes mit Halos und Thebä Phthiotides, wozu als fünfte Landschaft noch der Küstenstrich Magnesia mit der Stadt Demetrias kam, der ein selbständiges Gemeinwesen bildete. S. Karte "Altgriechenland". - Als älteste Bewohner des Landes werden Pelasger genannt, welche die Ureinwohner unterjochten und zu Leibeignen machten, die unter dem Namen Penesten einen ähnlichen unterdrückten Stand bildeten wie die Heloten in Sparta. Die "Ilias" kennt den Namen T. noch nicht. Der Tradition nach fielen 60 Jahre nach Trojas Fall die wahrscheinlich illyrischen Thessalier, ein Teil der Thesproter, aus Epirus in T. ein und veranlaßten dadurch die Dorische Wanderung. Sie wurden später hellenisiert, blieben aber geistig unbedeutend. Um so mehr leisteten sie in athletischen Künsten. Unter den edlen Geschlechtern waren schon zur Zeit der Perserkriege die Aleuaden in Larissa und die Tyrannen zu Pherä, die ihren Ursprung auf Jason zurückführten, berühmt. Unter dem spätern Tyrannen Alexander war T. der Schauplatz eines Kriegs mit den Thebanern unter Pelopidas. Dann stand T. im Bund mit Theben gegen Sparta. Nach Alexanders Ermordung (359) riefen die Aleuaden gegen dessen Nachfolger Tisiphonos und Lykophron den König Philipp von Makedonien zu Hilfe, der sich aber bald selbst zum Herrn des Landes machte. Von da an blieb T. in makedonischer Abhängigkeit, und wenn auch für Augenblicke der Ätolische Bund im Besitz des Landes war, so war es doch schon so weit makedonisiert, daß es keinen weitern Versuch machte, die frühere Selbständigkeit wiederzuerlangen. Als Philipp III. mit den Römern Krieg führte, standen die Thessalier auf seiner Seite. Nach der Schlacht bei Kynoskephalä, in der ersterer besiegt wurde, ward T. mit den andern griechischen Staaten bei den Isthmischen Spielen für frei erklärt (196) und bildete bis 146 einen Bund, um dann unter römischen Einfluß zu gelangen. Es behielt zwar seine Verfassung, wurde aber als Provinz behandelt. Unter den Kaisern wurde es förmlich zu einer solchen gemacht und, da es nicht groß genug war, zu Makedonien geschlagen. Konstantin d. Gr. machte es dagegen zu einer eignen Provinz und stellte es unter die Präfektur Illyrien. Hierauf kam es zum byzantinischen und zu Anfang des 13. Jahrh. zum lateinischen Kaisertum, obwohl sich während dieser Zeit manchmal eigne Dynasten in Besitz des Landes setzten und darin zu behaupten wußten. 1460-1881 war T. in der Gewalt der Türken. Jetzt bildet es die griechischen Nomarchien Larissa und Trikkala. S. Karte "Griechenland".

Thessalonicher, Briefe an die, zwei Schriften des neutestamentlichen Kanons, welche vom Apostel Paulus wahrscheinlich zu Korinth abgefaßt worden sind, ihre Veranlassung in seinem Interesse für die erst kürzlich von ihm gestiftete Gemeinde zu Thessalonich haben und insbesondere ihre Erwartungen von der Zukunft Christi berichtigen sollen. Neuerdings ist die Authentie wenigstens des zweiten dieser Briefe fast gänzlich zweifelhaft geworden. Vgl. P. Schmidt, Der erste Thessalonicherbrief (Berl. 1885).

Thessalonike, Stadt, s. Saloniki.

Thetford, Stadt in der engl. Grafschaft Norfolk, an der Kleinen Ouse, hat Malzdarren, Handel und (1881) 4032 Einw. T. war früher Hauptstadt Ostanglias; die Ruinen eines Palastes und mehrerer kirchlicher Gebäude zeugen noch von seiner ehemaligen Bedeutung.

Thetis (nicht zu verwechseln mit Tethys), in der griech. Mythologie Tochter des Nereus und der Doris, wider ihren Willen Gemahlin des Peleus (s. d.), Mutter des Achilleus. Als Peleus sie wegen des gefährlichen Mittels, durch das sie ihren Sohn unsterblich machen wollte (s. Achilleus), tadelte, stieg sie zu ihrem Vater in die Tiefen des Meers zurück, und nur bisweilen begab sie sich auf die Erde, um ihrem Sohn Achilleus dle zärtlichste Muttersorge zuwidmen.

Theuerdank, s. Pfinzing.

Thëurgie (griech.), die vorgebliche Kunst, sich durch gewisse Zeremonien und Handlungen mit den Göttern und Geistern in nähere Verbindung zu setzen und sie zu Hervorbringung übernatürlicher Wirkungen für sich zu gewinnen. Die T. hat ihren Ursprung bei den Magiern der Chaldäer und Perser. Auch die Ägypter rühmten sich, große Geheimnisse darin zu besitzen. Unter den Philosophen spielte sie bei den Neuplatonikern eine große Rolle, namentlich bei Jamblichos und Proklos. Auch im Mittelalter kommen häufig Spuren von ihr vor. Vgl. Lobeck, Aglaophamus (Königsb. 1829, 2 Bde.), und Litteratur bei Magie.

Theuriet (spr. töria), André, franz. Dichter und Romanschreiber, geb. 1833 zu Marly le Roi bei Paris, studierte die Rechte in Paris und erhielt 1857 eine Anstellung im Finanzministerium. In demselben

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Theux de Meylandt - Thibaudin.

Jahr veröffentlichte die "Revrte des Deux Mondes" ein Gedicht von T.: "In memoriam", das sehr bemerkt wurde, dann aber schwieg er lange. Erst 1867 erschien "Le chemin des bois", ein Band Gedichte, in welchen er den Wald besang, und die ihn zum Liebling der Frauenwelt machten (in 2. Aufl. 1877 von der Akademie gekrönt). Weitere Werke von T. sind : "Les paysans de l'Argonne, 1792", episches Gedicht (1871), "Le Bleu et le Noir, poème de la vie réelle" (1872); dann die Romane: "Mademoiselle Guignon" (1874), "Le mariage de Gérard", "Une Ondine" (1875), "La fortune d'Angèle" (1876), "Raymonde" (1877); ferner: "Le filleul d'un Marquis" (1878), "Le fils Maugars" (1879), "Le sang des Finoël" (1879), "Tante Aurélie", "Mariage de Gérard" (1884), der Novellenband "L'amoureux de la préfète" (1888), "Deux soeurs", Roman (1889), u. a. Die französische Akademie erkannte T. auch als Romanschriftsteller 1878 einen ihrer ersten Preise zu. Als solcher zeichnet er sich ebenfalls durch einen tiefen Sinn für die Natur und ein seltenes, an George Sand erinnerndes Talent aus, landschaftliche Stimmungsbilder zu entwerfen, und entschädigt dadurch für eine manchmal etwas lockere Erzählung oder ungenügende Charakterzeichnung. T. ist seit geraumer Zeit eine der Stützen der "Revue des Deux Mondes".

Theux de Meylandt (spr. thö), Barthélemy Theodore, Graf de, belg. Staatsmann, geb. 25. Febr. 1794 auf Schabroek im Limburgischen, studierte zu Lüttich die Rechte, ward Advokat daselbst, im November 1830 Mitglied des Kongresses, 1831 Mitglied der Deputiertenkammer und im Dezember d. J. Minister des Innern. Nachdem er 1832 mit seinen Kollegen zurückgetreten, ward er im August 1834 mit der Bildung eines neuen klerikalen Ministeriums beauftragt, worin er nebst der Präsidentschaft das Portefeuille des Innern und später das des Auswärtigen übernahm. Nach dem Sturz dieser Verwaltung 1840 ward T. in den Grafenstand erhoben und war noch eine Zeitlang als Minister ohne Portefeuille thätig. 1846 trat er abermals an die Spitze eines klerikalen Kabinetts, mußte aber schon 13. Aug. 1847 infolge des Siegs der liberalen Linken bei den Wahlen zurücktreten und war bis 1870 eins der Häupter der klerikalen Partei in der Kammer. Ende 1871 wurde er in einem neuen klerikalen Ministerium Präsident und Minister ohne Portefeuille. Er starb 21. Aug. 1874 auf seinem Gut Meylandt bei Hasselt.

Thiaki, jetziger Name von Ithaka.

Thianschan (Tienschan, "Himmelsgebirge"), mächtiges Gebirge in Zentralasien (s. Karte "Zentralasien"), das vom 96.° östl. L. v. Gr. in der Wüste Gobi bis zum 65.° in die Ebenen der Bucharei unweit der Stadt Bochara reicht, und etwa 2600 km lang ist. Im O. schmal, wächst das Gebirge nach W. zu an Breite und zerteilt sich hier in spitze, winkelig auseinander gehende Höhenzüge (Terek-Tagh, Alexanderkette, Transilenischer Alata u. a.), so daß die Breite schon am Westrand des Sees Issikul 1500 km beträgt. Die einzelnen Hauptketten erscheinen kulissenartig übereinander geschoben, so daß die nördlichste im W. schon unter dem 77. Meridian endigt, wo die südlichste im O. kaum begonnen. Die Längsthäler herrschen vor, die größern öffnen sich nach W., so das Thal des Ili im N., welches sich zu einem breiten Steppengebiet erweitert, oder das des Tschu. Mit Zunahme der Breite nimmt die Starrheit und Unzugänglichkeit ab, doch ist unsre Kenntnis der Hauptzüge noch sehr lückenhaft, viele Gipfel sind nur aus großer Ferne visiert worden; auch tragen die einzelnen Ketten nicht immer einheitliche Namen. Die äußerste Kette im NO., welche die Dsungarei vom Tarimbecken trennt, reicht im Massiv des Bogdo-ola in die Schneeregion (hier 4000 m), auch das Quelle gebiet des Ili ist von Gletschern umstarrt, und den Issikul umgeben Gipfel von 4500 m; die höchsten Erhebungen scheinen aber dem mittlern Teil anzugehören, wo der Chan-Tengri 6500 m, nach einigen sogar 7500 m erreichen soll. Die meisten Paßeinsenkungen sind hier vergletschert, am Ostfuß des Chan-Tengri führt der Musartpaß (3900 m) als einziger gangbarer aus dem Tekesthal in das Tarimbecken und verbindet so Kuldscha mit Aksu. Die westlichen Pässe sind aber für den Verkehr wichtiger, insbesondere ist der Terek Dawan (3727 m) von alters her Hauptstraße zwischen Ost- und Westturkistan gewesen. Erloschene Vulkane finden sich in beträchtlicher Menge am Westrand des Tarimbeckens, dagegen ist das Vorhandensein thätiger Vulkane bisher nicht festgestellt worden. Das Rauchen des früher als Vulkan bezeichneten Beschan, südlich vom Juldusplateau, ist brennenden Kohlenlagern zuzuschreiben. Vgl. Sewerzow, Erforschung des Thianschangebirgssystems 1867 (Ergänzungsheft zu "Petermanns Mitteilungen", Gotha 1875).

Thianschan-Nanlu, das westliche Becken des Han-hai, besser Tarimbecken genannt ; s. Han-hai.

Thianschan-Pelu, chines. Name der Dsungarei.

Thibaudeau (spr. tibodoh), Antoine Claire, Graf, franz. Staatsmann und Historiker, geb. 23. März 1765 zu Poitiers, ward Advokat daselbst, 1792 Konventsdeputierter, schloß sich der Bergpartei an und stimmte für den Tod des Königs. Nach dem Sturz Robespierres trat er auf die Seite der Gemäßigten, ward im März 1795 Präsident des Konvents, dann Mitglied des Wohlfahrtsausschusses und 1796 Präsident des Rats der Fünfhundert, nach der Revolution vom 18. Brumaire Präfekt von Bordeaux, dann Staatsrat und 1803 unter Erhebung in den Grafenstand Präfekt der Gironde, später der Rhonemündungen. Nach der zweiten Restauration 1815 verbannt, ging er zunächst nach der Schweiz, dann nach Prag, wo er ein Handelshaus errichtete. Nach der Julirevolution von 1830 kehrte er nach Frankreich zurück, beteiligte sich hier aber nicht an den öffentlichen Angelegenheiten. 1852 von Napoleon III. zum Senator ernannt, starb er 8. März 1854. Er schrieb unter anderm: "Mémoires sur la Convention et le Directoire" (Par. 1824, 2 Bde.); "Mémoires sur le Consulat et l'Empire" (das. 1835, 10 Bde.); "Histoire générale de Napoléon Bonaparte" (das. 1827 bis 1828, 5 Bde.; deutsch, Stuttg. 1827-30); "Histoire des États généraux et des institutions représentatives en France" (Par. 1843, 2 Bde.). Nach seinem Tod erschien: "Ma biographie; mes mémoires 1765-92" (Par. 1875).

Thibaudin (spr. tibodäng), Jean, franz. General, geb. 13. Nov. 1822 zu Moulins-Engilbert (Nièvre), trat 1841 in die Schule von St.-Cyr, ward 1843 Infanterieleutnant, diente anfangs in Algier, kämpfte 1859 als Hauptmann in Italien, befehligte 1870 als Oberst das 67. Linienregiment in der Rheinarmee, fiel nach der Kapitulation von Metz in deutsche Gefangenschaft und wurde in Mainz interniert. Von hier entwich er im Dezember unter Bruch seines Ehrenworts nach Frankreich und stellte sich hier dem Kriegsminister wieder zur Verfügung. Nachdem er den Namen seiner Mutter, Comagny, angenommen, wurde ihm das Kommando der 2. Division des 24. Armeekorps bei der Armee Bourbakis und nach der

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Thibaut IV. - Thienemann.

Absetzung des Generals Bressolles das des Korps selbst übertragen, mit welchem T. 1. Febr. 1871 nach der Schweiz übertrat. Nach dem Krieg wurde er zwar von der Untersuchungskommission nicht verurteilt, aber mit Rücksicht auf eine Reklamation der deutschen Regierung in Inaktivität versetzt. Jedoch schon 1872 wurde er rehabilitiert, zum Obersten des 32. Linienregiments ernannt und, da er sich als eifriger Republikaner zeigte, bald zum Brigadegeneral und, nachdem er unter Farre Direktor des Infanteriewesens im Kriegsministerium gewesen war, 1882 zum Divisionsgeneral befördert. Da er bei der Ministerkrisis Ende Januar 1883 sich bereit erklärte, die Ausführung des Prätendentengesetzes gegen die in der Armee dienenden Prinzen von Orléans zu übernehmen, ward er 30. Jan. 1883 zum Kriegsminister ernannt, nahm aber schon im Oktober d. J. auf Verlangen der übrigen Minister seine Entlassung, da er sich weigerte, dem König von Spanien einen Besuch zu machen. 1885 wurde er zum Kommandanten von Paris ernannt, aber wegen seiner Beziehungen zu der durch den Ordensschacher belasteten Frau Limouzin im November 1887 abgesetzt.

Thibaut IV. (spr. tiboh), Graf von der Champagne und Brie, seit 1234 König von Navarra, geb. 1201, war ein eifriges Mitglied der Adelskoalition, die sich die Minderjährigkeit Ludwigs IX. zu nutze machen wollte. Aber der schönen Mutter Ludwigs, Blanche von Kastilien, gelang es, den Grafen auf ihre Seite zu ziehen und ihn später gegen die Rache seiner frühern Freunde zu schützen. Dafür überließ er ihr, als er den Thron von Navarra erbte, die Grafschaften Blois, Chartres und Sancerre. T. starb 1253 in der Champagne nach der Rückkehr aus dem Heiligen Land. Großen Ruhm erwarb sich T. als Trouvère besonders durch seine Liebeslieder; Dante und Petrarca zählen zu seinen aufrichtigsten Bewunderern. Seine Gedichte, welche sich trotz ihres kunstvollen Baues durch den leichten und graziösen Fluß der Verse, Innigkeit und Wahrheit der Gefühle und durch reine und klare Sprache auszeichnen, nehmen eine Art Mittelstellung ein zwischen der nordfranzösischen Lyrik und der Poesie der Troubadoure, und man wird kaum fehl gehen, wenn man annimmt, daß die zartesten und duftigsten Blüten seiner Dichtung unter dem Einfluß des liederreichen Hofs von Navarra erblüht sind. Von den 66 überlieferten Liedern sind 39 Liebeslieder, die andern Kampflieder, fromme Rügelieder etc.; sie sind herausgegeben von Lévesque de la Ravallière (Par. 1742, 2 Bde.) und von Tarbé (Reims 1851). Vgl. Delbarre, Vie de T. (Laon 1850).

Thibaut (spr. tiboh), Anton Friedrich Justus, ausgezeichneter Lehrer des röm. Rechts, geb. 4. Jan. 1772 zu Hameln, studierte in Göttingen, Königsberg und Kiel, ward 1798 Professor in Kiel, 1802 nach Jena und 1806 nach Heidelberg berufen, wo er 28. März 1840 starb. Sein Hauptwerk ist das "System des Pandektenrechts" (Jena 1803, 2 Bde.; 9. Aufl. von Buchholtz, das. 1846). Gemeinschaftlich mit Löhr und Mittermaier gab er Bd. 6-23 des "Archivs für die zivilistische Praxis" (Heidelb. 1823-40) heraus. Seinen "Juristischen Nachlaß" veröffentlichte Guyet (Berl. 1841-42, 2 Bde.). Als Kenner der klassischen Musik bewies er sich in der Schrift "Über Reinheit der Tonkunst" (Heidelb. 1825, 6. Aufl. 1884). Vgl. E. Baumstark, A. F. J. T. (Leipz. 1841).

Thibet, Land, s. Tibet.

Thièle (spr. tjähl, Zihl), linksseitiger Nebenfluß der Aare, 134 km lang, entsteht als Orbe in dem französischen Jurasee Lac des Rousses (1075 m ü. M.), durchfließt, im Val de Joux auf Schweizergebiet übergetreten, den Lac de Joux (1009 m ü. M.) und den Lac Brenet, verschwindet von hier an durch einen Trichter, in welchem die Werke einer Mühle sich befinden, unter den Kalkfelsen und kommt erst 4 km weiter als "Source de l'Orbe" aus einer hohen Felswand wieder hervor (783 m). Bald wieder einen ansehnlichen Bergstrom bildend, zieht die T. durch das enge Thal von Valorbe, betritt unterhalb des Städtchens Orbe ein weites Sumpfland und mündet, schon unter dem Namen Toile oder (Obere) T., in den Neuenburger See (435 m). Als Mittlere Zihl verläßt der Fluß sein großes Läuterungsbassin und erreicht jetzt in geradem, kanalisiertem Lauf den Bieler See. Die Untere T., vom Austritt aus diesem Seebecken bis zur Aare, ist jetzt, nach Ausführung großer hydrotechnischer Arbeiten, mit der Aare selbst vereinigt und erreicht deren altes Bett bei Meienried-Buren (430 m). S. Juragewässerkorrektion.

Thielmann, Johann Adolf, Freiherr von, preuß. General, geb. 27. April 1765 zu Dresden, trat 1782 in ein sächsisches Chevaulegers-Regiment, ward 1784 Leutnant, 1790 zu einem Husarenregiment versetzt, machte die Feldzüge am Rhein mit, ward 1798 Stabsrittmeister und focht 1806 bei Jena. Am 15. Okt. d. J. an Napoleon I. gesandt, ward er ganz von Bewunderung für diesen erfüllt und betrieb die Allianz Sachsens mit Frankreich. Er diente als Major und Flügeladjutant im polnischen Feldzug, ward 1809 Oberst und Generaladjutant sowie kurz darauf Generalmajor, deckte im Kriege gegen Österreich Sachsen, ward 1810 Generalleutnant, kommandierte 1812 in Rußland eine Kavalleriebrigade und zeichnete sich besonders in der Schlacht an der Moßkwa aus, wofür er in den Freiherrenstand erhoben wurde. 1813 war er dafür, daß Sachsen sich von Napoleon lossage, und suchte als Kommandant von Torgau die dort versammelten Truppen zur Vereinigung mit den Alliierten zu bewegen. Als ihm dies nicht gelang, ging er im Mai allein zu denselben über, ward erst Befehlshaber eines Streifkorps, dann des sächsischen Korps, das er 1814 in Frankreich befehligte, trat 9. April 1815 in preußische Dienste über, führte 1815 bei Ligny und besonders bei Wavre das 3. Armeekorps, ward 1816 kommandierender General des 7., 1819 des 8. Korps und starb als General der Kavallerie 10. Okt. 1824 in Koblenz. Vgl. v Minckwitz, Die Brigade T. in dem Feldzug von 1812 in Rußland (Dresd. 1879).

Thielt, Arrondissementshauptstadt in der belg. Provinz Westflandern, Knotenpunkt der Eisenbahnen Lichtervelde-T. und Deynze-Ingelmünster, hat ein Kommunalcollège, Spitzenklöppelei, Leinweberei, Ölfabrikation, Handel und (1888) 9850 Einw.

Thiene (spr. ti-ene), Distriktshauptstadt in der ital. Provinz Vicenza, an der Eisenbahn Vicenza-Schio gelegen, hat einen Palast mit Fresken von Veronese, bedeutende Tuchfabrikation und (1881) 5217 Einw.

Thienemann, Friedrich August Ludwig, Ornitholog, geb. 25. Dez. 1793 zu Gleina an der Unstrut, studierte seit 1813 in Leipzig Medizin und Naturwissenschaften, bereiste seit 1820 den Norden Europas, namentlich Island, ward 1825 als Inspektor des königlichen Naturalienkabinetts nach Dresden berufen und 1839 zum königlichen Bibliothekar ernannt, legte aber schon 1842 aus Gesundheitsrücksichten diese Stelle wieder nieder und starb 24. Juni 1858 in Trachenberg bei Dresden. Seine Hauptwerke sind

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Thienen - Thiers

die "Systematische Darstellung der Fortpflanzungsgeschichte der Vögel Europas" (mit seinem Bruder G. A. W. Thienemann und Chr. L. Brehm, Leipz. 1825 bis 1838, 5 Abtlgn.) und "Fortpflanzungsgeschichte der gesamten Vögel" (das. 1845-56, 10 Hefte mit 100 Tafeln); "Reise im Norden Europas" (das. 1824 bis 1827, 2 Bde.).

Thienen, Stadt, s. Tirlemont.

Thiengen, Stadt im bad. Kreis Waldshut, an der Wutach und der Linie Mannheim-Konstanz der Badischen Staatsbahn, 350 m ü. M., hat eine kath. Kirche, ein Schloß, 2 Bezirksforsteien, Baumwollspinnerei und -Weberei, Verbandstofffabrikation, Viehhandel und (1885) 2231 meist kath. Einwohner.

Thierfelder, Albert, Komponist, geb. 30. April 1846 zu Mühlhausen i. Th., einer der letzten Schüler von Moritz Hauptmann, wirkte als Dirigent zuerst in Elbing, dann in Brandenburg und wurde 1886 als Universitätsmusikdirektor nach Rostock berufen. Er schrieb eine Symphonie in C moll, Sonaten, ein Klavierquartett, das Chorwerk "Zlatorog" (Text von Rud. Baumbach) für Chor, Solo und Orchester, mit verbindender Deklamation, u. a.

Thierry (spr. tjerri), 1) Augustin, hervorragender franz. Geschichtschreiber, geb. 10. Mai 1795 zu Blois, besuchte die Normalschule in Paris, widmete sich dem Studium der Geschichte, namentlich der französischen und englischen, ward 1830 Mitglied der Akademie und starb erblindet 22. Mai 1856 in Paris. Er schrieb: "Histoire de la conquête de l'Angleterre par les Normands" (Par. 1825, 4 Bde.; deutsch, Berl. 1830-1831, 2 Bde.), "Lettres sur l'histoire de France" (Par. 1827, 13. Aufl. 1868), "Dix ans d'études historiques" (1834, 11. Aufl. 1868), "Récits des temps mérovingiens" (1840, 2 Bde., in vielen Ausgaben; deutsch, Elberf. 1855), die von der Akademie mit einem Hauptpreis gekrönt wurden, "Essai sur l'histoire de la formation et des progrès du tiers-état" (1853, neue Ausg. 1868), welche Werke zuletzt in 9 Bänden (Par. 1883) gesammelt erschienen, und gab den "Recueil des monuments inédits de l'histoire du tiers-état" (das. 1843-70, 4 Bde.) heraus. Vgl. Aubineau, M. Aug. T., son système historique et ses erreurs (2. Aufl., Par. 1879).

2) Amédée, namhafter franz. Geschichtschreiber, Bruder des vorigen, geb. 2. Aug. 1797 zu Blois, erhielt eine Professur in Besançon, ward nach der Julirevolution zum Präfekten des Departemnts Obersaône ernannt, 1831 in die Akademie aufgenommen, 1838 Requetenmeister im Staatsrat und 1860 Senator; starb 27. März 1873. Er schrieb: "Histoire des Gaulois jusqu'à la domination romaine" (Par. 1828, 3 Bde.; 6. Aufl. 1877, 2 Bde.); "Histoire de la Gaule sous la domination romaine" (1840-47, 3 Bde.; 4. Aufl., 2 Bde.); "Récits (und "Nouveaux récits") de l'histoire romaine au V. siècle" (1860-1878, 6 Bde.: "Alaric", "Placidie", "Derniers temps de l'Empire d'Occident", "Saint Jérôme, la société chrétienne à Rome et l'emigration romaine en Terre Sainte", "Saint Jean Chrysostome et l'impératrice Eudoxie", "Nestorius et Eutychès"); "Tableau de l'Empire romain" (das. 1862 u. öfter); "Histoire d'Attila et de ses successeurs" (das. 1864; 6. Aufl. 1876, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1874).

Thiers (spr. tjähr), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Puy de Dôme, malerisch am steilen Abhang des Besset (623 m) über der Durolle gelegen, Station der Eisenbahn von St.-Etienne nach Clermont-Ferrand (Abzweigung nach St.-Germain des Fossés), hat 2 Kirchen aus dem 11. Jahrh., viele mittelalterliche Häuser, ein Handelsgericht, Collège, Gewerbeschule, Handelskammer u. (1886) 11,753 Einw. T. ist der Mittelpunkt einer ausgedehnten Messerindustrie, welche über 400 Werkstätten mit gegen 12,000 Arbeitern beschäftigt, und betreibt außerdem Fabrikation von Papier, Quincaillerien, Kerzen, Decken, Asphalt und Leder sowie lebhaften Handel.

Thiers (spr. tjähr), Louis Adolphe, franz. Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 15. April 1797 zu Marseille als Sohn eines Advokaten, studierte in Aix die Rechte, ließ sich 1820 daselbst als Advokat nieder, begab sich aber schon im September 1821 mit seinem Freund Mignet nach Paris, um dort als Journalist seine Talente geltend zu machen. Er schrieb zuerst für den "Constitutionnel", das vornehmste Organ der liberalen Partei, und veröffentlichte außer einer mehrfach aufgelegten Schrift über Jean Law (1826, neue Ausg. 1878) 1823-27 seine "Histoire de la Révolution française" in 6 Bänden (15. Aufl. 1881, 10 Bde.; deutsch von Jordan, Leipz. 1854), welche seinen Ruhm als Historiker begründete. Als Karl X. durch die Ernennung des Ministeriums Polignac der liberalen Partei den Krieg erklärte, gründete diese unter der Leitung von T., Armand Carrel und Barrot im Januar 1830 den "National", der durch die Kraft und Kühnheit seiner Polemik gegen die bestehende Dynastie bald großen Einfluß gewann. Besonders elektrisierte die Massen das von T. erfundene Schlagwort: "Le roi règne, mais ne gouverne pas". Als 26. Juli 1830 die berüchtigten Ordonnanzen erschienen, versammelten sich die Redakteure aller liberalen Journale im Büreau des "National" und erließen unter T.' Leitung einen Protest gegen diese Regierungsmaßregel. Nachdem Sieg der Revolution führte T. die Unterhandlungen mit dem Herzog von Orléans, der auch 31. Juli auf dem Stadthaus den von T. an der Spitze einer Deputation wiederholten Antrag, den Thron zu besteigen, annahm. Als die Ordnung wiederhergestellt war, wurde T. 11. Aug. zum Staatsrat und Generalsekretär, sodann Anfang November von Laffitte zum Unterstaatssekretär der Finanzen ernannt. Zu derselben Zeit von der Stadt Aix in die Deputiertenkammer gewählt, bildete er sich rasch zu einem Redner aus, dessen Präzision und Gewandtheit bald Anerkennung fanden. Hierdurch und durch seine administrativen Gaben den regierenden Kreisen empfohlen, ward er nach Périers Tod 11. Okt. 1832 Minister des Innern, 25. Dez. 1832 des Handels und der öffentlichen Arbeiten. Bei der Umgestaltung des Kabinetts 4. April 1834 übernahm er wieder das Departement des Innern. Während ihn die Strenge, die er bei der Unterdrückung der demokratischen Unruhen in Paris und Lyon zeigte, auf immer mit seinen alten republikanischen Freunden entzweite, ward er dem Hof noch unentbehrlicher und behauptete sich 1834-36 trotz mehrfacher Ministertwechsel im Kabinett, die "Politik des Widerstandes" mit Erfolg verfechtend. Im Februar 1836 erhielt er den Vorsitz im neuen Kabinett zugleich mit dem Portefeuille des Auswärtigen, mußte aber schon 26. Aug. 1836 zurücktreten, da der König dem schon beschlossenen Einschreiten in Spanien zu gunsten des Liberalismus seine Zustimmung versagte, und stand nun zwei Jahre lang an der Spitze der dynastischen Opposition. Seit 13. Dez. 1834 war er auch Mitglied der Akademie. Am 1. März 1840 als Minister des Auswärtigen wieder an die Spitze des Kabinetts gestellt, bewirkte er die Zurückführung der Leiche Napoleons I. von St. Helena und die Befestigung von Paris. Sein Plan, der Quadrupelal-

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Thiers (Louis Adolphe).

lianz vom 15. Juli entgegen den Vizekönig von Ägypten zu unterstützen und in dem allgemeinen Krieg die Rheingrenze wiederzugewinnen, scheiterte an der Weigerung des friedfertigen Königs. T. reichte daher 21. Okt. seine Entlassung ein und griff den schon früher gefaßten Plan wieder auf, die Geschichte Napoleons I. zu schreiben, zu welchem Behuf er 1841 bis 1845 dessen Schlachtfelder in Deutschland und Italien bereiste. In der Kammer gesellte er sich wieder zur Opposition, deren Führung er jedoch nicht erlangte, obwohl er bei den Verhandlungen über die Regentschaft (1842), die Jesuiten (1845) und die Rechte der Universität (1846) heftig gegen die Regierung auftrat. Als die Februarrevolution von 1848 den König zwang, das Ministerium Guizot zu entlassen, sollte T. mit Barrot ein neues bilden, durch welches Ludwig Philipp den Sturm besänftigen wollte. Dasselbe kam aber nicht mehr zu stande, und T. hielt es für geraten, nach Proklamierung der Republik Paris zu verlassen. Er blieb Orléanist und nahm in der Nationalversammlung eine Mittelstellung ein. Den Plänen Napoleons wirkte er eifrig entgegen und ward daher beim Staatsstreich 2. Dez. 1851 verhaftet und dann in das Ausland entlassen. 1852 ward ihm die Rückkehr nach Frankreich gestattet, wo er sich elf Jahre lang vom öffentlichen politischen Leben fern hielt und sich ganz der schriftstellerischen Thätigkeit widmete. Die Frucht derselben war die "Histoire du Consulat et de l'Empire" (Par. 1845 bis 1862, 20 Bde.; Register 1869; deutsch von Bülau, Leipz. 1845-62, 20 Bde.; von Burckhardt und Steger, das. 1845-60, 4 Bde.). 1863 wurde T. in Paris in den Gesetzgebenden Körper gewählt und ward hier der Führer der kleinen, aber mächtigen Opposition. Er bekämpfte in glänzenden Reden ("Discours prononcés au Corps législatif", Par. 1867) besonders den falschen Konstitutionalismus und die auswärtige Politik des Kaiserreichs, sowohl in Zollfragen als namentlich die Intervention in Italien, welche die Gründung der italienischen Einheit, und sein Verhalten 1864-66 in der deutschen Frage, welches Sadowa zur Folge gehabt habe. Um das legitime Übergewicht Frankreichs zu behaupten, drang er auch auf Aufrechthaltung eines tüchtigen stehenden Heers nach altem System, da er von allgemeiner Wehrpflicht und Volksbewaffnung nichts wissen wollte. Mit um so größerer Energie widersetzte er sich 15. Juli 1870 der übereilten Kriegserklärung und erklärte mit später bestätigter Einsicht Frankreich für nicht gerüstet. Nach dem Sturz des Kaiserreichs übernahm er im September eine Rundreise an die Höfe der Großmächte, um sie zu einer Intervention für Frankreich zu veranlassen, kehrte aber Ende Oktober unverrichteter Sache zurück und begann nun im Auftrag der Regierung Unterhandlungen mit dem deutschen Hauptquartier über einen Waffenstillstand, die ebenso erfolglos endeten. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung ward er in 20 Departements zum Deputierten und, da alle Parteien ihr Vertrauen auf ihn setzten, schon 17. Febr. 1871 von der Versammlung zum Chef der Exekutivgewalt gewählt. Seine erste Aufgabe war, den Frieden mit Deutschland zu stande zu bringen; er führte selbst die Verhandlungen mit Bismarck und rettete wenigstens Belfort. Am 1. März setzte er die Annahme des Friedens in der Nationalversammlung durch und bewog 10. März diese, ihren Sitz nach Versailles zu verlegen. Der Kommuneaufstand in Paris 18. März brachte T. in die höchste Bedrängnis, und nur seinem Mut und Selbstvertrauen sowie seiner unermüdlichen Thätigkeit war es zu danken, daß derselbe überwunden und gleichzeitig 10. Mai der definitive Friede mit Deutschland abgeschlossen wurde. Daran schlossen sich die erfolgreichen Maßregeln zur Beschassung der nötigen Geldmittel. Am 31. Aug. 1871 ward er auf drei Jahre zum Präsidenten der Republik ernannt. Nun begannen aber die Schwierigkeiten des Parteigetriebes in der Nationalversammlung. Die monarchistischen Parteien sahen sich in ihren Hoffnungen auf T.' energische Unterstützung getäuscht und rächten sich durch gehässige Angriffe und Ränke, obwohl T. den klerikalen Ansprüchen möglichst nachgab. Als daher T., überzeugt, daß die Herstellung des Königtums in Frankreich, besonders des orléanistischen, eine Unmöglichkeit und die Republik die einzig mögliche Regierungssorm sei, 11. Nov. 1872 die definitive Konstituierung der Republik von der Nationalversammlung verlangte, beschloß die klerikal-monarchistische Majorität derselben, da die Zahlung der Kriegsentschädigung an Deutschland und die Räumung des Gebiets durch den Vertrag vom 15. März 1873 gesichert waren, T. zu stürzen. Am 19. Mai brachte die Rechte eine Interpellation ein über das neue Ministerium, welches T. berufen hatte, um seine Verfassungsvorschläge für die Republik durchzuführen; nach heftiger Debatte ward 23. Mai ein Tadelsvotum gegen dies Ministerium mit 360 gegen 344 Stimmen angenommen und, als T. darauf seine Entlassung gab, diese mit 368 gegen 338 Stimmen genehmigt. T. zog sich darauf wieder vom öffentlichen Leben zurück und nahm nur an wichtigen Abstimmungen in der Deputiertenkammer teil. Nach dem Staatsstreich vom 16. Mai 1877 richteten sich die Hoffnungen aller Republikaner wieder auf T. als das Haupt einer gemäßigten Republik, aber er starb plötzlich 3. Sept. 1877 zu St.-Germain en Laye infolge. eines Schlaganfalls und wurde am 8. in Paris feierlich bestattet. 1879 wurde ihm ein Standbild in Nancy, 1880 ein solches in St.-Germain errichtet. T., von kleiner Gestalt, aber scharf geschnittenen, lebendigen Zügen, war einer der bedeutendsten Staatsmänner Frankreichs im 19. Jahrh. und jedenfalls der populärste. Seine Doktrin war die des konstitutionellen Systems, in welchem der aufgeklärte, wohlhabende Bürgerstand die beste Sicherung seiner geistigen und materiellen Güter erblickte, und welches T. unter der Julimonarchie verwirklicht zu sehen gehofft hatte. Deshalb war ihm die militärische Demokratie eines Napoleon III. verhaßt. Aber über allen Doktrinen stand bei T. seine Nation, Frankreich. Dessen Ruhm und Größe zu vermehren, war sein höchstes Ziel, wie er denn auch ein echter Franzose mit allen Vorzügen und Schwächen dieses Volkes war; er besaß eine unermüdliche Arbeitskraft, feine, edle Bildung, Scharfblick, eine sanguinische Elastizität des Geistes und echten Patriotismus, dabei aber eine naive Selbstsucht und Eitelkeit. Als Geschichtschreiber verherrlichte er die Freiheitsideen der französischen Revolution und den Kriegsruhm Napoleons I. in schwungvoller Sprache und glänzender Darstellung, jedoch keineswegs stets wahrheitsgetreu und unparteiisch. Ganz erfüllt von der Idee, daß Frankreichs berechtigte Suprematie das politische Gleichgewicht Europas bedinge und die kleinen deutschen und italienischen Staaten für diese Suprematie notwendig seien, war er ein heftiger Gegner der italienischen und deutschen Einheitsbestrebungen und, obwohl Voltairianer, ein Beschützer des Kirchenstaats. T.' "Discours parlementaires" wurden von Calmon (1879 bis 1883, 15 Bde.) herausgegeben. Vgl. Laya, Étu-

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Thiersch.

des historiques sur la vie privée, politique et littéraire de M. T. 1830-46 (Par. 1846 2 Bde.); Derselbe, Histoire populaire de M. T. (das. 1872); Richardet, Histoire de la présidence de M. T. (das. 1875); Eggenschwyler,T.' Leben und Werke (Bern 1877); Jules Simon, Le gouvernement de M. T. (Par. 1878, 2 Bde.); Derselbe, T., Guizot, Remnsat (das. 1885); Mazade, M. T. (das. 1884); P. de Remusat,A. T. (das. 1889).

Thiersch, 1) Friedrich, namhafter Philolog, geb. 17. Juni 1784 zu Kirchscheidungen bei Freiburg a. d. Unstrut, vorgebildet in Naumburg und Schulpforta, studierte seit 1804 in Leipzig und Göttingen Theologie und Philologie, ward 1808 Kollaborator am Gymnasium zu Göttingen und Privatdozent an der Universität, 1809 Professor an dem neuerrichteten Lyceum zu München, begründete hier das 1812 mit der Akademie verbundene philologische Institut und zur Vereinigung der jüngern Gelehrten die "Acta philologorum Monacensium" (Münch. 1811-29, 4 Bde.) und ward 1826 nach der Verlegung der Universität Landshut nach München ordentlicher Professor der Philologie und Direktor des philologischen Seminars daselbst. 1831-32 war er in Griechenland, wo er nach dem Tod Kapo d'Istrias' an der Regierung teilnahm und namentlich für Erwählung des Prinzen Otto von Bayern zum König wirkte; 1848 wurde er zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften erwählt. Er starb 25. Febr. 1860. T. ist die Wiederbelebung der philologischen Studien in Bayern zu danken. Von seinen Schriften gehören hierher: "Griechische Grammatik, vorzüglich des Homerischen Dialekts" (Leipz. 1812, 3. Aufl. 1826); "Griechische Grammatik für Schulen" (das. 1812, 4. Aufl. 1855); "Über die Epochen der bildenden Kunst unter den Griechen" (Münch. 1816-19, 2 Bde.; 2. Aufl. 1829); die Bearbeitung des Pindar (Leipz. 1820, 2 Bde.); "Allgemeine Ästhetik in akademischen Lehrvorträgen" (Berl. 1846). Er hat aber auch sehr segensreich auf die Gestaltung des höhern Schulwesens überhaupt eingewirkt; er veröffentlichte hierüber: "Über gelehrte Schulen, mit besonderer Rücksicht auf Bayern" (Stuttg. 1826-37, 3 Bde. in 12 Abtlgn.); "Über den Zustand der Universität Tübingen" (Münch. 1830; "Über die neuesten Angriffe auf die Universitäten" (Stuttg. 1837) und "über den gegenwärtigen Zustand des öffentlichen Unterrichts in den westlichen Staaten von Deutschland, in Holland, Frankreich und Belgien" (das. 1838, 3 Bde.). Auch sonst vertrat er die Grundsätze freierer Lebensgestaltung. In der Schrift "Über den angenommenen Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland" (Münch. 1810) trat er für die angefeindeten Norddeutschen auf, in "Über Protestantismus und Kniebeugung in Bayern" (drei Sendschreiben an Döllinger, Marb. 1844) für seine protestantischen Glaubensgenossen. Noch schrieb er: "De l'état actuel de la Grèce et des moyens d'arriver à sa restauration" (Leipz. 1833, 2 Bde.). Sein Leben beschrieb sein Sohn Heinrich T. (Leipz. 1866-67, 2 Bde.). - Sein Bruder Bernhard, geb. 26. April 1794 zu Kirchscheidungen, 1817 Lehrer in Gumbinnen, 1818 in Lyck, 1823 in Halberstadt, 1832 Direktor des Gymnasiums in Dortmund, gest. 1. Sept. 1855 als Emeritus in Bonn, veröffentlichte: "Über das Zeitalter und Vaterland des Homer" (Halberst. 1824, 2. Aufl. 1832), eine Ausgabe des Aristophanes (nur Bd. 1 und 6, Leipz. 1830) und der "Thesmophoriazusen" von Aristophanes (Halberst. 1832), Forschungen über die westfälischen Femgerichte u. a. T. ist der Dichter des Preußenliedes.

2) Heinrich Wilhelm Josias, Sohn von T. 1), der wissenschaftliche Vertreter des Irvingianismus in Deutschland, geb. 5. Nov. 1817 zu München, studierte daselbst Philologie, in Erlangen Theologie, ward 1839 Privatdozent der theologischen Fakultät zu Erlangen und 1843 Professor in Marburg, legte aber 1850 diese Stelle nieder, um als Pastor an der sich damals in Norddeutschland bildenden irvingianischen Gemeinde zu wirken, lebte seit 1864 ohne Amt in München, Augsburg und Basel, wo er 3. Dez. 1885 starb. Unter seinen Schriften sind zu nennen: "Versuch zur Herstellung des historischen Standpunktes für die Kritik der neutestamentlichen Schriften" (Erlang. 1845); "Vorlesungen über Katholizismus und Protestantismus" (2. Aufl., das. 1848, 2 Bde.); "Über christliches Familienleben" (8. Aufl., Augsb. 1888); "Die Kirche im apostolischen Zeitalter" (3. Aufl., das. 1879); "Döllingers Auffassung des Urchristentums" (Erlang. 1862); "Die Strafgesetze in Bayern zum Schutz der Sittlichkeit" (Münch. 1868); "Die Gleichnisse Christi" (2. Aufl., Frankf. 1875); "Die Bergpredigt Christi" (2. Aufl., Augsb. 1878); "Über den christlichen Staat" (Frankf. 1875); "Christian Heinr. Zellers Leben" (Basel 1876, 2 Bde.); "Die Anfänge der heiligen Geschichte" (das. 1877); "Über die Gefahren und Hoffnungen der christlichen Kirche" (2. Aufl., das. 1878); "Inbegriff der christlichen Lehre" (das. 1886); ferner außer der Biographie seines Vaters (s. oben): "Griechenlands Schicksale vom Anfang des Befreiungskriegs bis auf die gegenwärtige Krisis" (Frankf. 1863). Vgl. Wigand, H. W. T.' Leben, zum Teil von ihm selbst erzählt (Basel 1887).

3) Karl, Mediziner, Bruder des vorigen, geb. 20. April 1822 zu München, studierte daselbst, in Berlin, Wien u. Paris, ward 1848 Prosektor für pathologische Anatomie in München, machte den zweiten schleswig-holsteinischen Krieg unter Stromeyer als freiwilliger Arzt mit und stellte 1854 bei einer Choleraepidemie in München experimentelle Untersuchungen über die Ansteckungsfähigkeit der Cholera an. 1854 wurde er als Professor der Chirurgie nach Erlangen, 1867 nach Leipzig berufen. 1870 machte er als konsultierender Generalarzt im 12. Armeekorps den Krieg gegen Frankreich mit. T. zählt zu den ersten Chirurgen der Gegenwart. Nach einem von ihm in Gemeinschaft mit Wunderlich entworfenen Plan wurde das neue Stadtkrankenhaus zu Leipzig, ein Musterinstitut ersten Ranges, erbaut. Seine hervorragendsten Untersuchungen beziehen sich auf die Wundheilung, deren feinere Vorgänge er mikroskopisch zu erforschen suchte. Die gewonnenen Resultate wurden im "Handbuch der Chirurgie" von Billroth und Pitha veröffentlicht. Auch die praktische Seite der Wundheilung förderte T. als einer der ersten durch Einführung der Salicylsäure als Verbandmittels. über den Epithelialkrebs lieferte er eine bahnbrechende Arbeit (Leipz. 1865).

4) Ludwig, Maler, geb. 12. April 1825 zu München als Sohn von T. 1), besuchte die dortige Akademie, um sich unter Schwanthaler der Bildhauerkunst zu widmen, ging aber nach einigen Jahren zur Malerei über, worin er Schüler von Heinrich Heß, Schnorr und insbesondere von Schorn wurde. Nachdem er eine Sakuntala (1848) und eine Kamisardenszene gemalt, begab er sich nach Rom und malte Szenen aus dem italienischen Volksleben sowie einen Hiob unter seinen Freunden. 1852 reiste er mit seinem Vater nach Athen, schmückte die dortige byzantinische Kirche des heil. Nikodemus mit Fresken und wurde 1856 nach Wien berufen, wo er in der griechischen Kirche ebenfalls Fresken ausführte. Nachdem

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Thiersheim - Thiviers.

er für den Baron Sina die in Rom entworfenen Kartons: Charon als Seelenführer, Bakchos' Einzug in den Hain von Kolonos und Thetis' Klage um Achilleus ausgeführt hatte, folgte er 1860 einem Ruf nach Petersburg, wo er zahlreiche Bilder in den Kapellen der Großfürsten Nikolaus und Michael und in der protestantischen Katharinenkirche malte. Nach seiner Rückkehr entstanden für die Stiftskirche in Kempten die Auferweckung der Tochter des Jairus und Christus in Gethsemane, 1866 die Predigt des Paulus auf dem Areopag und in den folgenden Jahren Christus am Teich Bethesda, eine Ceres, die ihre Tochter sucht, ein Christus in der Wüste, Alarich in Athen als Sieger gefeiert und eine Kreuztragung Christi.

5) Friedrich, Architekt, Sohn von T. 2), geb. 18. April 1852 zu Marburg, besuchte 1868-73 das Polytechnikum in Stuttgart und bildete sich dann im Atelier von Mylius und Bluntschli für den praktischen Beruf aus. 1877 und 1878 bereiste er Italien und Griechenland und entwarf dann mit dem Maler Keuffel die Kartons für die dekorativen Malereien im Haupttreppenhaus des neuen Stadttheaters in Frankfurt a. M. Auf Grund dieser Arbeiten wurde er 1879 als Professor der Architektur an die Kunstakademie und die technische Hochschule in München berufen. Er beteiligte sich an der Konkurrenz um den Zentralbahnhof in Frankfurt a. M., wobei sein Entwurf angekauft wurde, und 1881 an der Konkurrenz um die Rheinbrücke in Mainz. Hier erhielt sein mit den Ingenieuren Lauten und Bilfinger entworfenes Projekten ersten Preis. In weitern Kreisen wurde sein Name durch die Konkurrenz um das deutsche Reichstagsgebäude bekannt, bei welcher ihm ebenfalls der erste Preis zuerkannt wurde. Jedoch ward nicht er, sondern Wallot mit der Ausführung des Gebäudes betraut. T. veröffentlichte: "Die Königsburg von Pergamon" (Stuttg. 1882).

Thiersheim, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Wunsiedel, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht und (1885) 1178 Einw.

Thiessow, Dorf und Seebad im preuß. Regierungsbezirk Stralsund, Kreis Rügen, auf der Südspitze der Halbinsel Mönchgut, hat eine Lotsenstation und 189 Einwohner.

Thietmar (Dietmar), Bischof von Merseburg, Geschichtschreiber der Zeit der sächsischen Kaiser, geb. 976 als Sohn des Grafen Siegfried von Walbek, mit dem sächsischen Kaiserhaus verwandt, im kaiserlichen Stift zu Quedlinburg, im Klosterberge und in Magdeburg gebildet, wurde 1002 Propst des von seinem Großvater gestifteten Klosters Walbek, 1009 Bischof von Merseburg und starb 1. Dez. 1019. Er schrieb eine Chronik in acht Büchern, welche die Geschichte von 908 bis 1018 umfaßt und an die Geschichte Merseburgs, Sachsens und der Wendenkriege wertvolle Mitteilungen zur Reichsgeschichte anschließt. T. ist in der Geschichte seiner Zeit gut unterrichtet, wahrheitsliebend und anschaulich in der Darstellung; namentlich sind die drei letzten Bücher (1014-18) fast wie ein Tagebuch. Weniger gut ist sein lateinischer Stil und die Komposition, da er immer neue Zusätze und Nachträge hinzufügte, die sich, da die eigne Handschrift Thietmars erhalten ist, leicht erkennen lassen. Die einzige zuverlässige Ausgabe ist die von Lappenberg in den "Monumenta Germaniae historica", Script. III (besonders, Hannov. 1889), die beste Übersetzung die von Laurent (2. Aufl., Berl. 1879).

Thimothygras, s. Phleum.

Thing, s. Ding.

Thinis, die älteste Stadt Ägyptens und Heimat des ersten Pharao, Mena oder Menes, des Begründers des ägyptischen Reichs und der Stadt Memphis, lag in Oberägypten westlich vom Nil, wo sich ca. 18 km südlich von Girge bei El Cherbe und Kôm es Sultân seine Reste erhalten haben, unweit der mit ihm in engen Beziehungen stehenden Totenstadt Abydos (s. d. 2).

Thiocyanverbindungen, s. Rhodanverbindungen.

Thionville (spr. tiongwil), Stadt, s. Diedenhofen.

Thioschwefelsäure, s. Unterschweflige Säure.

Thiosulfate, Unterschwefligsäuresalze, z. B. Natriumthiosulfat, unterschwefligsaures Natron.

Thirlmere (spr. thirlmihr), kleiner See in der engl. Grafschaft Cumberland, 1877 von der Stadt Manchester angekauft, die ihn in ein großes Reservoir für neu zu erbauende Wasserwerke verwandelt hat.

Thirsk, Stadt in Yorkshire (England), malerisch am Ostrand der Ebene von York und am Fuß der Hambletonhügel gelegen, mit (1881) 3337 Einw.

Thirst-quenchers (engl., spr. thörst-kwenntschers, "Durstlöscher"), moussierende Pastillen gegen Durst.

Thisted, dän. Amt, den nordwestlichsten Teil von Jütland umfassend, 1688 qkm (30,6 QM.) mit (1880) 64,007 Einw. Die gleichnamige Hauptstadt im sogen. Thyeland, am nördlichen Ufer des Limfjords, Endpunkt der Bahnlinie Struer-T, hat eine ansehnliche Kirche und (1880) 4184 Einw., die recht lebhaften Handel, Fischerei und Industrie treiben. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Thisted, Valdemar Adolf, dän. Dichter, bekannt unter dem Pseudonym Em. Saint-Hermidad, geb. 28. Febr. 1815 zu Aarhus, studierte Theologie in Kopenhagen, ward 1845 Adjunkt an der Realschule seiner Vaterstadt, 1855 Pfarrer im nördlichen Schleswig und 1862 nach größern Reisen im Süden zu Tömmerup auf Seeland, von welcher Stelle er sich 1870 entbinden ließ. Er starb 1889. Von seinen meist auch ins Deutsche übersetzten Werken sind hervorzuheben die Romane und Schilderungen: "Vandring i Syden" (1843); "Havfruen" (1846); "Tabt og funden" (1849, 2 Bde.); ferner: "Episoder fra et Reiseliv" (1850) und "Romerske Mosaiker" 1851), die Früchte einer Reise nach Italien; der Roman "Sirenernes Ö" (1853); das romantische Drama "Hittebarnet" (1854; "Neapolitaniske Aquareller" (1853) und "Hjemme og paa Vandring" (1854), novellistische Reisestudien; dann die Dichtungen: "Örkenens Hjerte" (1849) und "Bruden" (1851), nebst "Digte" (1861); endlich der Roman "Familieskatten" (1856). Großes Aufsehen erregten seine "Breve fra Helvede" ("Briefe aus der Hölle", 4. Aufl. 1871, unter dem Pseudonym M. Rowan). Thisteds Schriften zeichnen sich durch glänzende Darstellung und reiche Phantasie aus, leiden aber unter großer Weitschweifigkeit.

Thivä (Thebai), Hauptstadt einer Eparchie des griech. Nomos Attika und Böotien, an der Stelle der Kadmeia, der Burg des alten Theben (s. d. 2), gelegen, Sitz eines Bischofs, mit (1879) 3509 Einw. Aus dem Altertum hat sich nur wenig erhalten, abgesehen von den zahlreichen Quellen, die in den thebanischen Mythen eine Rolle spielen. In der Nähe wurden jüngst von der Deutschen Archäologischen Schule die Reste des von Pausanias geschilderten, berühmten Kabirentempels ausgegraben.

Thiviers (spr. tiwjeh), Stadt im franz. Departement Dordogne, Arrondissement Nontron, an der Eisenbahn Limoges-Périgueux, hat eine romanische Kirche, ein Schloß, Fabrikation von Fayence, Handel mit Vieh, Trüffeln und Käse und (1881) 2127 Einw.

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Thizy - Thomas.

Thizy (spr. tisi), Stadt im franz. Departement Rhône, Arrondissement Villefranche, an der Eisenbahn St.-Victor-Cours, mit bedeutender Fabrikation von Leinwand und Kattun, Färberei und Appretur und (1881) 3759 Einw.

Thlinkit, Indianerstamm, s. Koloschen.

Thoas, nach griech. Mythus König von Lemnos, wurde, als die Frauen von Lemnos alle Männer aus der Insel töteten, von seiner Tochter Hypsipyle (s. d.) gerettet, später aber von den Lemnierinnen entdeckt und ins Meer versenkt. Nach andrer Überlieferung entfloh er nach der Insel Sikinos bei Euböa oder nach Chios oder nach Taurien, dessen aus der Geschichte der Iphigenie (s. d.) bekannter König T. nun mit dem lemnischen identifiziert wurde.

Thöl, Johann Heinrich, Autorität auf dem Gebiet des Handels- und Wechselrechts, geb. 6. Juni 1807 zu Lübeck, ward 1830 Privatdozent und 1837 Professor der Rechte in Göttingen, 1842 zu Rostock, kehrte aber 1849 an erstere Universität zurück und starb 16. Mai 1884 in Göttingen. Er hat sich namentlich durch "Das Handelsrecht" (Bd. 1 u. 2, Götting. 1841-48; Bd. 3, Leipz. 1880; Bd. 1, 6. Aufl., Leipz. 1879; Bd. 2: Wechselrecht, 4. Aufl. 1878) bekannt gemacht. Außerdem erwähnen wir von ihm: "Volksrecht, Juristenrecht" (Rost. 1846); "Einleitung in das deutsche Privatrecht" (Götting. 1851); "Ausgewählte Entscheidungsgründe des Oberappellationsgerichts der vier Freien Städte Deutschlands" (das. 1857); "Zur Geschichte des Entwurfs eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs" (das. 1861); "Protokolle der Leipziger Wechselkonferenz" (das. 1866); "Theaterprozesse" (das. 1880); "Handelsrechtliche Erörterungen" (das. 1882). Vgl. die Gedächtnisschriften von Frensdorff (Freiburg 1885) und Ehrenberg (Stuttg. 1885).

Tholen, Insel der niederländ. Provinz Zeeland, durch die Osterschelde und Mündungsarme der Maas gebildet, 24 km lang, 11 km breit. Auf der Ostküste die Stadt T., mit 2 Kirchen und (1887) 2758 Einw.

Tholey, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Trier, Kreis Ottweiler, hat eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, Eisenerzgruben und (1885) 1155 Einw.; die ehemalige Benediktinerabtei ward 1793 aufgehoben.

Tholos (griech.), ein aus übereinander nach innen vortretenden Steinschichten gebildeter Kuppelbau. Solche den ältesten Zeiten Griechenlands angehörende Kuppelbauten sind bei Mykenä, Orchomenos u. a. O. entdeckt worden. Früher für Schatzhäuser gehalten, gelten sie jetzt als Gräber von Fürsten.

Tholuck, Friedrich August Gotttreu, protest. Theolog, geb. 30. März 1799 zu Breslau, studierte daselbst und in Berlin erst orientalische Sprachen, dann Theologie und ward durch den Verkehr mit den damaligen frommen Kreisen in Berlin für die pietistische Richtung gewonnen, von welcher sogleich sein Erstlingswerk: "Die wahre Weihe des Zweiflers" (1823; 9. Aufl. u. d. T.: "Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner", Gotha 1870), zeugte. Seit 1824 außerordentlicher Professor der Theologie in Berlin, folgte er, von einer wissenschaftlichen Reise nach England und Holland zurückgekehrt, 1826 einem Ruf als ordentlicher Professor nach Halle, wo er namentlich auch durch einen ausgebreiteten Privatverkehr mit den Studierenden sowie als Prediger und (seit 1867) Oberkonsistorialrat erfolgreich bis zu seinem 10. Juni 1877 eingetretenen Tod wirkte. Vorübergehend war er 1828 und 1829 preußischer Gesandtschaftsprediger zu Rom. Außer der genannten Schrift und Kommentaren zur Bergpredigt (5. Aufl., Gotha 1872), zu den Psalmen (2. Aufl., das. 1873), zum Römerbrief (5. Aufl., Halle 1856), Johannesevangelium (7. Aufl., Gotha 1857) und Hebräerbrief (3. Aufl., Hamb. 1850) sowie zahlreichen Predigten ("Predigten über die Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens", 4 Bde.; 6. Aufl., Gotha 1877) veröffentlichte er: "Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte" (Hamb. 1837, 2. Aufl. 1838); "Das Alte Testament im Neuen" (das. 1836, 7. Aufl. 1877); "Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im 17. Jahrhundert" (das. 1852); "Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts" (Halle 1853-54, 2 Bde.); "Das kirchliche Leben des 17. Jahrhunderts" (Berl. 1861-62, 2 Abtlgn.); "Lebenszeugen der lutherischen Kirche vor und während der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs" (Halle 1861); "Geschichte des Rationalismus" (Bd. 1, Berl. 1865) u. "Stunden christlicher Andacht" (Hamb. 1840; 8. Aufl., Gotha 1870). Eine Gesamtausgabe seiner Werke erschien Gotha 1863-67, 11 Bde. Vgl. Kähler, A. T., ein Lebensabriß (Halle 1877); L. Witte, Tholucks Leben (Bielef. 1885-86, 2 Bde.).

Thomar, Stadt in der portug. Provinz Estremadura, Distrikt Santarem, am Nabào und der Eisenbahn Lissabon-Oporto, hat ein altes Schloß, 2 Kirchen, ein großes Kloster des Christusordens (dessen Hauptsitz ehemals die Stadt war), Baumwollindustrie und (1878) 5105 Einw. Unfern die Ruinen des alten Nabantia.

Thomas, einer der zwölf Jünger Jesu, im vierten Evangelium nach griechischer Übersetzung des aramäischen Namens Didymus, d. h. Zwilling, genannt und als Typus der Schwergläubigkeit behandelt, daher das sprichwörtliche ungläubiger T. Der ältesten Tradition zufolge predigte er das Christentum in Parthien oder in Indien. Ebendeshalb betrachten auch die seit etwa 600 in Malabar wohnenden syrischen Christen (Thomaschristen) den T. als Stifter ihrer Kirche; vgl. Germann, Die Kirche der Thomaschristen (Gütersl. 1877). Der geschichtliche Kern dieser Traditionen dürfte sich auf eine gewisse Verbindung oder doch wenigstens Bekanntschaft alter christlicher Missionäre mit den parthisch-indischen Grenzländern reduzieren. Die Legenden nennen als vom Apostel T. getauft mit großer Bestimmtheit einen uns durch viele Münzen und Inschriften bekannten König parthischer Abkunft, welcher in Peschawar am Indus geherrscht: Gundaphoras oder Gondophares; vgl. Gutschmid, Rheinisches Museum für Philologie (1864). Dem T. zugeschrieben werden unter den Apokryphen die "Acta Thomae" und das "Evangelium secundum Thomam" (vgl. Lipsius, Apokryphe Apostelgeschichten, Bd. 1, Braunschw. 1883; Bonnet, Acta Thomae, Leipz. 1883). In der römisch-katholischen Kirche ist dem T. der 21. Dezember, in der griechisch-katholischen der 6. Oktober sowie der erste Sonntag nach Ostern (Thomassonntag) geweiht.

Thomas, 1) Charles Louis Ambroise, Komponist, geb. 5. Aug. 1811 zu Metz, war 1828-32 Schüler des Pariser Konservatoriums und errang im letztgenannten Jahr mit der Kantate "Herman et Ketty" den römischen Preis. Nach dreijährigem Aufenthalt in Italien nach Paris zurückgekehrt, debütierte er 1837 als dramatischer Komponist mit der komischen Oper "La double échelle", welche jedoch so wenig wie sieben weitere Arbeiten dieser Gattung einen nennenswerten Erfolg hatte. Erst mit den komischen Opern: "Le Caïd" (1849) und "Le songe d'une nuit d'été" (1850), gelang es ihm, die Teilnahme des Publikums in vollem Maß zu gewinnen

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Thomas a Kempis - Thomas von Celano.

und in die Reihe der ersten dramatischen Komponisten Frankreichs zu treten. Von seinen während der folgenden Jahre aufgeführten sechs Opern fand nur "Psyche" (1857) einigen Beifall, wogegen "Mignon" (1866) vollständig durchschlug und nicht nur in Paris, sondern auch im Ausland glänzenden Erfolg hatte. Eine günstige Aufnahme fand auch "Hamlet" (1868), während sein letztes Werk, "Françoise de Rimini" (1882), nur einen mäßigen Erfolg hatte. T.' Musik zeichnet sich durch angenehme, wenn auch bisweilen an Trivialität streifende Melodik, geistvolle Orchestration und namentlich durch effektvolle Behandlung der Singstimmen aus, steht jedoch an Originalität hinter der seiner Vorgänger auf dem Gebiet der großen wie der komischen Oper weit zurück. Unter seinen sonstigen Werken befinden sich ein Requiem, eine solenne Messe, ein Streichquintett und -Quartett, eine Phantasie für Klavier und Orchester, Klavier- und Gesangstücke u. a. Auch als Musikpädagog hat sich T. ausgezeichnet, nachdem er 1871 als Nachfolger Aubers zum Direktor des Konservatoriums erwählt war, welcher Anstalt er schon Jahre zuvor als Komposttionslehrer angehört hatte. Seit 1868 ist er auch Kommandeur der Ehrenlegion.

2) George H., amerikan. General, geb. 1816 in Southampton County (Virginia), ward in West Point erzogen, 1840 Leutnant der Artillerie, diente in Florida u. Texas und machte auch den mexikanischen Krieg mit. Beim Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 Kavallerieoberst in der Unionsarmee, erhielt er den Oberbefehl über die Reiterei auf dem westlichen Kriegsschauplatz, siegte 19. März 1862 bei Mill Spring, zeichnete sich in der Schlacht am Chickamanga (19. und 20. Sept. 1863) durch seine Standhaftigkeit und Umsicht aus, befehligte 1864 ein Korps unter Sherman auf dem Marsch nach Atlanta, dann in Tennessee, siegte 15.-16. Dez. 1864 bei Nashville, erhielt nach dem Krieg ein Militärkommando im Süden, dann das in San Francisco und starb daselbst 28. März 1870. Bescheidenheit und Uneigennützigkeit zeichneten ihn als Menschen, Tapferkeit, Ausdauer und methodische Bildung als Soldaten aus. Sein Leben beschrieben R. W. Johnson (Philad. 1881) und van Horne (New York 1882).

3) Theodor, Violinspieler und Dirigent, geb. 11. Okt. 1835 zu Esens in Ostfriesland, kam als Kind nach New York, wo er sich, nachdem er durch Schüllinger und Mayrhoffer eine gründliche musikalische Erziehung erhalten hatte, zunächst als Quartettspieler eine geachtete Stellung errang. Einen ungleich größern Wirkungskreis aber fand er von 1869 an, als er sich an die Spitze eines eignen Orchesters stellte und eine wahrhaft geniale Kraft als Dirigent entfaltete. Seitdem haben die außerordentlichen Leistungen seiner Kapelle sowie die vielseitigen, alle Richtungen der klassischen Musik umfassenden Programme der von ihm in New York und in den größern Städten der Union veranstalteten Konzerte seinen Namen zu einem der populärsten des Landes gemacht. 1877 folgte er einem überaus vorteilhaften Engagement als Direktor des neuerrichteten Konservatoriums in Cincinnati, kehrte jedoch schon nach zwei Jahren nach New York und zu seiner frühern Dirigentenwirksamkeit zurück.

4) Sydney Gilchrist, Techniker, geb. 1850 in oder bei London, besuchte die Royal School of mines, bemühte sich seit 1870 um die Entphosphorung des Roheisens im Bessemerkonverter und verband sich 1876 mit seinem Vetter Percy Gilchrist, der als Chemiker auf den Bleanaoneisenwerken beschäftigt war, zur Vornahme größerer Verfuche. 1877 nahm er sein erstes Patent auf ein Verfahren, welches für die Eisenindustrie kaum minder bedeutungsvoll wurde als der Bessemerprozeß. Seiner Gesundheit halber ging er 1882 nach Australien, 1883 nach Algier und starb 1. Febr. 1885 in Paris.

5) Karl, Pseudonym, s. Richter 10).

Thomas a Kempis, s. Thomas von Kempen.

Thomas von Aquino (T. Aquinas), berühmter Scholastiker, geb. 1225 auf dem Schloß Roccasecca im Neapolitanischen aus einem alten Adelsgeschlecht, ward im Kloster Monte Cassino erzogen und trat gegen den Willen seiner Eltern 1243 zu Neapel in den Dominikanerorden ein, studierte in Köln und Paris und trat hier 1248 als Lehrer der scholastischen Philosophie mit solchem Beifall auf, daß er den Beinamen eines Doctor universalis und angelicus erhielt. Papst Urban IV. berief ihn 1261 nach Italien zurück, worauf T. zu Bologna, Pisa und Rom lehrte. Seit 1272 zog er sich in dasselbe Kloster zu Neapel zurück, in das er zuerst eingetreten war, und starb 6. März 1274 im Kloster Fossanuova bei Terracina auf der Reise zum Konzil von Lyon. T. ward 15. Juli 1323 kanonisiert und galt für den größten Kenner der Aristotelischen Philosophie. Als einer der Hauptverfechter des Realismus übte er einen großen Einfluß in den scholastischen Streitigkeiten seiner Zeit aus. Seine in vielen Einzelausgaben gedruckten Hauptwerke sind: der Kommentar über des Petrus Lombardus vier Bücher Sentenzen; ferner "Summa theologiae" (hrsg. von Nicolai u. a., 13. Aufl., Regensburg 1884, 8 Bde.; deutsch von Schneider, das. 1886 ff.), der erste vollständige Versuch eines theologischen Systems; "Summa fidei catholicae contra gentiles"; "Quaestiones disputatae et quodlibetales" und "Opuscula theologica". Er begründete besonders die Lehren vom Schatz der Kirche an überflüssigen Werken, von der Transsubstantiation und von der Infallibilität des Papstes. Seine Schriften (Gesamtausgabe, Parma 1852-72, 25 Bde., und auf Veranlassung des Papstes Leo XIII., Rom 1882 ff.; Auswahl, Turin 1886, 3 Bde.) genossen lange in der katholischen Kirche eine Art von kanonischem Ansehen, und namentlich war er stets die Hauptautorität der Dominikaner. Doch trat schon um 1300 der Franziskaner Duns Scotus gegen ihn auf und gründete die philosophisch-theologische Schule der Skotisten, mit welcher die Thomisten auf den Universitäten in Fehde lebten. Letztere verteidigten namentlich im Anschluß an T. die strenge Lehre Augustins von der Gnade und bestritten die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria. In beiderlei Beziehung ist die spätere Kirche von der Lehrautorität des heil. T. abgewichen. Vgl. Werner, Der heil. T. (Regensb. 1858-59, 3 Bde.); Jourdain, La philosophie de saint Thomas d'Aquin (Par. 1858, 2 Bde.); Baumann, Die Staatslehre des heil. T. (Leipz. 1873); Holtzmann, T. und die Scholastik (Karlsr. 1874); Eucken, Die Philosophie des T. und die Kultur der Neuzeit (Halle 1886); Frohschammer, Die Philosophie des T. (Münch. 1889); ferner Thömes, Divi Thomae Aquinatis opera et praecepta (Berl. 1875, Bd. 1); Schütz, Thomas-Lexikon (Paderb. 1881).

Thomas von Celano, geistlicher Dichter des 13. Jahrh., Verfasser des berühmten Liedes "Dies irae, dies illa" war zu Celano in den Abruzzen geboren und einer der ersten Jünger des heil. Franziskus von Assisi. Als sich 1221 der Bettelorden der Minoriten am Rhein niedergelassen hatte, wurde er von Cäsarius von Speier, dem ersten Minister der deutschen

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thomas von Kempen - Thomasschlacke.

Ordensprovinz, zum Kustos der Konvente zu Worms, Mainz und Köln und 1222 zu seinem Stellvertreter und zum alleinigen Kustos der Rheingegenden ernannt. Nach achtjähriger Verwaltung dieses Amtes begab er sich wieder nach Assisi und schrieb hier im Auftrag des Papstes Gregor IX. das Leben des heil. Franziskus, das nie im Druck erschien. Weiter ist von seinem Leben nichts bekannt. Einige schreiben T. noch zwei Sequenzen zu: "Fregit victor virtualis" und "Sanctitatis nova signa"; doch bleibt das "Dies irae etc." das Werk, dem er allein seinen Ruhm verdankt. Man hat von diesem in der römisch-katholischen Kirche zu einem stehenden Gesang am Fest Allerseelen und beim Totenamt erhobenen Liede drei bedeutend voneinander abweichende Texte: den wahrscheinlichen Urtext, wie er von einer Marmorplatte in der Kirche des heil. Franziskus zu Mantua kopiert worden sein soll; den sogen. Hämmerlinschen, wie ihn Felix Hämmerlin (Malleolus) herstellte, und den kirchlichen, der durch die Autorität des tridentinischen Konzils festgestellt und 1576 in einem römischen Missale bekannt gemacht worden ist. Übersetzungen dieses Liedes sind in vielen Sprachen erschienen; unter den deutschen sind besonders die von Clodius, Herder, A. W. Schlegel, Fichte, A. L. Follen und H. A. Daniel hervorzuheben. Noch öfter wurde das Gedicht komponiert, so von Palestrina, Pergolese, Astorga, Durante, Joseph und Michael Haydn, Jomelli, Mozart (im "Requlem"), Cherubini, Neukomm, Abt Vogler, G. Weber, Winter u. a. Vgl. Lisco, Dies irae, Hymnus auf das Weltgericht (Berl. 1840); Daniel im "Thesaurus hymnologicus" (Halle 1844).

Thomas von Kempen (T. a Kempis), berühmter asketisch-mystischer Theolog des Mittelalters, eigentlich Thomas Hamerken oder Hämmerlein (Malleolus), geb. 1380 zu Kempen (Kampen) im Kölnischen, besuchte die Schule der Brüder des gemeinsamen Lebens in Deventer, trat 1407 in das Augustinerkloster zu Agnetenberg bei Zwolle, ward 1423 Priester und Subprior und starb als Superior desselben 1471. Unter seinen Schriften (zuletzt hrsg. von F. X. Kraus, Trier 1868; übersetzt von Silbert, 2. Ausg., Wien 1840, 4 Bde.) sind am verbreitesten geworden die "Vier Bücher von der Nachfolge Christi" ("De imitatione Christi", etwa 5000 mal aufgelegt; nach dem 1441 geschriebenen, in Brüssel befindlichen Autograph hrsg. von Hirsche, Berl. 1874; im Faksimile von Ruelens, Lond. 1879). Nachdem früh seine Autorschaft desselben bestritten war, wurde dieselbe 1652 vom Pariser Parlament und auch durch die neuere Kritik, allerdings gegen vielfachen Widerspruch, behauptet. Vgl. Malou, Recherches sur le véritable anteur du livre de l'Imitation de Jésus-Christ (3. Aufl., Tournai 1858); Kettlewell, The authorship of the De imitatione Christi (Lond. 1877); Derselbe, Thomas a Kempis and the brothers of common life (2. Aufl. 1884); Hirsche, Prolegomena zu einer neuen Ausgabe der Imitatio Christi (Berl. 1873-83, 2 Bde.; Keppler in der Tübinger "Theologischen Quartalschrift" (1880). Verfehlt ist der noch von Wolfsgruber ("Van der navolginge cristi ses boeke", Wien 1879; "Giovanni Gersen", Augsb. 1880) vertretene Versuch der Benediktiner, das Buch für einen Benediktinerabt von Vercelli mit Namen Gersen, von dem man nichts näheres weiß, in Anspruch zu nehmen. Doch ist anzuerkennen, daß die Unterschrift in dem sogen. Autographum (Finitus et completus ... per manus fratris Thomae Kempensis) den Thomas ebensogut als Abschreiber (und T. hat in der That viele Bücher abgeschrieben) wie als Verfasser bezeichnen kann. Auch kann man sich nach dem augenblicklichen Stande der Dinge dem Eindruck nicht verschließen, daß es nach aller Wahrscheinlichkeit Handschriften gibt, die über die Zeit des T. hinausgehen, womit freilich nicht gesagt ist, daß gerade Gersen der Verfasser wäre.

Thomaschristen, s. Thomas (Apostel) und Nestorianer.

Thomasin von Zirkläre, mittelhochdeutscher Dichter, aus Friaul, verfaßte 1215-16 ein Lehrgedicht in zehn Büchern. "Der welsche Gast", d. h. der Fremdling aus Welschland (hrsg. von Rückert, Quedlinb. 1852), eine umfassende, auf die höfischen Kreise berechnete Tugendlehre.

Thomasius, 1) (Thomas) Christian, deutscher Rechtslehrer, geb. 1. Jan. 1655 zu Leipzig, studierte daselbst die Rechte und Philosophie, trat dann als akademischer Lehrer auf und hielt (1688) die ersten Vorlesungen in deutscher Sprache. Seine Freimütigkeit zog ihm viele Feinde unter den Theologen zu, und schon war in Dresden ein Verhaftsbefehl gegen ihn ausgewirkt, als er über Berlin 1690 nach Halle entfloh, wo er an der Ritterakademie Vorlesungen begann. Später (1694) wurde er an der zum Teil durch seine Mitwirkung neugegründeten Universität zu Halle Professor der Rechte, Geheimrat und Rektor. Er starb daselbst 23. Sept. 1728. T. hat viel zur Einführung einer bessern Methode in der Behandlung aller Wissenschaften und namentlich der Philosophie durch Verwerfung der hergebrachten philosophischen Terminologie beigetragen. Auch hat er zuerst die Hexenprozesse und die Tortur mit den Waffen des Geistes bekämpft. Seine Denkart charakterisieren besonders seine "Vernünftigen und christlichen, aber nicht scheinheiligen Gedanken und Erinnerungen über allerhand gemischte philosophische und juristische Händel" (Halle 1723-25, 3 Bde.; Anhang 1726) sowie seine "Historie der Weisheit und Thorheit" (das. 1693, 3 Tle.). Seine systematischen Schriften betreffen meist das Naturrecht und die Sittenlehre. Vgl. H. Luden, T. nach seinen Schicksalen und Schriften (Berl. 1805); Dernburg, T. und die Stiftung der Universität Halle (Halle 1865); B. A. Wagner, Christ. T. (Berl. 1872); Nicoladini, Christ. T. (das. 1887).

2) Gottfried, luther. Theolog, geb. 26. Juli 1802 zu Egenhausen in Franken, studierte in Erlangen, Halle und Berlin, wurde 1829 Pfarrer zu Nürnberg, 1842 ordentlicher Professor der Dogmatik und Universitätsprediger in Erlangen und starb daselbst 24. Jan. 1875. Seine bedeutendsten Schriften sind außer mehreren Predigtsammlungen, Religionslehrbüchern und kirchlichen Zwecken dienenden Arbeiten: "Origenes" (Nürnb. 1837); "Beiträge zur kirchlichen Christologie" (das. 1845); "Das Bekenntnis der lutherischen Kirche in der Konsequenz seines Prinzips" (das. 1848); "Christi Person und Werk" (2. Aufl., Erlang. 1856-64, 3 Bde.); "Das Bekenntnis der lutherischen Kirche von der Versöhnung" (das. 1857); "Das Wiedererwachen des evangelischen Lebens in der lutherischen Kirche Bayerns" (das. 1867); "Die christliche Dogmengeschichte" (das. 1874-76, 2 Bde.; 2. Aufl. 1886-89). Vgl. v. Stählin, Lohe, T., Harleß (Leipz. 1886).

Thomasschlacke, die nach dem Thomasschen Verfahren der Verhüttung phosphorhaltiger Erze mit basischen Zuschlägen erhaltene Schlacke, ist porös oder dicht, schwarz, zerfällt beim Liegen an der Luft zu einem groben Pulver, welches schwer zersetzbare, bis kopfgroße Beimengungen enthält. Die gemahlene Schlacke zeigt wenig konstante Zusammensetzung, da diese durch die verwendeten Erxe und Zuschläge wie auch durch die

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Thomisten - Thomson.

Führung des Prozesses beeinflußt wird. Im Mittel enthält T. 17 (14-24) Proz. Phosphorsäure, 50 Kalk, 4 Magnesia, 14 Eisenoxyd, je 4 Manganoxydul und Thonerde, 7,5 Kieselsäure, 0,5 Schwefel und 0,2 Proz. Schwefelsäure. Sie dient im fein gemahlenen Zustand als billiges Dungmittel, doch wird sie auch auf Thomaspräzipitat (präzipitierten phosphorsauren Kalk) verarbeitet, welcher als Dungmittel ungleich größern Wert besitzt.

Thomisten, s. Thomas von Aquino.

Thommen, Achilles, Architekt, geb. 25. Mai 1832 zu Basel, studierte daselbst Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, seit 1850 auf dem Polytechnikum in Karlsruhe, arbeitete seit 1852 unter Etzel an der Schweizer Zentralbahn und 1857 an der Franz Joseph-Orientbahn in Ungarn. Als Oberingenieur tracierte, projektierte und baute er 1861-67 die Brennerbahn, wurde dann als Staatseisenbahnbaudirektor und Leiter des gesamten Eisenbahnwesens nach Ungarn berufen. Hier projektierte, leitete und überwachte er den Bau eines Bahnnetzes von über 2400 km Länge, nahm aber 1870 seinen Abschied und lebt seitdem in Wien. Seine Thätigkeit für den Bau von Gebirgsbahnen war epochemachend, und die Brennerbahn ist das Vorbild für ähnliche Unternehmungen geworden. Er bearbeitete schon 1869 "Grundzüge für Lokalbahnen" und veröffentlichte in der Folge "Normalien für Unter-, Ober- und Hochbau", außerdem die Schrift "Die Gotthardbahn" (Wien 1877).

Thomsen, Christ. Jürgensen, dän. Archäolog, geb. 29. Dez. 1788 zu Kopenhagen als Sohn eines Kaufmanns, dessen Handelsgeschäft er nach dem Tode des Vaters fortführen mußte, beschäftigte sich nebenbei eifrig mit Numismatik, Altertümern und Kunstgeschichte und legte eine Münz- und Antiquitätensammlung an. 1816 wurde er Sekretär der Kommission zur Aufbewahrung der Altertümer und übernahm dann die Verwaltung des neuerrichteten altnordischen Museums. In dieser Stellung war er der erste, welcher zwischen einem Steinzeitalter, Bronzezeitalter und Eisenzeitalter unterschied. Später erhielt er die Direktion der Münz- und Medaillensammlung, die Inspektion der Gemäldesammlung und die des ethnographischen Museums; 1861 wurde er Direktor sämtlicher Sammlungen, deren eigentlicher Schöpfer und Ordner er war. T. starb 21. Mai 1865.

Thomson, 1) James, engl. didaktischer Dichter, geb. 11. Sept 1700 zu Ednam in Schottland, studierte zu Edinburg Theologie, widmete sich aber bald ganz der Poesie und dichtete als Hofmeister zu London die beschreibenden, im Blankvers abgefaßten Gedichte: "Winter" (1726), "Summer" (1728), "Spring" (1729) und "Autumn" (1730), die dann vereinigt unter dem Namen: "Seasons" (deutsch von Soltau, Braunschw. 1823; von Bruckbräu, Münch. 1836) erschienen. In diesen Gedichten gibt T. eine originelle Beschreibung der Naturerscheinungen, die er mit aufmerksamem und liebevollem Auge begleitet; besonders glücklich ist er in Beobachtung des Tierlebens. Die Eintönigkeit aber, die ein bloß beschreibendes Gedicht kaum würde vermeiden können, weiß T. zu umgehen, indem er in lieblichen und ergreifenden Episoden den Menschen in seinem Verhältnis zu den Mächten der Natur und im Kampf mit denselben vorführt. Haydn hat das Gedicht im Auszug komponiert. 1731 begleitete T. einen Sohn des nachmaligen Lord-Kanzlers Sir Charles Talbot auf seinen Reisen durch den Kontinent. Nachdem er bis Talbots Tod im Genuß einer einträglichen Sinekure gestanden, erhielt er vom Prinzen von Wales einen Jahrgehalt von 100 Pfd. Sterl. und die Stelle eines Oberaufsehers über die Antillen. Er starb 27. Aug. 1748. Fast noch höher als die "Seasons" steht "The castle of indolence", ein allegorisches Gedicht in der Spenserstrophe und eine der besten Nachahmungen des Spenserschen Stils. Andre Produktionen von T. sind die trefflichen patriotischen Gedichte: "Liberty" und "Britannia". Am schwächsten ist er in seinen fünf Tragödien (darunter "Sophonisbe" und "Tancred and Sigismunda"). Noch ein kleines von ihm mit einem Schulfreund, Mallet, gemeinschaftlich geschriebenes Stück: "Alfred", verdient Erwähnung, weil in ihm zuerst das berühmte englische Volkslied "Rule Britannia" vorkommt. Eine Gesamtausgabe von Thomsons Werken erschien zu Edinburg 1768, 4 Bde. (in neuer Ausgabe 1874). Des Dichters Leben beschrieb Murdoch (Lond. 1803, 3 Bde.).

2) Thomas, Chemiker, geb. 12. April 1773 zu Crieff in Schottland, studierte zu Glasgow und Edinburg und lieferte seit 1796 für die Supplemente zur "Encyclopaedia britannica" gediegene Artikel über Physik, Chemie, Mineralogie und Metallurgie. 1801 bis 1811 las er in Edinburg über Chemie, lebte dann in London, war 1817-41 Professor der Chemie in Glasgow und starb 2. Juli 1852 zu Kilmun in Argyllshire. Seine Arbeiten bewegen sich auf dem Gebiet der allgemeinen und organischen Chemie, der Mineralogie und Geologie. Er entdeckte mehrere Verbindungen, erfand ein Saccharometer, verbesserte das Lötrohr und führte 1798 den Gebrauch der Symbole in der Chemie ein. Von seinen selbständigen Werken sind hervorzuheben: "System of chemistry" (7. Aufl., Edinb. 1831, 4 Bde.); "Elements of chemistry" (das. 1810); "Attempt to establish the first principles of chemistry by experiments" (Lond. 1825, 2 Bde.); "History of chemistry" (das. 1830-1831, 2 Bde.); "Outlines of mineralogy and geology" (das. 1836); "Chemistry of organic bodies" (das. 1838, 2 Bde.) und "Outlines of heat and electricity" (das. 1839). Seit 1813 gab er zu London die "Annals of Philosophy" heraus, welche 1822 mit dem "Philosophical Magazine" vereinigt wurden.

3) Thomas, engl. Reisender, geb. 4. Dez. 1817 zu Glasgow, studierte dort Medizin, trieb daneben aber auch Chemie, Mineralogie, Konchologie und Botanik, trat 1840 als Arzt in die Dienste der Ostindischen Kompanie und machte den afghanischen Feldzug mit. 1847 wurde er zu einem der drei Kommissare ernannt, welche die Grenze zwischen Kaschmir und Tibet festlegen sollten. 1848 erforschte er den Schajokfluß bis zu seiner Quelle am Karakorumpaß in 5550 m Höhe. Über diese Reisen schrieb er: "Western Himalayas and Tibet" (Lond. 1852), welches ihm die goldene Medaille der Londoner Geographischen Gesellschaft eintrug. 1850 und 1851 bereiste er Sikkim, die Khassiaberge, Katschar, Tschittagong und die Sunderbands. 1851 kehrte er mit kolossalen botanischen und geologischen Sammlungen und Beobachtungen, aber mit gebrochener Gesundheit nach Europa zurück. Alle Bemühungen, von der Ostindischen Kompanie eine Unterstützung zur Herausgabe und Verwertung seiner Schätze zu erlangen, waren vergeblich, und so mußte er die auf eigne Kosten begonnene Herausgabe seiner "Flora of British India" einstellen. Von 1854 bis 1861 lebte er wieder in Indien als Direktor des botanischen Gartens und Professor der Botanik in Kalkutta; er starb 18. April 1878 in London.

4) Sir William, Physiker, geboren im Juni 1824 zu Belfast, studierte in Glasgow, Cambridge und Paris und wurde 1846 Professor der Physik in Glas-

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Thomson - Thon.

gow. Seine erste Arbeit (1841) behandelte die Wärmeleitung in homogenen festen Körpern und deren Beziehung zur mathematischen Theorie der Elektrizität. Sie erschien mit vielen andern Arbeiten aus dem Gebiet der Elektrizität und des Magnetismus in dem Werk "Reprint of papers on electricity and magnetism" (Lond. 1872, 2. Aufl. 1884). T. lieferte auch verschiedene Elektrometer, von denen das Quadrantelektrometer für die feinsten elektrischen Messungen große Verbreitung, namentlich zu Untersuchungen über die atmosphärische Elektrizität, gefunden hat, während sein Spiegelgalvanometer in der Geschichte der unterseeischen Telegraphie Epoche machte. Auf dem Gebiet der mechanischen Wärmetheorie haben seine Arbeiten neben denen von Clausius am meisten zur Entwickelung der Theorie beigetragen. In England hat man versucht, T. überhaupt als den Begründer der neuen Wärmetheorie hinzustellen; indes hat Clausius zuerst 1850 die aus dem von Mayer 1842 ausgesprochenen Prinzip von der Erhaltung der Kraft sich ergebenden Folgerungen in der mathematischen Behandlung der Wärmeerscheinungen verwertet. Dann aber gehen die Arbeiten von T. und Clausius einander so nahe parallel, daß es manchmal schwer fällt, zu unterscheiden, welcher von beiden Forschern gewisse Sätze zuerst entwickelt hat. Ebenso wie Clausius hat auch T. die Prinzipien der mechanischen Wärmetheorie auf andern Gebieten der Physik verwertet; so entwickelte er sofort eine mechanische Theorie der chemischen Zersetzung durch den elektrischen Strom und eine Theorie der Thermoströme. Letztere führte ihn zu der Entdeckung der positiven oder negativen Fortführung der Wärme durch den galvanischen Strom, wie er die Erscheinung bezeichnete. Hervorragendes leistete T. auf dem Gebiet der unterseeischen Telegraphie. Seine theoretischen und experimentellen Arbeiten, ganz besonders seit 1858, als das erste gelegte Kabel zwischen England und Amerika seine Dienste so bald versagte, haben zu den später erreichten Erfolgen auf das erheblichste beigetragen. In Anerkennung dieser Leistungen wurde er bei der Rückkehr von der Legung des Kabels 1866, an der er sich selbst beteiligt hatte, zum Ritter ernannt. Ein Beweis von der Vielseitigkeit des Mannes sind seine Untersuchungen über Ebbe und Flut, über die Gestalt der Erde, über die Frage, ob das Innere der Erde fest oder flüssig ist, und über manche Frage der theoretischen Mechanik. T. schrieb: "On the electrodynamic properties of metals" (1855); "Navigation, a lecture" (1876); "Reprint of papers on electrostatics and magnetism" (2. Aufl. 1884); "Mathematical and physical papers" (1882-84, 2 Bde.); "Treatise on natural philosophy" (2. Aufl. 1879-83, Bd. 1 in 2 Tln.; deutsch von Wertheim: "Handbuch der theoretischen Physik", Braunschw. 1874, unvollendet); er redigiert seit 1846 das "Cambridge and Dublin Mathematical Journal".

5) Sir Charles Wyville, Naturforscher, geb. 5. März 1830 zu Bonsyde in Linlithgowshire, studierte seit 1845 zu Edinburg Naturwissenschaft und begann 1850 Vorlesungen über Botanik in Aberdeen. Gleichzeitig beschäftigte er sich eifrig mit der Erforschung der niedern Tiere. 1853 ward er Professor für Naturwissenschaft in Cork, ging aber schon 1854 in gleicher Eigenschaft nach Belfast und las hier über Mineralogie und Geologie, wobei er indes seine geologischen Arbeiten fortsetzte und auch den Bau des Museums des Queen's College leitete. Er begann um diese Zeit die Studien über die fossilen und die lebenden Liliensterne, welche erst 1862 zum Abschluß kamen. Die Entdeckung einer sehr alten Form von Liliensternen in den Tiefen des Atlantischen Ozeans brachte T. zu der Überzeugung, daß in diesen Regionen die größten Schätze für die weitere Erforschung dieser Tiere zu finden seien, und auf seine Anregung veranlaßte Carpenter die Regierung, wissenschaftliche maritime Expeditionen auszurüsten. So kamen seit 1868 die Lightning-, Porcupine- und Challenger-Expedition zu stande, welche namentlich für die Zoologie und die physikalische Geographie die bedeutendsten Resultate geliefert haben. 1870 wurde T. Professor der Naturwissenschaft in Edinburg. Von hier aus unternahm er die Challenger-Expedition, auf welcher er 3½ Jahre von England abwesend war. Erst 1876 kehrte er nach England zurück. Die Resultate dieser Expeditionen legte er nieder in den Werken: "The depths of the sea" (2. Aufl., Lond. 1873) und "The voyage of the Challenger, the Atlantic" (das. 1877, 2 Bde.). Er starb 10. März 1882 in Edinburg.

Thon (Pelit), in seinen reinsten Varietäten (Kaolin, Porzellanerde, s. d.) ein wasserhaltiges Aluminiumsilikat von bestimmter Zusammensetzung, die lokal aufgehäuften Zersetzungsprodukte feldspathaltiger oder glimmerreicher Gesteine darstellend. In trocknem Zustand sind die Thone fein- oder groberdig, zerreiblich, an der Zunge klebend und beim Anhauchen von eigentümlichem Geruch (Thongeruch). Nach dem Gefühl beim Angreifen spricht man von fetten und magern Thonen, die letztern sind die unreinern. Haben die Thone Wasser eingesogen (und sie können bis 70 Proz. aufnehmen), so werden sie in verschiedenem Grad geschmeidig und plastisch. Auch Fetten, Ölen und Salzlösungen gegenüber besitzen die Thone eine starke Absorptionskraft. Das aufgenommene Wasser entweicht beim Erwärmen, wobei die Thone stark schwinden und bersten (die magern Thone weniger als die fetten); beim Glühen werden sie hart, klingend, verlieren ihre Plastizität und verglasen und schmelzen je nach der Natur der Beimengungen bei verschieden hoher Temperatur. Reiner Kaolin ist nicht schmelzbar, sondern sintert nur bei sehr hoher Temperatur zusammen; von den Verunreinigungen des Kaolins scheint besonders Magnesia die Feuerbeständigkeit abzuschwächen, weniger Kalk, noch weniger Eisenoxyd und Kali. Selten sind die Thone rein weiß, gewöhnlich grau, bräunlich, rötlich, grünlich, bläulich, bunt gestreift, geädert oder geflammt. Spezifisches Gewicht des bei 100° getrockneten Thons 2,44-2,47. Chemisch sind die Thone als unreine Kaoline (vgl. Porzellanerde) aufzufassen, als vermittelnde Verwitterungsstadien zwischen den Feldspaten (sowie einigen andern Silikaten) und diesen, gewöhnlich gemengt mit den sonstigen Zersetzungsprodukten der betreffenden Gesteine. Sie enthalten außer reinem Aluminiumsilikat am häufigsten kohlensauren Kalk, Magnesia, Eisenoxydul, Quarzsand, Glimmerschüppchen, Eisenoxyd, Eisenhydroxyd, kohlige Substanzen, seltener Eisenkies, Gips, Schwefel, Knollen von thonigem Sphärosiderit, kalkigen Mergeln etc. Als Beispiel der chemischen Zusammenhang mögen folgende Analysen dienen:

1. 2. 3. 4. 5.

Kieselsäureanhydrid 46,50 62,54 68,28 75,44 52,87

Thonerde 39,56 14,62 20,00 17,09 15,65

Eisenoxyd und -Oxydul - 7,65 1,78 1,13 12,81

Kalk - - 0,61 0,48 -

Magnesia - - 0,52 0,31 2,65

Kali - - 2,35 0,52 1,33

Wasser 13,94 14,75 6,39 4,71 14,73

Zusammen: 100,00 99,56 99,93 99,68 100,04

661

Thonberg - Thonissen.

Zum Vergleich sind unter 1) die berechneten Werte der Kaolinformel vorausgeschickt; 2) T. von Pöchlarn in Österreich; 3) T. von Grenzhausen in Nassau; 4) T. von Bendorf bei Koblenz; 5) roter T. von Norfolk in England.

An Varietäten unterscheidet man: eisenschüssigen T., gelb oder rotbraun, je nachdem Eisenhydroxyd oder Eisenoxyd das färbende Prinzip ist; glimmerigen T., mit zahlreichen, oft lagenweise angeordneten Glimmerblättchen gemengt; Töpferthon, zäh und sehr plastisch, feinen Quarzsand führend; Pfeifenthon, sehr reiner, kaolinartiger T.; bituminösen T. mit hohem Gehalt an organischen Stoffen, welche beim Glühen unter Bleichung des Thons zerstört werden; Salzthon (Hallerde), mit Steinsalz und Calciumsulfat (Anhydrit oder Gips) innig gemengt; Alaunthon (Vitriolthon, Alaunerde), Gemenge von T. mit Eisenkies, gewöhnlich in mikroskopischen Teilchen, welche bei der natürlichen oder künstlich unterstützten Verwitterung Schwefelsäure bilden und auf die im T. enthaltenen Kalium- und Aluminiumsilikate zersetzend einwirken (vgl. Alaunerde, Schwefelkies); Septarienthon s. Septarien), ein an mergeligen Nieren reifer T. Feuerfeste Thone schmelzen erst bei sehr hoher Temperatur, eine Eigenschaft, die auf der Abwesenheit oder dem geringen Gehalt an Kalium-, Magnesium-, Eisen- und Manganverbindungen beruht. Einen durch Quarz, Kalk und Eisen stark verunreinigten T. stellt der Lehm (s. d.) dar. T. mit der Neigung zu Schieferung nennt man Letten, bei stärkerm Hervortreten der Parallelstruktur Lettenschiefer. Ebenfalls den Thonen beizuzählen ist die Walkerde (Walkererde), die eine grünlichgraue bis olivengrüne Masse bildet, nur wenig an der Zunge haftet, im Wasser zerfällt, aber sehr begierig Öle und Fette einsaugt; chemisch scheint sie durch einen konstanten Gehalt an Magnesia charakterisiert zu sein. Porzellanjaspis (Porzellanit) und Basaltjaspis sind durch natürliche Prozesse (Kohlenbrände, vulkanische Eruptionen) gebrannte Thone. Sonstige Unterscheidungen beziehen sich auf die geologische Formation, in welcher sie vorkommen, so z. B. Tegel (ein Tertiärthon), Wälderthon (aus dem Weald), Oxfordthon (zum Jurasystem gehörig) u. a. Im allgemeinen sind die Thone in den mittlern und jüngern Formationen entwickelt und werden in den ältern durch Schieferthone und Thonschiefer vertreten. Ganz fremd sind sie aber selbst den ältesten Gesteinsschichten nicht, wie z. B. in Rußland sowohl im Silur als in der Steinkohlenformation Thone vorkommen. Die Thone bilden bald mächtigere Schichten, bald dünne Lagen oder Spaltenausfüllungen (Lettenklüfte) zwischen andern Gesteinen, namentlich Kalken und Sandsteinen. Bisweilen findet man sie auf primärer Lagerstätte als Hülle um diejenigen Silikatgesteine, aus denen sie entstanden sind. Sie führen häufig Versteinerungen, und dann gewöhnlich in besonders schönem Erhaltungszustand. Bekanntere Thonlager sind die von Großalmerode in Kurhessen, Passau, Stourbridge in England, Hoganäs in Schweden für feuerfeste Thone; Köln, Lüttich, Namur für Pfeifenthone; Bunzlau, Hildburghausen, Klingenberg am Main, Koblenz u. v. a. O. für Töpferthone. Thone dienen zu Fayence, Steingut, Topfwaren, Thonpfeifen, Schmelztiegeln, Gußformen, zum Modellieren, zum Walken des Tuchs, als Dungmaterial (namentlich Salzthon); unreinere Varietäten und Lehm zu Backsteinen und Ziegeln, als Baumaterial, zum Ausschlagen (Dichten) von Wasserkanälen etc. Über die wichtige Rolle, welche der T. im Boden spielt, s. Boden. Endlich sind thonige Schichten im Innern der Erde die wichtigsten Wassersammler, welche als sperrende Schichten die versinkenden Wasser der durchlassenden Gesteine auf ihrer Grenzfläche auffangen und bei entsprechender Lagerung der Schichten Quellenbildung veranlassen. Durch diese wassersperrende Kraft schützen umgebende Thonschichten die Steinsalzlager vor der Auslaugung.

Thonberg, Dorf im SO. von Leipzig, jetzt mit diesem zusammenhängend, mit Irrenanstalt (der Stadt Leipzig gehörig) und (1885) 3740 Einw. Unfern bezeichnet der Napoleonstein Napoleons Standort in der Leipziger Schlacht (18. Okt. 1813).

Thoneisenstein, brauner und roter, s. Brauneisenerz und Roteisenstein.

Thonerde, s. Aluminiumoxyd.

Thonerdealaun, s. Alaun, konzentrierter.

Thonerdehydrat, s. Aluminiumhydroxyd.

Thonerdenatron, s. Aluminiumhydroxyd.

Thonerdesalze, s. Aluminiumsalze.

Thônes (spr. tohn), Stadt im franz. Departement Obersavoyen, Arrondissement Annecy, am Fier, mit Collège, kleinem Seminar, Uhrmacherschule, Fabrikation von Seilerwaren, Kirschgeist, Pelzwerk und Baumwollwaren und (1881) 1694 Einw.

Thonet, Michael, Industrieller, geb. 1796 zu Boppard, begründete eine Möbelfabrik in Wien, wo er die Möbel aus gebogenem Holz erfand, und starb daselbst 1870. Die Fabrik wird unter der Firma "Gebrüder T." von seinen Söhnen weitergeführt. Die Rundstäbe werden durch Wasserdampf oder durch Kochen in dünnem Leim erweicht und in eiserne Formen gepreßt, deren Krümmungen sie nach dem Trocknen behalten. Der Vorzug der gebogenen Möbel (Stühle, Fauteuils, Schaukelstühle, Sofas, Klaviersessel u. dgl.) besteht in großer Festigkeit.

Thongallen, regellos gestaltete Konkretionen von Thon in andern Gesteinen, besonders in thonigen Sandsteinen. Sie können, da sie sich nach dem Verritzen durch Wasseraufnahme aufblähen u. abblättern, beim Abbau, namentlich beim Tunnelbohren, große Schwierigkeiten bereiten und Einstürze veranlassen.

Thonglimmerschiefer, s. Phyllitschiefer.

Thonissen, Jean Joseph, belg. Nationalökonom und Rechtslehrer, geb. 21. Jan. 1817 zu Hasselt, studierte Rechtswissenschaft, widmete sich hierauf der Advokatur und wurde, nachdem er verschiedene Ämter im Gebiet der Verwaltung und der Rechtspflege bekleidet hatte, 1847 Professor des Kriminalrechts an der katholischen Universität zu Löwen und später auch in das Abgeordnetenhaus gewählt. 1855 wurde er zum Mitglied der Akademie in Brüssel ernannt und 1869 zum korrespondierenden Mitglied der französischen Akademie. Seit 1863 der Abgeordnetenkammer angehörend, wurde er 26. Okt. 1884 Minister des Innern und des öffentlichen Unterrichts, trat jedoch Oktober 1887 zurück. Er schrieb: "La constitution belge annotée" (1844, 3. Aufl. 1879); "Le socialisme et ses promesses" (1850); "Le socialisme dans le passé" (1851); "Le socialisme depuis l'antiquité jusqu'à la constitution française du 14 janvier 1852" (1852); "La Belgique sous le règne de Leopold I" (1855-56, 4 Bde.; 2. Aufl. 1861, 3 Bde.); "Vie du comte Félix de Merode" (1861); "De la prétendue nécessité de la peine de mort" (1864); "Études sur l'histoire du droit criminel des peuples anciens" (1869); "Mélanges d'histoire, de droit et d'économie politique" (1873); "Le droit pénal de la république athénienne" (1876); "L'organisation judiciaire, le

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Thonmergel - Thonwaren.

droit pénal et la procédure pénal de la loi salique" (2. Aufl. 1882); "Travaux préparatoires du code de procédure pénale" (1885).

Thonmergel, s. Mergel.

Thonon (spr. -óng), Arrondissementshauptstadt im franz. Departement Obersavoyen, ehemalige Hauptstadt des Chablais, am Genfer See und der Eisenbahn Collonges-St. Gingolph, mit Resten des 1536 zerstörten Residenzschlosses, Collège, Gipsbrüchen, Baumwollspinnerei, Handel mit Käse, einem Hafen und (1886) 3216 Einw. Unfern das Schloß Ripaille.

Thonpfeifen, s. Thonwaren, S. 667.

Thonröhren, s. Mauersteine, S. 353.

Thonsandstein, s. v. w. thoniger Quarzsandstein, s. Sandsteine.

Thonschiefer (Argilit), dichte schieferige Gesteine, die gewöhnlich vorwiegend aus klastischem Material (einem kaolinartigen Silikat, Quarz- und Feldspatbruchstücken, Glimmer- und Talkblättchen) bestehen, daneben aber auch kristallinische, meist nur unter dem Mikroskop erkennbare Bestandteile enthalten. Die letztern, gewöhnlich als schwer bestimmbare Mikrolithe entwickelt, scheinen Hornblende, Turmalin, Glimmer und glimmerähnliche Mineralien zu sein. Außerdem kommen Eisenkies, Kohleteilchen, Eisenoxydblättchen und Kalkspat vor, in größern, makroskopischen Partien Eisenkiesknollen (auch als Vererzungsmittel eingeschlossener Petrefakten), Quarz und Kalkspat in Linsen, Nestern und Adern. Gefärbt ist der T. meist grau oder schwarz, seltener rot, grün und gelb. Das spezifische Gewicht schwankt um 2,8. Die chemische Zusammensetzung ist infolge der schwankenden mineralischen sehr unbestimmt. Geschiefert sind die T. meist sehr deutlich und zeigen oft gleichzeitig die transversale Schieferung (s. d.). An Varietäten sind zu unterscheiden: Dachschiefer (Lehesten, Sonneberg u. a. O. im Thüringer Wald, Kaub etc. am Rhein, Harz, Erzgebirge, England), sehr vollkommen und eben schieferig; Tafelschiefer (Grapholith), durch beigemengte Kohle intensiv schwarz gefärbt; Zeichenschiefer (schwarze Kreide, Schieferschwarz; Thüringen, Oberfranken, Andalusien), ebenfalls kohlereich, daneben weich und erdig; Griffelschiefer (besonders Thüringen), zu Stengeln spaltbar infolge des gleichzeitigen Auftretens der wahren und der falschen Schieferung (s. d.); Alaunschiefer (Skandinavien, Vogtland, Harz, Böhmen), reich an Eisenkies neben Kohle; Kalkthonschiefer (Alpen), in welchem die Thonschiefermasse Kalklinsen umhüllt; Wetzschiefer (Thüringen, Sachsen, Ardennen), kieselsäurereiche, harte Varietäten von gewöhnlich hellerer Farbe. Im Ottrelithschiefer (Ottrez in den Ardennen, Oberpfalz, Pyrenäen, Nordamerika) sind Ottrelithblättchen eingewachsen, im Chiastolithschiefer (Fichtelgebirge, Vogesen, Bretagne, Pyrenäen) weiße Chiastolithe von verschiedener Größe. Die zuletzt genannte Varietät ebenso wie gewisse andre, in denen unbestimmt konturierte und mineralogisch von der übrigen Gesteinsmasse nur wenig verschiedene Konkretionen auftreten, welche nach ihrer Form die Namen Knotenschiefer, Fruchtschiefer, Garbenschiefer und Fleckschiefer veranlaßt haben, sind mit typischen Thonschiefern an einigen Orten so verknüpft, daß sie sich allmählich aus letztern heraus entwickeln und sich proportional zu einer größern Annäherung an Eruptivgesteine, namentlich Granit, mehr und mehr von dem normalen T. unterscheiden. Die Bauschanalysen solcher Gesteine bewegen sich, namentlich wenn man vom Gehalt an Wasser und organischen Substanzen absieht, innerhalb enger Grenzen, so daß im wesentlichen nur eine Änderung der Struktur, ein Kristallinischwerden der Bestandteile vorliegt (vgl. Metamorphismus der Gesteine). Thonschiefergebiete, welche eine Verknüpfung solcher "metamorphischer" Varietäten aufweisen, sind aus Sachsen, dem Harz, den Vogesen, Pyrenäen, aus Cornwall und von andern, auch transatlantischen Orten bekannt. Es bilden diese Varietäten zugleich petrographische Übergänge zu den Phylliten (s. Phyllit), welche im allgemeinen reicher an kristallinischen Bestandteilen als die T. sind. Die T. gehören den ältern Formationen an und kommen nur selten (z. B. die tertiären Glarusschiefer, s. Tertiärformation) in jüngern Schichten vor, werden aber meist ihrerseits von den Phylliten an Alter noch übertroffen. Eine Reihe von Bezeichnungen, Ortsnamen entnommen oder nach Versteinerungen gewählt, dienen zur Charakterisierung des Alters der T., so beispielsweise: Graptolithenschiefer im Silur, Wissenbacher oder Orthocerasschiefer im Devon, Posidonienschiefer des Kulms etc. Wo der T. in großer, Berge bildender Mächtigkeit auftritt, setzt er meist abgerundete Höhen und wellige Plateaus zusammen; seine Thäler sind oft schroff eingerissen, am Fuß der klippenartig emporsteigenden Thalwände mit großen Schutthalden bedeckt, welche die starke Zerklüftung des Gesteins geliefert hat. Das letzte Residuum der Verwitterung ist meist ein mit Gesteinsbrocken gemengter, fruchtbarer Lehm- und Thonboden. T. dient zu Dachplatten, Schreibtafeln, Griffeln, Tischplatten, die erdigen Varietäten als schwarze Kreide, die harten als Wetzsteine, die eisenkieshaltigen zur Alaun- und Vitriolbereitung.

Thonschneidemaschinen, s. Mauersteine, S. 351.

Thonstein, s. v. w. Porphyr- und Felsittuff (s. Porphyrbreccie), früher für verhärteten Thon, in einigen Varietäten für Bandjaspis gehalten.

Thonwaren, aus Thon geformte und gebrannte, oft glasierte Gegenstände. Die ungemein zahlreichen Gattungen der T. werden nach der innern Beschaffenheit der gebrannten Masse (des Scherbens) eingeteilt. Die sehr stark erhitzten oder aus leicht schmelzbarer Masse bestehenden sind auf dem Bruch dicht, glasartig, scheinbar geflossen, kleben nicht an der Zunge, sind undurchdringlich für Wasser und geben am Stahl Funken. Die weniger stark erhitzten sind im Bruch erdig, porös, kleben an der Zunge und lassen Wasser durchsickern. Knapp hat folgende Übersicht gegeben:

A. Dichte T. 1) Echtes oder hartes Porzellan (Feldspatporzellan), massiv, gleichsam geflossen, durchscheinend, hell klingend, weiß, strengflüssig, mit dem Messer nicht ritzbar, stark glänzende Glasur. Rohmaterial: Kaolin mit einem Zusatz, dem sogen. Fluß, welcher, für sich unbildsam, mit der Thonmasse zu einem Glas zusammenschmilzt. Der Fluß besteht aus Feldspat mit Zusatz von Kreide, Gips, Quarz. Ähnliche Zusammensetzung hat die Glasur. Die Masse wird in Einer Operation gar gebrannt. Unglasiert zeigt die gebrannte Masse ein mattes Aussehen und heißt Statuenporzellan oder Biskuit.

2) Frittenporzellan, weiches Porzellan, Glasporzellan, aus leichtflüssigerer Masse als englisches und französisches fabriziert. Jenes besteht aus Kaolin und sich weiß brennendem Thon mit Flußmitteln (Feuerstein, Cornish stone, Gips oder Knochenasche). Masse und Glasur werden in zwei Operationen gebrannt, zuerst die Masse, dann die Glasur. Das französische Porzellan ist ein glasartiges, unvollständig geschmolzenes Alkali-Erdsilikat ohne Thonzusatz mit bleihaltiger Glasur. Aus einer Masse, ähnlich der

662a

Thonwarenfabrikation.

Fig. 1. Töpferscheibe, durch Maschinenkraft gedreht.

Fig. 2. Doppelofen für Holzkohlenfeuerung.

Fig. 3. Thomas Steinkohlenofen.

Fig. 4. Grundriß von Mendheims Gasofen.

Fig. 5. Querschnitt von Mendheims Gasofen.

Fig. 6. Längsschnitt von Mendheims Gasofen.

Zum Artikel »Thonwaren«.

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

für das englische Porzellan, nur daß sie strengflüssiger ist, besteht das parische Porzellan oder Parian. Eine andre Masse steht in ihren Eigenschaften in der Mitte zwischen Parian und Steinzeug und wird Carrara genannt. Aus feinem, mit Salzsäure gereinigtem Feldspatpulver (Zusatz von Knochenasche) stellt man die Porzellanknöpfe her. 3) Steingut, wovon zu unterscheiden: feines Steingut oder Wedgwood aus feuerfestem, sich weiß brennendem Thon, mit Flußmitteln (Feldspat, Feuerstein), glasiert mit Blei- und Boraxglasur oder unglasiert und gefärbt; ordinäres Steingut oder Steinzeug aus einem farbigen, feuerfesten Thon, der mit dünner Kochsalzglasur versehen wird: Material für Mineralwasserkrüge, Töpfe, Schüsseln, Näpfe etc. 4) Klinker, verglaste Ziegel, aus schmelzbarem Thon erzeugt, als Pflasterziegel benutzt.

B. Poröse Thonwaren. Dieselben zeigen geringere Härte, sind meist nicht gesintert, daher im Scherben porös, an der Zunge klebend. 1) Feine Fayence, englisches Steingut, aus weißem, feuerfestem Thon bestehend, mit durchsichtiger bleiischer Glasur, häufig mit Malerei und Kupferstichabdrücken geziert. 2) Ordinäre Fayence, weißes Steingut, Majolika, aus sich gelblich brennendem Thon oder Thonmergel mit undurchsichtiger, weißer oder gefärbter Zinnglasur; zu gewöhnlichem Geschirr. 3) Gemeine Töpferware, irdene Ware, Töpferzeug, alle aus Töpferthon und Thonmergel dargestellten weichen und porösen Gefäße, mit undurchsichtiger Zinn- oder Bleiglasur überzogen und durch Metalloxyde gefärbt: weiße und braune Töpferware. 4) Tabakspfeifen oder kölnische Pfeifen aus weißem, feuerfestem Pfeifenthon (Pfeifenerde). 5) Terrakotta, gebrannte, antike Formen nachahmende Waren zu Bauornamenten, Fußbodenplatten, Mosaiksteinen. 6) Schmelztiegel aus feuerfestem Thon, mit grobem Sand, auch wohl Graphit vermischt (hessische, Passauer, Ipser, Graphittiegel für Metallreduktionen). 7) Feuerfeste Steine, Schamottesteine aus feuerfestem Thon zum Bau von Schmelzöfen. 8) Mauerziegel, Backsteine, Dachsteine aus Lehm, magerm Töpferthon oder Kalkmergel nebst Sandzusatz, durch Eisen gelb bis rot und braun gefärbt; bisweilen glasiert.

Porzellanfabrikation.

(Hierzu Tafel "Thonwarenfabrikation".)

Hartes, echtes Porzellan. Die Grundmasse ist ein Gemisch von reiner Porzellanerde mit Feldspat als hauptsächlichem Flußmittel, zuweilen auch mit Quarz, Kreide, Gips. Der Quarz mindert das Schwinden des Thons, nimmt ihm aber auch einen Teil seiner Plastizität. Die Flußmittel machen die Masse kompakt, klingend, glasartig, transparent, indem sie die Thonteilchen beim Schmelzen umhüllen und miteinander verbinden. Die natürlichen Rohstoffe bedürfen sorgfältiger Zubereitung. Sie werden auf Stampfwerken oder im Desintegrator zerkleinert, unter Wasserzufluß gemahlen, gesiebt und geschlämmt. Beim Schlämmen bedient man sich großer, terrassiert übereinander stehender Schlammbottiche, die je in verschiedenen Abständen Löcher haben, welche für gewöhnlich mit Holzpfropfen verstopft sind. Das gepulverte Material kommt in die obersten Bottiche, wird mit Hilfe zufließenden Wassers aufgeweicht und ausgewaschen; die Milch fließt in die folgenden Bottiche, in welchen sich das Pulver nach dem Grade der Feinheit als zarter Schlamm absetzt. Die entwässerten, aber noch feuchten Materialien werden in geeignetem Verhältnis gemischt, worauf man die Masse durch Verdunstung im Freien oder durch künstliche Wärme, durch Auflegen auf poröse Platten aus gebranntem Thon oder Gips, unter welchen ein luftleerer Raum erzeugt wird, auf Filterpressen oder endlich durch Pressen in Drilchsäcken noch weiter entwässert, durch Kneten homogener macht und längere Zeit in einem kühlen, feuchten Raum liegen läßt, damit sie "faule". Sie färbt sich hierbei anfangs dunkel, dann unter Gasentwickelung wieder weiß und erlangt eine günstigere Beschaffenheit, ohne daß man mit Sicherheit angeben kann, worauf dies beruht. Nach dem Faulen wird die Masse zerschnitten und wieder zu Ballen geknetet, aus welchen nunmehr die verschiedenen Gegenstände auf der Dreh- oder Töpferscheibe oder mit Hilfe besonderer Formen hergestellt werden. Die Töpferscheibe (Textfig.) besteht aus einer vertikalen eisernen Welle, deren unteres Ende ein horizontales Schwungrad c, das obere eine Platte d trägt. Gegenüber der Scheibe sitzt der Arbeiter und dreht das Schwungrad und somit die Platte zuerst mit einer Stange, dann mit dem Fuß oder durch maschinelle Vorrichtungen. Der Former setzt die Masse auf die Mitte der Tischplatte, benetzt sie mit Wasser, bringt die Scheibe in Drehung, bildet zuerst einen stumpfen Kegel, drückt, während sich die Platte fortwährend dreht, mit dem Daumen beider Hände in den obern Teil des Kegels, gleichzeitig mit den Fingern auf die Seitenfläche und hat es so in der Gewalt, der Masse eine bestimmte Höhlung und äußere Form zu erteilen. Damit seine Hände glatt und schlüpfrig bleiben, taucht er sie in fein zerteilte Porzellanmasse, sogen. Schlicker. Anstatt mit dem Fuß des Arbeiters, kann die Scheibe auch mit Maschinenkraft gedreht werden. Eine derartige Scheibe ist in Fig. 1 der Tafel dargestellt; a ist eine konische Trommel, die durch Treibriemen d gedreht wird, b eine zweite in entgegengesetzter Lage stehende Trommel; ein Riemen c, der durch eine Kurbel auf s verschiebbar ist, dient zur Änderung der Umdrehungsgeschwindigkeit der Scheibe m, die ihre Bewegung mittels des Riemens f erhält. Zur Herstellung genauer Muster benutzt der Dreher Schablonen, die aus Blech geschnitten sind und mit der Kante, welche die Kontur des Gegenstandes angibt, gegen die beständig rotierende Thonmasse gehalten werden. Das geformte Stück wird mit einem dünnen Messingdraht von der Scheibe abgeschnitten, vorsichtig auf ein

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

Brett gestellt und bei gewöhnlicher Temperatur im Schatten getrocknet. Gegenstände von nicht kreisförmigem Querschnitt oder von komplizierter Gestalt werden in Formen hergestellt. Diese bestehen meist aus Gips, welcher der Masse so viel Wasser entzieht, daß sie sich nach Entfernung der Form nicht mehr verbiegt. Das Formen wird verschieden ausgeführt. Bei der Ballenformerei drückt man die Masse in Stücken von geeigneter Größe mit den Fingern oder mit Hilfe eines Holzes so in die Form, daß das Stück gleichmäßige Scherbenstärke erhält. Ist die Form zweiteilig, so werden beide Hälften schließlich aufeinander gelegt und die beiden Thonmassen miteinander vereinigt. Teller, Tassen etc. formt man mit Hilfe von dünnen Blättern aus weicher Porzellanmasse, die häufig mit Maschinen erzeugt werden. Man gießt auch die Porzellanmasse in Form eines gleichmäßig flüssigen Breies in die porösen Formen, welche Wasser absorbieren und sich dadurch mit einer Schicht von kompakterer Masse auskleiden. Sobald dies geschehen ist, gießt man das flüssig Gebliebene ab und füllt neue Masse ein, was so oft wiederholt wird, bis hinreichende Wandstärke erreicht ist. Viele Figuren, Blumen, Ornamente etc. werden aus freier Hand mit dem Bossiergriffel gebildet. Die geformten Gegenstände bedürfen häufig noch einer nachträglichen Bearbeitung durch Abdrehen, Ausbessern, Guillochieren etc.; auch werden Henkel und andre ähnliche Teile angesetzt, worauf man sie trocknen läßt. Unglasiertes Porzellan kommt als Biskuit in den Handel, besonders in Form von Kunstgegenständen, alle Gebrauchsgegenstände aber werden glasiert.

Die Porzellanglasur ist sehr hart, glatt, glänzend, bekommt nicht leicht Risse und haftet sehr fest auf dem Porzellan. Diese Eigenschaften verdankt sie ihrer Zusammensetzung, die mit der des Porzellans selbst wesentlich übereinstimmt. Man bereitet sie aus einem Gemenge von fein gepulvertem und geschlämmtem Kaolin, Quarzsand, Gips und Porzellanscherben, die mit Wasser etwa zur Konsistenz der Kalkmilch angerührt werden. Die zu glasierenden Stücke müssen neben gewisser Festigkeit insbesondere Porosität besitzen, welche sie befähigt, Feuchtigkeit schnell und leicht zu absorbieren. Damit sie diese Eigenschaft erhalten, müssen sie einem schwachen Brande, dem Verglühen, unterworfen werden. Zieht man sie dann durch eine Flüssigkeit, in welcher feine Körper suspendiert sind, wie in der Glasurflüssigkeit, so halten sie letztere wie ein Filter in ihren Poren zurück, absorbieren die Feuchtigkeit, bedecken sich mit Glasurschicht und erscheinen nach dem Herausziehen trocken. Um von den glasierten Stücken alle Verunreinigungen fern zu halten, werden sie nicht der direkten Einwirkung des Feuers ausgesetzt, sondern in eigens für diesen Zweck angefertigten Thongefäßen, Kassetten oder Kapseln, die aus feuerfester Masse bestehen, gebrannt. In diese Kapseln werden die Objekte eingesetzt; dieselben kommen dann in den Porzellanbrennofen und zwar Kapsel auf Kapsel, so daß möglichst an Raum erspart wird. Das Brennen des Porzellans, wie der keramischen Objekte überhaupt, hat in der Neuzeit erhebliche Fortschritte gemacht in Ausnutzung der Wärme, Ersparung von Brennstoff, Verwertung auch schlechter Brennmaterialien. Bis vor etwa zehn Jahren diente für den Porzellanbrand der Holzetagenofen mit periodischem Brande. Die Verbesserungen der Heizungsanlagen im Hüttenwesen, die Anwendung des Ringofens in der Ziegelfabrikation wirkten regenerierend auf diesem Gebiet. Kontinuierlicher Brand, Benutzung von Gas als Brennstoff, Vorwärmung der Verbrennungsluft, Ausnutzung der Verbrennungsgase charakterisieren die Gegenwart; damit sucht sie bedeutende Leistungsfähigkeit und Bequemlichkeit des Betriebs zu verbinden. Bereits im vorigen und Anfang der 40er Jahre dieses Jahrhunderts versuchte man in Frankreich, Porzellan mit Steinkohle zu brennen, jedoch ohne Erfolg; erst in den 60er Jahren bürgerten sich solche Öfen neben den ältern Etagenöfen in England, Frankreich und Mitteldeutschland ein. In den 50er Jahren machte Salvetat auf den hohen Wert der Gasfeuerung für die keramischen Industrien aufmerksam, und es konstruierte dann Venier den ersten brauchbaren Gasofen für die Thunsche Porzellanfabrik zu Klösterle in Böhmen.

Fig. 2 zeigt den ältern Doppelofen für Holzkohlenfeuerung, wie er zu Sèvres Anwendung fand, Fig. 3 den Steinkohlenofen von Thoma, Fig. 4-6 den Gasofen von G. Mendheim. Der Holzetagenofen bestand aus drei durch flache Gewölbe getrennten Etagen; die beiden untern L L' dienen zum Glattbrennen, die obere L'' zum Verglühen des Porzellans; alle drei Etagen kommunizieren durch die Öffnungen c c c in den Gewölben. Die seitlichen Thüren P gestatten den Zugang in die verschiedenen Räume; dieselben sind übrigens während des Brandes vermauert. f f sind die seitlich angebrachten Feuerkasten, die mittels eines eisernen Schiebers verschlossen werden können. In dieselben wird durch o etwas Holz gebracht und, sobald dieses brennt, o verschlossen und von oben neues Brennmaterial zugebracht. Die Luft tritt nun von oben zu dem Brennstoff, und die Flamme gelangt, durch die Kanäle gehörig verteilt, in den Ofen. Die Feuergase ziehen aufwärts, umspülen die eingesetzten Kapselstöße und entweichen durch den essenartigen Aufsatz H, welcher übrigens zur Regelung des Zugs durch Klappe I nach Wunsch geöffnet oder geschlossen werden kann. In Fig. 3 bei dem Thomaschen Ofen ist A der Glattbrennofen mit Einsetzthür a, C der Verglühofen, D die Esse, welche auf Kappe b des Verglühofens ruht. Der Ofen hat fünf Feuerkasten, in denen die Roststäbe der Roste g schräg hängen; l ist der Fülltrichter, durch p verschließbar. Durch seitliche Kanäle wird der Feuerung Luft zugeführt. Die Einrichtung ist derart, daß die Flamme an der Sohle r des Glattofens nach der Mitte getrieben wird, um eine gleichmäßige Verteilung der Hitze zu bewirken; durch w wird der Trockenraum S erwärmt, v ist die Klappe zur Zugregulierung. Bei dem Gasofen von Mendheim erfolgt die Befeuerung der einzelnen Kammern durch Gas, welches in besondern, außerhalb des Ofens liegenden Generatoren erzeugt wird. Fig. 4 stellt den Grundriß des Ofens, Fig. 5 den Querschnitt, Fig. 6 den Längsschnitt der Kammer dar. Der Ofen besteht aus zwei parallelen Kammerreihen von 18 Kammern, welche in der Weise angeordnet sind, daß in jeder Reihe 9 Kammern liegen, die in der Mitte durch Rauchsammler getrennt (1-9, 10-18), an beiden Enden durch die Kanäle h1h2 verbunden sind. Das aus den beiden Schachtgeneratoren a aus Steinkohle erzeugte Gas tritt durch die eisernen Ventile b b in den Kanal c c ein, gelangt je nach Bedarf durch Ventile d1d2 in die Kanäle e1e2, um hier zum Heizen der bei f schließbaren Kammer zu dienen. Soll z. B. Kammer 8 befeuert werden, so öffnet man das zugehörige Ventil f; das Gas strömt hinter einer Feuerbrücke in dieselbe ein und kommt hier mit einem Luftstrom in Berührung, der bereits die fertig gebrannten Kammern 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, 11, 18, 17 passiert hat. Der Luftstrom

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Thonwaren (Porzellanfabrikation).

ist bei 17 eingetreten und hat sich auf dem Weg bis 8 allmählich an den kühlenden Objekten erhitzt; hier herein tritt er durch die in der Kammerwand befindlichen Löcher g g und bewirkt die Verbrennung des Gases unter bedeutender Wärmeentwicklung. Die Flamme streicht nun durch die Löcher g g nach Kammer 9, von hier durch den Kanal h2 nach 10, dann nach 11, 12, 13, 14. Letztere Kammer kann man von 15 durch einen Blechschieber trennen; die Feuergase werden dadurch gezwungen, durch das geöffnete Ventil i in den Rauchkanal zu treten, um von diesem dem Schornstein l zugeführt zu werden. Der Betrieb des Ofens ist demnach derselbe wie derjenige des für den Ziegelbrand benutzten Ringofens. Während Kammer 8 im Garbrand, werden die Kammern 9-14 durch die abziehenden Feuergase vorgewärmt; die Kammern 15, 16 sind ausgeschlossen, 15 wird neu beschickt, 16 entleert. Die Zirkulation der Luft beginnt mit ihrem Eintritt bei 17 und endet mit dem Austritt der Verbrennungsprodukte bei 14. Ist Kammer 8 gar gebrannt, so schreitet man zu 9. Kammer 18 bildet dann die Eintrittsstelle für Luft, Kammer 15 die Austrittsstelle; 16 wird neu beschickt, 17 entleert u. s. f.

Das Einsetzen der zu brennenden Porzellangeschirre erfordert große Aufmerksamkeit, da der Arbeiter die Kassetten nach den Objekten zu wählen und die Kapselstöße in die verschiedenen Stellen des Ofens unter möglichster Raumausnutzung und Ausnutzung der Hitze zu verteilen hat. In den Etagenöfen stellt er die Stöße in der Regel in drei konzentrischen Ringen um eine Kernsäule; die Stöße werden durch dazwischen gelegte Thonmassen gegeneinander verstrebt. Ist die Einsetzarbeit vollendet, so werden die Einsatzöffnungen vermauert, mit Aussparung von Probelöchern, um den Gang durch eingelegte Probescherben beobachten zu können. Anfangs gibt man in Öfen mit direkter Feuerung ein schwaches Feuer. Man nennt dies Vorfeuer, Lavier- oder Flatterfeuer; dieses wird in 12-15 Stunden zum Scharffeuer (Weißglut) gesteigert, welches man 17-18 Stunden unterhält. Hierauf verschließt man den Ofen und läßt 3-4 Tage erkalten, um ihn zu entleeren. Das dem Ofen entnommene Geschirr wird sortiert, wobei sich verhältnismäßig wenig vollkommen fehlerfreie Ware ergibt. Ein großer Teil des Porzellans wird mit Malerei dekoriert, und hierbei kann mancher Fehler verdeckt werden. Die Porzellanfarben sind gefärbte Gläser, welche durch Einschmelzen oder Einbrennen befestigt werden. Manche Farben ertragen die Hitze des Garbrandes, ohne zerstört zu werden (Scharffeuerfarben); sie können unter Glasur aufgetragen und mit ihr im Garofen eingeschmolzen werden. Bei andern ist dies nicht der Fall (weiche oder Muffelfarben); sie werden stets auf der Glasur des bereits gar gebrannten Porzellans aufgetragen und apart in Muffeln eingebrannt. Die Zahl dieser letztern Farben ist sehr viel größer, weil die meisten Metalloxyde im Scharffeuer sich verflüchtigen oder einen unreinen Ton geben. Alle Muffelfarben liegen auf dem Porzellan fühlbar erhaben und sind als weiche Bleigläser der Abnutzung stark unterworfen. Als Farbstoffe benutzt man Eisenoxyd für Rot, Braun, Gelb, Violett, Chromoxyd für Grün, Chromoxyd und salpetrigsaures Kobaltoxydkali für Blau und Schwarz, Uranoxyd für Orange und Schwarz, Manganoxyd für Violett, Braun und Schwarz, Iridiumoxyd für Schwarz, Titanoxyd und Antimonoxyd für Gelb, Kupferoxyd und Kupferoxydul für Grün und Rot, Goldpurpur für Purpur und Rosenrot etc. Bei Vergoldung wird fein verteiltes Gold mit basisch salpetersaurem Wismutoxyd und mit Quecksilberoxyd gemischt aufgetragen. Auch benutzt man Muschel- oder Malergold und brennt in der Muffel ein. Die Vergoldung erscheint matt und erhält erst durch Polieren mit Achat und Blutstein Glanz. Zur Meißener oder Glanzvergoldung benutzt man ein Präparat, welches Goldchlorid, Schwefelgold oder Knallgold in Schwefelbalsam enthält. Man erhält hier direkt glänzende Vergoldung, die aber sehr vergänglich ist. Will man die Glasur des Hartporzellans färben, so muß man, wenn die normale Zusammensetzung derselben nicht zu sehr verändert und Haarrissigkeit herbeigeführt werden soll, die farblosen Flußmittel (Kali und Kalk) in äquivalenten Mengen durch färbende Metalloxyde ersetzen. Da die Menge der farblosen Flußmittel bei der Hartporzellanglasur aber nur 8-10 Proz. beträgt, so ist in Bezug auf die Einführung der färbenden Metalloxyde nur ein geringer Spielraum gelassen. Dazu kommt, daß Hartporzellan ohne Anwendung einer reduzierenden Flamme kaum gar gebrannt werden kann, und daß demnach solche Metalloxyde, welche der Reduktion leicht unterworfen sind, für die Glasur nicht angewendet werden dürfen. Aus diesen Gründen ist die Palette für die Scharffeuerglasuren des Porzellans nur schwach besetzt und beschränkt sich auf Kobalt-, Chrom-, Eisen- und Manganoxyd nebst den edlen Metallen Gold, Platin und Iridium. Seger hat deshalb eine neue Masse für Porzellan zusammengesetzt, für welche die Garbrandtemperatur bedeutend niedriger ist, so daß eine wesentlich leichtflüssigere Glasur verwendet werden kann, ohne daß dieselbe Haarrisse zeigt. Um diese Glasur zu färben, kann man weit größere Mengen färbender Metalloxyde an Stelle der farblosen Flußmittel einführen, auch sind die leichter reduzierbaren Metalloxyde (Kupfer-, Nickel- und Uranoxyd) zu verwenden, weil das Seger-Porzellan noch in oxydierendem Feuer gar gebrannt werden kann. Dadurch ist die Palette für die farbigen Glasuren, welche im Vollfeuer aufgebrannt werden können, eine wesentlich ausgedehntere geworden als früher. Auch die fabrikmäßige Herstellung des so sehr geschätzten Chinesischrots, bisher das Geheimnis einiger Fabriken in Nanking, wurde von Seger aufgefunden; nunmehr liefert die Berliner Porzellanmanufaktur derartige Gegenstände in vorzüglicher Qualität. Nach einer neuen Dekorationsweise für Porzellan wird das Biskuit spitzenartig durchstochen und eine zähflüssige Emailglasur aufgebracht. Dieselbe überzieht das ganze Stück, so daß auch die kleinsten durchstochenen Öffnungen erfüllt werden und nach dem Brennen durchsichtig erscheinen (émail ajouré). Beim Porzellandruck wird die gravierte Kupfer- oder Stahlplatte mit Emailfarbe eingerieben, die Zeichnung auf Papier gedruckt, dieser Druck auf Porzellan abgezogen und entweder im Garfeuer oder in der Muffel eingebrannt. Lichtbilder oder Lithophanien sind in flachen Gipsformen mit Reliefzeichnungen gepreßte und unglasierte Porzellanplatten. Über Porzellanmalerei als Kunstbeschäftigung s. den besondern Artikel.

Frittenporzellan war in seiner Darstellung in Europa lange Zeit vor dem echten bekannt und wurde als Surrogat desselben, als weiches Porzellan, benutzt. Das englische Frittenporzellan (zum Teil auch das nordamerikanische Iron-Stone) besteht aus kalkhaltigem Porzellanthon von Cornwall (Cornish clay genannt), einem feldspatartigen Mineral (Cornish stone, verwitterter Pegmatit), plastischem Thon, Feuerstein und phosphorsaurem Kalk (Kno-

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Thonwaren (Steingut, Fayence etc.).

chenasche oder Phosphorit). Letzterer macht die Masse leichtflüssig. Dies Porzellan wird im ersten Feuer nahezu gar gebrannt und erhält im zweiten schwächern Feuer eine leichtflüssige Glasur aus Cornish stone, Kreide, Feuerstein, Borax und Bleioxyd. Hiernach ist das englische Porzellan weniger haltbar und bekommt leichter Risse als das harte, die Masse aber ist plastischer, verzieht sich weniger, weil sie nicht so scharf gebrannt wird, erträgt geringere Scherbenstärke, und auf der leichtflüssigen Glasur sind die schönsten Farbennüancen anwendbar. Man brennt dies Porzellan in Kapseln und in Etagenöfen mit Steinkohlen- oder Gasfeuerung. Parisches Porzellan (Parian), von verschiedener Zusammensetzung, ist strengflüssiger als das vorige, wachsartig schimmernd, von mildem, gelbem Ton und wird unglasiert zu Statuen benutzt. Ähnlich ist der Carrara. Das französische Frittenporzellan ist ein Erdalkaliglas ohne Kaolinzusatz mit bleihaltiger Glasur. Es wurde in Sèvres vor der Fabrikation des echten Porzellans bis 1769 ausschließlich dargestellt. Man bereitet es aus 75 Teilen Glas (aus Sand, Kalk, Pottasche und Soda hergestellt), 17 Teilen Mergel und 8 Teilen Kreide. Diese Materialien werden naß gemahlen und der Brei monatelang aufbewahrt. Die Masse wird durch Seifen-, Leim- oder Gummiwasser plastisch gemacht, kann aber nur in Gipsformen geformt und muß, da sie sich beim Brand leicht verzieht, auf Formen von feuerfestem Thon in Kapseln gebrannt werden. Hierzu genügt das Verglühfeuer des Porzellanofens. Die Glasur ist ein bleihaltiges Glas. In Sèvres wird dies Porzellan kunstvoll durch die sogen. pastose polychrome Malerei dekoriert. Ähnlich ist das Heißgußporzellan oder Kryolithglas, welches in Philadelphia und Pittsburg in großem Maßstab fabriziert wird.

Steingut, Fayence, Halbporzellan etc.

Steingut (Steinzeug) hat, ähnlich dem Porzellan, einen dichten, halb verglasten, gleichartigen, klingenden, an der Zunge nicht klebenden Scherben, unterscheidet sich aber vom Porzellan dadurch, daß es auch in seinen weißen Varietäten an den Kanten nicht durchscheinend ist. Gegen Temperaturwechsel zeigt es sich sehr empfindlich, dagegen ist es sehr fest und von beträchtlicher chemischer Widerstandsfähigkeit. Es ist farblos oder farbig und kommt glasiert und unglasiert vor. Die größere Plastizität gestattet die Herstellung sehr großer Gefäße. Das feine weiße Steinzeug wird aus sich weiß brennendem, weniger feuerfestem plastischen Thon hergestellt, mit Zusatz von Kaolin und Feuerstein und mit Cornish stone als Flußmittel, von welchem mehr als bei der Porzellanfabrikation genommen wird, so daß das Steinzeug bei niederer Temperatur zu brennen ist. Statt des Kaolins benutzt man oft auch Feldspat und bedarf demnach geringerer Hitze. Die Waren kommen unglasiert in die Kapseln, oder man kleidet die Kapseln, in denen sie gebrannt werden, mit Kochsalz, Pottasche und Bleioxyd aus oder gibt eine Glasur aus blei- und borsäurehaltigem Glas. Das feine Steinzeug ist besonders in England gebräuchlich, ebenso das ähnliche Wedgwood, welches oft durch Metalloxyde in der Masse gefärbt oder nur mit einer Schicht farbigen Thons überzogen und in der mannigfaltigsten Weise, z. B. mit farbigen oder farblosen Ornamenten auf andersfarbigem Grund, dekoriert wird. Basaltgut ist schwarzes, sehr hartes und dauerhaftes Steingut, aus eisenhaltigem Thon, Kiesel, Gips und Braunstein ohne Glasur gebrannt. Zu Medaillons und feinen Kunstwerken dient das feine weiße Jaspisgut.

Das gemeine Steingut bildet die Masse der Mineralwasserkrüge, Krüge, Näpfe, Einmachkruken, pharmazeutischen Geräte etc. Es wird aus einem plastischen, mehr oder weniger gefärbten, ohne Zusatz von Flußmitteln stark frittenden Thon, bisweilen unter Zusatz von Sand oder gemahlenen Steingutfarben hergestellt und ist meist grau, gelblich, rötlich oder bläulich. Der Thon wird nur eingesumpft, auf der Thonknetmühle bearbeitet, auf Haufen gebracht, in dünnen Spänen abgestochen und wieder geknetet. Das Brennen geschieht in liegenden gewölbten Öfen mit meist ansteigender Sohle oder in Kasseler Flammöfen. Befindet sich die eingesetzte Ware in höchster Glut, so wird durch die Öffnungen des Gewölbes Kochsalz eingeworfen. Die Kieselsäure der Ware zersetzt bei Gegenwart von Wasserdämpfen das Kochsalz unter Bildung von Salzsäure und Natron, mit welch letzterm sie kieselsaures Natron bildet, das mit der Thonerde auf der Oberfläche der Geschirre zu einer Glasur von kieselsaurem Thonerde-Natron zusammenschmilzt.

Die Fayence hat ihren Namen von der Stadt Faenza in Italien, sie ist in der Masse dicht, erdig, nicht durchscheinend, klebt an der Zunge und wird wesentlich aus plastischem Thon, oft unter Zusatz von gemeinem Töpferthon, bisweilen auch Kreide, Sand, Glasfritte, Gips, Knochenasche etc. dargestellt. Sie ist deshalb zum Teil feuerbeständig oder sehr schwer schmelzbar, während andre Sorten nur bei niederer Temperatur gebrannt werden dürfen. Die Glasur ist ein durchsichtiges oder undurchsichtiges Bleiglas, wird leicht rissig und blättert bisweilen ab. Durch die Risse dringen farbige Flüssigkeiten und Fett in die Masse ein und lassen die Geschirre unrein erscheinen. Von gewöhnlicher Töpferware unterscheidet sich Fayence wesentlich nur durch feineres Material und sorgfältigere Bearbeitung. Man unterscheidet feine und ordinäre Fayence. Erstere besteht aus einer weißen, dichten, harten, etwas klingenden Masse und erhält stets durchsichtige bleiische Glasur. Hierher gehört das feine Steingut von Mettlach, Belgien und dem nordöstlichen Frankreich, welches aus weißem plastischen Thon mit Zusatz von Sand und Kreide oder alkalireicher Glasfritte dargestellt wird, ferner das englische Steingut (Staffordshire) aus sich weiß brennendem, feuerfestem Thon mit Zusatz von Feuersteinpulver und das Hartsteingut (feines englisches Steingut, Gesundheitsgeschirr, Halbporzellan) aus weißem plastischen Thon mit Zusatz von Kaolin. Der Thon wird auf einem Thonschneider mit Wasser gemischt, auf einer Siebmaschine gereinigt, mit den übrigen Materialien gemischt und die Masse auf der Filterpresse entwässert. Die geformten und getrockneten Gegenstände werden in Kapseln bei hoher Temperatur gebrannt, dann bemalt, bedruckt etc. und zuletzt glasiert. Die Glasur bereitet man aus Bleioxyd, Feuerstein, Feldspat, Cornish stone, Kaolin, oft unter Zusatz von Borax, Soda, Salpeter, Kreide. Das Einbrennen geschieht in Kapseln bei sehr viel niederer Temperatur. Da sich nun hierbei nicht wie beim Porzellan das Geschirr verzieht, so braucht man nicht jedes Stück in eine besondere Kapsel zu stellen, sondern kann mehrere Stücke übereinander schichten, wobei nur die gegenseitige Berührung durch feinspitzige Pinnen von Thonmasse verhindert wird. Ein Teller z. B. ruht dann auf drei Pinnen, deren Marken man auf der Unterseite des breiten Randes als kleine Glasurfehler leicht auffindet. Hierdurch unterscheidet sich ein Fayenceteller von einem Porzellanteller, welch letzterer beim Brand

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Thor (Archit.) - Thor (nord. Myth.).

mit seinem untern Rand auf dem Boden der Kapsel steht und hier zur Verhinderung des Anschmelzens von Glasur befreit wird. Der feinen Fayence schließen sich auch die kölnischen oder holländischen Thonpfeifen aus reinem weißen Thon ohne Zusatz und die lackierten T., wie Terralith, Hydrolith, Siderolith, an. Die ordinäre Fayence wird aus mehr oder weniger eisenhaltigem plastischen oder Töpferthon mit Mergel- und Sandzusatz dargestellt und bei so niedriger Temperatur gebrannt, daß der kohlensaure Kalk des Mergels nicht zersetzt wird und der Scherben mithin beim Übergießen mit Säure braust. Die Glasur wird aus Blei- und Zinnoxyd, Sand und Kochsalz oder Soda dargestellt und ist weiß, undurchsichtig, um die Farbe des Scherbens zu verdecken, oft aber auch durch Metalloxyde gefärbt. Die Fayence wird in Kapseln zweimal gebrannt und zwar erst bei Kirsch- oder Hellrotglut, dann nach dem Auftragen der Glasur (durch Eintauchen) bei kaum höherer Temperatur. Die gemeine Fayence zeigt meist geringe Festigkeit und springt leicht beim Erhitzen, so daß sie als Kochgeschirr nicht benutzt werden kann. Eine besondere Gattung derselben bilden die Ofenkacheln. Die Fayence wird unter oder auf der Glasur bemalt, auch durch Angießen mit farbigem Thonbrei gefärbt und bedruckt. Man benutzt fein pulverisierte Metalloxyde, mit gekochtem Leinöl angerieben, als Druckerfarbe, druckt das Bild auf feinem, weichem, mit Leinsamenschleim getränktem Papier, bringt dieses sogleich auf die einmal gebrannte, also poröse Fayence und drückt es mit Filz vorsichtig an. Löst man nun das Papier vorsichtig mit Wasser ab, so bleibt der Druck auf der Fayence und kann eingebrannt werden. Auch Flowing-colours und Lüster werden häufig auf Fayence angewandt.

Mit dem Namen Majolika bezeichnet man die verschiedensten Gattungen ordinärer Fayence und zwar solche mit auf der rohen Glasur angebrachten, eingebrannten Malereien aus feuerbeständigen Starkfeuerfarben, solche mit farbigen Glasuren oder mit Malerei auf Steingutglasur, ferner Fayence mit opaker Glasur, meist Imitationen italienischer Meister, desgleichen Imitationen mit transparenter weißer Glasur auf einer den rötlichen Scherben bedeckenden Lage farbigen Thons, ferner Gegenstände, mit verschiedenfarbigen Thonlagen und darauf mit durchsichtiger Glasur versehen (Schweizer Majolika). Während letztere und die sogen. französischen Majoliken, Steingutgegenstände mit farbigen Glasuren, Gebrauchgegenstände geworden sind, liefert die italienische Imitationsmajolika nur Luxus- und Schaustücke. Weiteres s. Keramik.

Töpfergeschirr (Weiß- und Brauntöpferei).

Ordinäres Töpfergeschirr wird aus den verschiedensten Thonen, wenn sie nur billig sind, namentlich aus Töpferthon und Thonmergel, dargestellt und kann nur bei Dunkel- bis Hellrotglut gebrannt werden. Infolgedessen bleibt die Masse sehr porös und wird nur durch die Glasur gebrauchsfähig. Letztere muß daher auch sehr haltbar sein und darf nicht rissig werden oder abblättern. Die Geschirre ertragen starken Temperaturwechsel und sind daher auch als Kochgeschirr verwendbar. Für die sogen. Weißtöpferei, welche gemeines Küchengeschirr herstellt, benutzt man den gemeinen Töpferthon, für die Brauntöpferei, zu welcher das Bunzlauer und Waldenburger Geschirr gehört, einen ziemlich feuerbeständigen Thon. Zu fetter Thon wird mit magerm Thon oder Sand, auch wohl mit Feuerstein, Kreide, Schamotte, Steinkohlenasche gemischt und, nachdem er monatelang gelegen hat, getreten, auf dem Thonschneider bearbeitet, geknetet, einem Fäulnisprozeß unterworfen und abermals getreten, geknetet etc., bis er hinreichend homogen geworden ist. Das Schlämmen ist in der Regel zu teuer. Die auf der Drehscheibe geformten und getrockneten Gegenstände werden häufig mit einem Schlamm aus weißem oder farbigem Thon, auch wohl unter Zusatz färbender Metalloxyde begossen (engobiert), um ihnen eine bestimmte Farbe zu erteilen, und, nachdem der Beguß getrocknet ist, durch Eintauchen, Begießen oder Bestäuben mit Glasur versehen. Letztere ist eine leicht schmelzbare Bleiglasur aus Bleiglätte oder Bleiglanz und Lehm, welcher häufig färbende Metallpräparate beigemengt werden. Bei richtiger Zusammensetzung der Glasur, wenn das Bleioxyd vollständig an die Kieselsäure gebunden ist, entziehen die in der Haushaltung vorkommenden Säuren (Essig, Fruchtsäfte) der Glasur kein Blei, während saure Speisen aus schlechter, namentlich ungenügend gebrannter Glasur Blei aufnehmen können. Die ordinäre Töpferware wird in der Regel nur einmal (mit der Glasur) und ohne Kapseln gebrannt. Der Boden der Gefäße darf keine Glasur erhalten, damit er nicht anschmilzt, auch muß die gegenseitige Berührung der Geschirre thunlichst vermieden werden. Die Töpferöfen sind meist liegende Flammöfen mit nur einer Feuerung an der einen und der Esse an der andern Seite. Der Feuerraum ist vom Brennraum in der Regel durch eine durchbrochene Mauer geschieden, welche die Feuerungsgase möglichst gleichmäßig verteilen, Flugasche zurückhalten und, wenn glühend, zur Rauchverbrennung beitragen soll. Sehr gebräuchlich ist der Kasseler Ofen (s. Mauersteine, S. 352). Auch Gasfeuerung ist auf Töpferöfen mit Vorteil angewandt worden, und bei großem Betrieb benutzt man die kontinuierlichen Ringöfen, welche zuerst für Ziegeleien konstruiert wurden. Über Mauersteine und Terrakotten s. diese Artikel; über die Geschichte der Thonbildnerei s. Keramik. Vgl. Kerl, Handbuch der gesamten Thonwarenindustrie (2. Aufl., Braunschw. 1878); Gentele, Vollständiges Lehrbuch im Poteriefach (2. Aufl., Leipz. 1859); Schumacher, Die keramischen Thonfabrikate (Weim. 1884); Möller, Die neue Bauanlage der königlichen Porzellanmanufaktur zu Charlottenburg (Berl. 1873); Mendheim, Brennöfen mit Gasfeuerung (das. 1876); Liebold, Die neuen kontinuierlichen Brennöfen (Halle 1876); Stegmann, Gasfeuerung und Gasöfen (2. Aufl., Berl. 1881); Challeton, L'art du briquetier (Par. 1861), und die kunstgeschichtliche Litteratur bei Keramik.

Thor, in der Architektur, s. Portal.

Thor (Thunar), in der nord. Mythologie Gott des Donners, dem deutschen Donar (s. d.) entsprechend, war der erste Sohn des Odin und der Jörd (Erde) und genoß unter allen Asen das höchste Ansehen. Er wird geschildert als ein Wesen von jugendlicher Frische, mit rotem Bart und von ungeheurer Stärke, furchtbar besonders durch drei Kleinode: den Donnerhammer Miölnir, der geschleudert sein Ziel nie verfehlte und von selbst zurückkehrte, den Machtgürtel Megingiard und die Eisenhandschuhe. Er lag in steter Fehde mit dem Riesengeschlecht der Joten und Thursen, auch mit der Jormungandr (Midgardschlange). Später erlegte er diese bei der Götterdämmerung, doch wurde er hierbei selbst durch ihren Gifthauch getötet. Seine Gattin, die Erdgöttin Sif (s. d.), brachte ihm aus früherer Ehe den schnellen Bogenschützen Uller zu und gebar ihm eine Tochter, Thrud ("Kraft"), während er von der Jotin Jarnsaxa zwei Söhne, Magin ("Stärke")

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Thor, Le - Thoren.

und Modi ("Mut"), besaß. Sein gewöhnlicher Wohnsitz war Thrudheim ("Land der Stärke"); doch hatte er auch eine Wohnung in Asgard, Namens Thrudwangr. Von ihm hat der Donnerstag (Thorstag) den Namen. Vgl. Uhland, Der Mythus vom T. (Stuttg. 1836, und im 6. Bd. der "Schriften").

Thor, Le, Flecken im franz. Departement Vaucluse, Arrondissement Avignon, an einem Arm der Sorgues und an der Eisenbahn Avignon-Cavaillon, hat eine gut erhaltene Kirche (im Übergangsstil), Seidenspinnerei, Papierfabrikation, Gipserzeugung und (1881) 1462 Einw.

Thora (Thorah, hebr.), bei den Juden vorzugsweise Benennung des mosaischen Gesetzes und des dasselbe enthaltenden Pentateuchs (vgl. Bibel, S. 879). Sefer-T., Buch des Gesetzes, die von besondern Schreibern mit größter Genauigkeit geschriebene Pergamentrolle, aus welcher in den Synagogen die Abschnitte der Bücher Mosis vorgelesen werden.

Thorakocentesis (griech), s. Paracentese.

Thorakometer (griech., Brustmesser), Instrument zum Messen des Brustumfanges und der Erweiterung des Brustkorbes beim Atmen, wird vollkommen ersetzt durch ein gewöhnliches Bandmaß.

Thorax (griech.), Brustharnisch (s. Rüstung); in der Anatomie die Brust (s. d.) sowohl der Wirbeltiere als auch der Gliederfüßer. Bei den letztern ist der T. zuweilen mit dem Kopf zum sogen. Kopfbruststück (Cephalothorax, s.d.) verwachsen. Bei den Insekten trägt er die drei Bein- und gewöhnlich auch zwei Flügelpaare.

Thorbecke, Johann Rudolf, niederländ. Staatsmann, geb. 15. Jan. 1798 zu Zwolle, studierte in Leiden die Rechte, dann in Deutschland Philosophie, habilitierte sich 1822 als Dozent in Gießen, dann in Göttingen und ward 1825 Professor der politischen Wissenschaften zu Gent, 1830 Professor der Rechte zu Leiden. 1840 in die Erste Kammer berufen, stimmte er für durchgreifende Verfassungsreform, welche er bereits durch seine Schriften: "Aanteekening op de grondwet" und "Proeve van herziene grondwet" verteidigt hatte, und legte 1844 einen vollständig ausgearbeiteten Entwurf einer Verfassungsreform vor, der aber erst im Oktober 1848 von einer mit Revision des Grundgesetzes unter Thorbeckes Leitung beauftragten Kommission angenommen wurde. Im Oktober 1849 mit Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, übernahm er in diesem das Portefeuille des Innern und wirkte in dieser Stellung mit Eifer für Durchführung der Verfassung. Da er indes den König durch schroffes Auftreten, das protestantisch gesinnte Volk durch die Zulassung katholischer Bistümer verletzte, ward er von seinen Gegnern 1853 gestürzt. T. war nicht bloß dem König, sondern auch vielen sogen. Liberalen seines ernsten, rücksichtslosen Wesens und seiner strengen politischen Doktrin wegen verhaßt, und erst 30. Jan. 1862 trat er endlich wieder an die Spitze des Ministeriums. Da indes seine Reformpläne im Kolonialwesen die Interessen zu vieler, auch Liberaler, verletzten, ward er im März 1866 wieder gestürzt, obwohl er der einzige Staatsmann in den Niederlanden war, welcher wußte, was er wollte, und die liberale Partei einigermaßen zusammenzuhalten verstand. Das Verhalten des Ministeriums van Zuylen in der Luxemburger Frage tadelte er aufs schärfste und führte 1868 dessen Sturz herbei, worauf er zwar 22. Mai den Auftrag übernahm, ein neues Ministerium zu bilden, aber nicht selbst eintrat, sondern dasselbe Fock übertrug und bloß in der Kammer unterstützte. Nach dessen Abdankung, Anfang 1871, trat er indes selbst wieder als Minister des Innern an die Spitze des Kabinetts und bemühte sich, die Reform des Heerwesens zur Sicherung der niederländischen Unabhängigkeit, die T. durch Preußen bedroht glaubte, und die Einführung einer Einkommensteuer durchzusetzen. Mit beiden Vorschlägen drang er indes nicht durch und nahm im Mai 1872 deshalb seine Entlassung. Noch ehe das neue Ministerium gebildet war, für welches T. die Geschäfte noch fortführte, starb er 4. Juni 1872. Nach seinem Tod erst würdigte man den Verlust des überzeugungstreuen, energischen und praktisch befähigten Staatsmanns und ehrte ihn 1876 durch ein Denkmal zu Amsterdam. Gesammelt erschienen Thorbeckes kleinere Schriften ("Historische schetsen", 2. Aufl., Haag 1872), seine Briefe aus den Jahren 1830-32 (Amsterd. 1873) und seine Reden (Deventer 1856-70, 6 Bde.). Vgl. Olivier, Herinneringen aan T. (Haag 1872).

Thordsen, Kap, s. Eisfjord und Polarforschung, S. 160.

Thoreau (spr. thóro). Henry, nordamerikan. Schriftsteller, geb. 1817 zu Concord bei Boston als der Sohn eines Bleistiftmachers, besuchte das Harvard College in Cambridge, welches er 1837 nach erlangtem Grad verließ, um als Lehrer sein Brot zu verdienen. Sein unsteter, Selbständigkeit liebender Geist ließ ihm aber keine Ruhe bei einer festen Berufsstellung; er verschmähte die Handwerksthätigkeit nicht und verstand sich aufs Zimmern, Malen, Bleistiftmachen und Gartenarbeit. Die Schriftstellerei trieb er ebenso regellos nebenher. T. ist eins der hervorragendsten Mitglieder jener durch Emerson, Alcott, Margareta Fuller u. a. vertretenen Schule des Idealismus, welche sich von der puritanischen Strenggläubigkeit befreit hatte und einem freiern Leben im Geist und in der Wahrheit zustrebte. In diesem Kreis war T. eine der originellsten Erscheinungen, in der sich der Dichter und Denker vereinigte. Der Gegenstand seiner Schriften ist fast ausschließlich die Natur, deren Erscheinungen aus allen Gebieten er in tief empfundenen Bildern und Betrachtungen zu beschreiben verstand. Während zweier Jahre lebte T. in einer von ihm selbst gezimmerten Hütte, eine Meile von Concord im Wald; dort sammelte er seine zerstreuten Aufsätze zu dem Buch "A week on the Concord and Merrimac rivers" (Bost. 1849) und entstand die Schrift "Walden; or life in the woods" (das. 1855). Seine andern Schriften wurden erst nach seinem 1862 erfolgten Tod gesammelt herausgegeben. Es sind die mit einer kleinen Lebensbeschreibung Thoreaus von seinem Freund Emerson eingeleiteten "Excursions in field and forest" (Bost. 1863); ferner: "The Main woods" (1864); "Cape Cod" (1865); "Early spring in Massachusetts"; "A Yankee in Canada" (1866); endlich: "Letters to various persons" (1865). Ein hervorstechender Zug bei T. war seine leidenschaftliche und frühzeitige Parteinahme für die Abschaffung der Sklaverei. Sein Leben schrieben Page (1879) und Sanborn (Bost. 1882).

Thoren, Otto von, Maler, geb. 1828 zu Wien wurde 1846 Offizier, machte 1848 den ungarischen Feldzug mit und verweilte dann längere Zeit in Venedig; 1857 wandte er sich ganz der Malerei zu und studierte mehrere Jahre in Brüssel und Paris. Gegen Mitte der 60er Jahre wurde er nach Wien berufen, um ein Reiterbildnis des Kaisers von Österreich auszuführen. Nachdem er noch einen Tod Gustav Adolfs gemalt hatte, wandte er sich der Tiermalerei, insbesondere der Darstellung des Weideviehs, zu, worin er sich durch energische Charakteristik und feine Naturbeob-

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Thorenburg - Thorn.

achtung bei breiter malerischer Darstellung auszeichnet. Seine Hauptwerke sind: ungarische Ochsen, gegen den Wind nach Hause getrieben, ackernde Ochsen, Pflüger aus der Normandie, der herannahende Wolf, Ochsengruppe bei Sonnenuntergang. T. lebt in Paris.

Thorenburg, Stadt, s. Torda.

Thoresen, Anna Magdalena, geborne Kragh, norweg. Romanschriftstellerin, geb. 3. Juni 1819 zu Fridericia in Jütland als die Tochter eines Schiffszimmermanns, kam mit 20 Jahren nach Kopenhagen, um sich zur Lehrerin auszubilden, ward nach einigen Jahren Erzieherin im Haus des norwegischen Pfarrers Thoresen und zwei Jahre später (1844) dessen Frau. Ihr neuer Wohnort bot ihr in Fülle Gelegenheit, das Volk und die nordische Natur zu studieren, und beide, Land und Leute Norwegens, haben in ihr später die verständnisvollste Darstellerin gefunden. Als nach 18jähriger Ehe der Pfarrer starb, wandte sich die Witwe wieder nach Kopenhagen, um es nun mit der Schriftstellerei zu versuchen. Sie brachte zuerst kleinere Arbeiten ("Fortällinger" u. a.), sodann die ebenso eigentümliche wie schöne Erzählung "Signes Historie" (1864), die durchschlagenden Erfolg hatte. Es war damals die Blütezeit der Bauerngeschichten und die Strömung ihr sonach förderlich; gleichwohl verdankt sie vorzugsweise ihrem eignen Talent die Erfolge dieser und ihrer folgenden Erzählungen, die sich ebensosehr durch Originalität der Erfindung und Tiefe der Charakteristik wie durch Pracht der Schilderungen auszeichnen. Es sind: "Solen i Siljedalen" (1868); "Billeder fra Vestkysten af Norge" (1872); "Nyere Fortällinger" (1873); "Livsbilleder" (1877); "Herluf Nordal" (1879); "Billeder fra Midnatsolens Land" (1884-86, 2 Bde.). In ihren Bühnendichtungen ("Et rigt parti". 1870; "Inden Döre", 1877; "Kristoffer Valkendorf og Hanseaterne", 1878; "En opgaaende sol", 1882) zeigt sie sich weniger beanlagt. Der größte Teil ihrer Dorfgeschichten wurde von Reinmar ins Deutsche übersetzt (2. Aufl., Berl. 1884, 5 Bde.). Ihre neueste Veröffentlichung ist ein Band Gedichte (1887).

Thorheit unterscheidet sich von der Tugend, welche nur gute, wie von dem Laster, welches nur schlechte Zwecke verfolgt, durch moralische Gleichgültigkeit gegen die Beschaffenheit des Zwecks, von der Weisheit, welche zur Erreichung guter, wie von der Klugheit, welche zu solcher beliebiger Zwecke taugliche Mittel wählt, durch die gedankenlose Sorglosigkeit oder (logische) Verkehrtheit in der Wahl der Mittel.

Thorild, Thomas, schwed. Dichter und Denker, geb. 1759 zu Kongelf in Bohuslän, trat als leidenschaftlicher Gegner des herrschenden französischen Geschmacks auf und verschaffte, ein Verehrer Klopstocks und Ossians, der Romantik in Schweden Eingang, verweilte dann 1788-90 zur Ausführung seiner weltverbessernden Ideen in England, ohne Erfolg zu haben, wurde nach seiner Rückkehr wegen der freisinnigen politischen Schrift "Ärligheten" ("Die Ehrlichkeit") auf mehrere Jahre des Landes verwiesen, erhielt 1795 eine Anstellung als Professor der schwedischen Litteratur und Bibliothekar zu Greifswald und starb daselbst 1808. Weniger durch seine Poesien, von denen das didaktische Gedicht "Passionerna" ("Die Leidenschaften^, Stockh. 1785) genannt sei, hat T. durch seine Streitschriften, die er zum Teil unter dem Titel: "Kritik öfver kritiker med utkast til en lagstiftning i snillets verld" ("Kritik über Kritiken nebst Entwurf zu einer Gesetzgebung im Reich des Genies", 1791) herausgab, Einfluß auf die Entwickelung der schwedischen Dichtkunst ausgeübt. Als origineller und paradoxer Denker aber erscheint er besonders in seinem Hauptwerk: "Maximum sive archimetria" (Berl. 1799), das eine Fundamentalphilosophie oder urwissenschaftliche Grundlehre, allgemeine Kritik "Tanti et Totius" sein sollte. Grundlage alles Wissens ist danach das Gefühl der Notwendigkeit, so zu denken, wie man denkt, und da bei einem echten Denker vorausgesetzt werden müsse, daß er überhaupt nichts, was ihm nicht denknotwendig scheine, denke, so sei überhaupt jedes Denken Erkenntnis, weil und insoweit es notwendiges Denken ist, und der Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum besteht in dem Wieviel (Tantum quantum), d. h. in dem Grade der Notwendigkeit, welche dasselbe besitzt. Ein philosophisches Glaubensbekenntnis, das T. drucken ließ, soll unterdrückt worden sein. Eine neue Ausgabe seiner "Samlade skrifter" besorgte Hanselli (Stockh. 1873-1874, 2 Bde.). Vgl. Geijer, Thorild (Upsala 1820).

Thorium (Donarium) Th, chem. Element, welches sich im Thorit, Orangit, Pyrochlor, Monazit und andern seltenen Mineralien findet und aus dem Chlorthorium gewonnen wird. Es bildet ein graues Pulver vom spez. Gew. 7,73, Atomgewicht 231,96, zersetzt nicht Wasser, ist leicht löslich in Salpetersäure, schwer in Salzsäure, verbrennt beim Erhitzen an der Luft zu farbloser Thorerde (Thoroxyd, Thorsäure) ThO2. Diese bildet mit farblosen Säuren farblose Salze, die etwas zusammenziehend schmecken und beim Erhitzen zersetzt werden.

Thorn (poln. Torun), Kreisstadt und seit dem Eingehen der Festung Graudenz durch Anlage zahlreicher detachierter Forts auf beiden Seiten der Weichsel Festung ersten Ranges, an der Weichsel, über die hier eine 1000 m lange Eisenbahnbrücke führt, Knotenpunkt der Linien Schneidemühl-T., T.-Allenstein, T.-Alexandrowo, T. Marienburg und Posen-T. der Preußischen Staatsbahn, 34 m ü. M., hat alte, vom Deutschen Orden erbaute Ringmauern, 2 evangelische und 3 kath. Kirchen (unter letztern die Johanniskirche mit dem Epitaphium des Kopernikus), eine Synagoge, ein altes Schloß (von 1260), ein schönes Rathaus (mit wichtigem Archiv und Museum), 2 Bahnhöfe, ein Schlachthaus, einen Marktplatz (in der Altstadt) mit der kolossalen Bronzestatue des Kopernikus, welche dem 1473 in T. gebornen großen Astronomen 1853 hier errichtet wurde, und (1885) mit der Garnison (2 Infanteriereg. Nr. 21 und 61, ein Pionierbat. Nr. 2, ein Ulanenreg. Nr. 4 und ein Fußartilleriereg. Nr. 11) 23,906 meist evang. Einwohner. Die Industrie besteht in Eisengießerei, Maschinen-, Dampfkessel-, Spiritus-, Seifen-, Tabaks- und berühmter Pfefferkuchenfabrikation, Tischlerei und Schlosserei, Bierbrauerei etc. Der lebhafte Handel, unterstützt durch eine Handelskammer, eine Reichsbankstelle und andre Bankinstitute sowie durch die Stromschiffahrt, ist besonders bedeutend in Getreide und Holz, ferner in Wein, Kolonial-, Eisen- und Schnittwaren, Vieh, Steinkohlen etc. Besucht sind auch die dortigen alljährlichen Woll-, die allmonatlichen Pferde- und allwöchentlichen Viehmärkte. T. ist Sitz eines Landgerichts, eines Hauptzollamtes, des Stabes der 8. Infanteriebrigade und hat ein Gymnasium mit Realgymnasium u. ein Lehrerinnenseminar. Unmittelbar bei T. liegt das Dorf Mocker mit Eisengießerei, Ma-

Wappen von Thorn.

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Thornbury - Thorwaldsen.

schinen- und Nudelfabrikation und (1885) 6826 Einw. sowie der Flecken Podgorz mit 1972 Einw. Zum Landgerichtsbezirk T. gehören die neun Amtsgerichte zu Briesen, Gollub, Kulm, Kulmsee, Lautenburg, Löbau, Neumark, Strasburg und T. - Den ersten Grund zu der Stadt legte der Hochmeister Hermann Balk 1231. Deutsche Einwanderer aus Westfalen bevölkerten die Stadt, die 28. Dez. 1232 das unter dem Namen der Kulmischen Handfeste bekannte Privilegium erhielt. T. trat später dem Hansabund bei. Hier wurde 1411 zwischen dem König Wladislaw II. von Polen und dem Deutschen Orden Friede geschlossen. 1454 ward das Schloß zu T. vom Preußischen Bund erobert und von den Bürgern zerstört. Am 19. Okt. 1466 ward hier ein zweiter Friede zwischen Polen und dem Deutschen Orden geschlossen. Der Waffenstillstand mit Polen zu T. 5. April 1521 gewährte dem Hochmeister Albrecht von Brandenburg vier Jahre Ruhe bis zum berühmten Krakauer Frieden. 1557 nahmen Rat und Bürgerschaft die Reformation an, und 1558 ward die Marienschule zu einem Gymnasium erhoben. Auf Veranlassung des polnischen Königs Wladislaw IV. ward hier 1645 unter Ossolinskis Vorsitz das sogen. Colloquium charitativum zur Versöhnung der Katholiken und Dissidenten, woran auch G. Calixt teilnahm, veranstaltet. Streitigkeiten, welche 16. Juli 1724 zwischen den Jesuitenzöglingen und den Schülern des protestantischen Gymnasiums bei Gelegenheit der Fronleichnamsprozession entstanden, hatten einen Tumult zur Folge, wobei das Jesuitenkloster gestürmt und verwüstet wurde. Die polnische Regierung ließ darauf auf Grund eines ganz ungesetzlichen Verfahrens 7. Dez. 1724 den Stadtpräsidenten Rößner nebst neun Bürgern enthaupten (Thorner Blutbad) und bestimmte, daß der Magistrat künftig zur Hälfte aus Katholiken bestehen und die Marienkirche den Katholiken übergeben werden sollte. Bei der zweiten Teilung Polens fiel T. zugleich mit Danzig 1793 an Preußen. Durch den Frieden von Tilsit 1807 kam es an das Großherzogtum Warschau, und 16. April 1813 mußte es, nachdem es von den Russen und Preußen eingeschlossen worden war, nach achttägiger Beschießung kapitulieren. Durch die Wiener Kongreßakte von 1815 kam es von Polen an Preußen zurück und ward seit 1818 mit Festungswerken versehen. Vgl. Wernicke, Geschichte Thorns (Thorn 1839-42, 2 Bde.); Hoburg, Die Belagerungen der Stadt und Festung T. (das. 1850); Steinbrecht, Die Baukunst des Deutschen Ritterordens, Bd. 1: T. im Mittelalter (Berl. 1884); Kestner, Beiträge zur Geschichte der Stadt T. (Thorn 1883); Steinmann, Der Kreis T. (das. 1866).

Thornbury (spr. thórnböri), George Walter, engl. Dichter und Schriftsteller, geb. 1828 zu London, gest. daselbst 11. Juni 1876, begann seine Laufbahn 1845 mit Beiträgen zum "Bristol Journal" und schrieb später hauptsächlich für das "Athenaeum". Sein erstes größeres Werk war: "Lays and legends of the New World" (1851). Es folgten eine Geschichte der Bukanier ("Monarchs of the Main", 1855, neue Aufl. 1873), "Shakspere's England during the reign of Elisabeth" (1856, 2 Bde.) und "Art and nature at home and abroad" (1856, 2 Bde.). Als Dichter zeigte er sich in "Songs of Cavaliers and Roundheads" (1857), "Two centuries of song" (1867) und "Historical and legendary ballads and songs" (1875) sowie in seinen Romanen, von denen zu nennen: "Every man his own trumpeter" (1858); "Icebound" (1861); "True as steel" (1863, 3 Bde.); "Wildfire" (1864); "Tales for the marines" (1865); "Haunted London" (1865); "Greatheart" (1866); "The vicar's courtship" (1869) und "Old stories retold" (1869). Als Kunstschriftsteller hat sich T. hervorgethan in den Werken: "British artists from Hogarth to Turner" (1861, 2 Bde.) und "Life of J. M. W. Turner" (1861). Von seinen Reiseschilderungen sind anzuführen: "Life in Spain" (1859); "Turkish life and character" (1860); "Tour round England" (1870, 2 Bde.); "Criss crossjourneys" (1873, 2 Bde.); "Old and new London" (1873-74, 2 Bde.).

Thornhill, Stadt im südwestlichen Yorkshire (England), am Calder, dicht bei Dewsbury, hat chemische Fabriken, Eisenhütten und (1881) 8843 Einw.

Thornhill, James, engl. Maler, geb. 1676 zu Melcombe Regis in Dorset, bildete sich bei Th. Highmore und war dann besonders auf dem Gebiet der dekorarativen Malerei unter dem Einfluß der französischen Schule thätig. Er schmückte unter anderm die Kuppel der Paulskirche, die große Halle zu Blenheim, die Kapelle zu Wimpole, die große Halle zu Greenwich, ferner Hamptoncourt und Easton Neston mit Gemälden und malte auch Porträte und Landschaften. Er starb 13. Mai 1734 bei Weymouth.

Thornton, Stadt in Yorkshire (England), westlich von Bradford, hat Worstedweberei, Fabrikation von Weberschiffen und Holzschuhen und (1881) 6084 Einw.

Thorpe (spr. thorp), Benjamin, engl. Forscher auf dem Gebiet der angelsächsischen Sprache und Litteratur, geb. 1782, folgte in seinen Studien den Grundsätzen des Dänen Rask (s. d.), dessen angelsächsische Grammatik er ins Englische übertrug (Kopenh. 1830, 3. Aufl. 1879); starb 23. Juli 1870 in Chiswick. T. lieferte viele schätzbare Ausgaben und Übersetzungen angelsächsischer Sprachdenkmäler, unter denen hauptsächlich die folgenden hervorzuheben sind: "Anglo-Saxon version of the story of Apollonius" (Lond. 1836); "Codex Vercellensis"(1837); "Ancient laws and institutes of the Anglo-Saxon kings" (1840, 2 Bde.); "Codex Exoniensis, a collection of Anglo-Saxon poetry" (1842); "Analecta anglo-saxonica" (1846, neue Ausg. 1868); "Anglo-Saxon version of the four gospels" (1848); "Beowulf" (1855, 2. Aufl. 1875); "Libri psalmorum versio, latina et anglo-saxonica" (1857); "Anglo-Saxon chronicle" (1861, 2 Bde.) und "Diplomatarium anglicanum aevi saxonici" (1865). Außerdem schrieb er: "Northern mythology" (1852, 3 Bde.), eine kritische Übersicht der Volkssagen Skandinaviens, Norddeutschlands und der Niederlande, der sich "Yule tide tales" (1852) und eine Übersetzung der Edda (1866) anschlossen; auch übertrug er Lappenbergs "Geschichte Englands" sowie Paulis "Alfred d. Gr." u. a. ins Englische.

Thorshavn, Stadt auf Strömö, s. Färöer, S. 58.

Thorstein, Berg, s. Dachstein.

Thorsteuer (Thoraccise), eine Form der Aufwandsteuer, erhoben beim Eingang von Waren in bewohnte (geschlossene) Orte, kommt unter der Benennung Ottroi meist nur als Gemeindesteuer vor.

Thorwaldsen, Bertel (in Rom Alberto genannt), Bildhauer, geb. 19. Nov. 1770 auf der See zwischen Island und Kopenhagen, wohin sich sein Vater, ein Isländer, begab, um sich seinen Lebensunterhalt durch Schnitzen von Figuren für Schiffsvorderteile zu erwerben. T. war schon als Knabe in demselben Beruf thätig. Vom elften Jahr an besuchte er die Kunstakademie, wo er mit Erfolg studierte und mehrere Preise gewann. Unter anderm hatte T. damals die Büste des Staatsministers Peter Andreas v. Bernstorff modelliert, welche er später (1798) zu Rom in Marmor ausführte. Dadurch wurde der Staatsmi-

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Thorwaldsen.

nister Graf Reventlow auf ihn aufmerksam und verschaffte ihm ein dreijähriges Reisestipendium. Im Mai 1796 verließ T. Kopenhagen zu Schiff, kam aber erst im Februar des folgenden Jahrs in Neapel und 8. März in Rom an. Hier ging ihm unter dem Anschauen der antiken Götter- und Heroenbilder das Verständnis für die klassische Kunstrichtung auf. Insbesondere gaben auch die Zeichnungen von Carstens und Zoega seinem Geiste die Richtung auf die ideale Schönheit der antiken Kunst. Im Sommer 1798 übersandte er von Rom aus der Kopenhagener Akademie sein erstes selbständiges Werk: Bakchos und Ariadne. Gegen das Ende seines auf drei Jahre bestimmten Aufenthalts in Rom führte er noch einen das Goldene Vlies erobernden Jason aus, fand aber damit keinen Beifall und zerschlug ihn. Ein neuer Jason, in kolossaler Größe, fand zwar bei Zoega und Canova Anerkennung, hätte jedoch fast das Schicksal seines Vorgängers geteilt. T. wollte seine Rückreise nach Kopenhagen mit dem Bildhauer Hagemann aus Berlin antreten, ward jedoch durch eine Paßangelegenheit des letztern um einen Tag aufgehalten. Gerade an demselben Tag besuchte der reiche Brite Sir Th. Hope Thorwaldsens Atelier und bestellte die Ausführung des Modells vom Jason, wodurch über Thorwaldsens fernern Aufenthalt in Rom und damit über seine Zukunft entschieden wurde. Verschiedene Umstände verzögerten die Vollendung der Arbeit bis 1828, wo T. das Werk zugleich mit mehreren Reliefs und Büsten als Geschenken des Künstlers an Hope nach England absendete. In das Frühjahr 1805 fällt die Ausführung von vier Statuen: Bakchos mit Thyrsos und Patera, Ganymed mit Jupiters Adler zu seinen Füßen, Apollon, mit Leier und Plektron an den Baumstamm gelehnt, und die berühmte Venus mit dem Apfel, nackt, mit dem Kleid über dem Baumstamm. Letztere hat der Künstler später (1813-16) auch in Lebensgröße ausgeführt. Im Mai 1805 wurde T. zum Mitglied der Akademie in Kopenhagen und zum Ehrenmitglied der Akademie in Bologna ernannt. Von den Werken der nächstfolgenden Jahre sind die hervorragendsten: der Adonis (1810) in der Münchener Glyptothek; das Relief: A genio lumen, die Kunst als sitzende weibliche Gestalt darstellend; Hektor den Paris auffordernd, die Waffen zu ergreifen, und vier Reliefs: Amor als Löwenbändiger, Venus, aus der Muschel ins Licht der Welt tretend, Amor, von der Biene verwundet und vor seiner Mutter klagend, und Bacchus, welchen Merkur der Ino übergibt, sämtlich für den Fürsten Malte von Putbus. Von Napoleon I. erhielt T. den Auftrag, für den Sommerpalast auf Monte Cavallo (Palazzo Quirinale) einen großen Fries auszuarbeiten. T. wählte den Triumphzug Alexanders d. Gr. in Babylon und vollendete das Werk im Juni 1812. Eine Ausführung in Marmor, die Napoleon I. für Paris bestellt hatte, wurde nach dem inzwischen erfolgten Sturz des Kaisers für die Villa des Grafen Sommariva (jetzt Villa Carlotta) am Comersee 1828 vollendet. Später hat T. den Triumphzug noch mehrere Male ausgeführt, unter anderm 1829 für das Schloß Christiansborg in Kopenhagen (s. Tafel "Bildhauerkunst VII", Fig. 1 u. 2). Gestochen ist er am besten von Amsler (mit Beschreibung von L. Schorn, Münch. 1835, und mit Text von Lücke, Leipz. 1870). In Montenero, wohin sich T. wegen Unwohlseins begeben, führte er 1815 nach drei Monate langem schwermütigen Hinbrüten die beiden schönen Reliefs: Nacht und Morgen an Einem Tag aus. In den Jahren 1817 und 1818 modellierte er unter anderm eine Statue des Ganymed, die Büste Lord Byrons, den berühmten Hirtenknaben mit dem Hunde, die Statue der Hoffnung (im Schloß Tegel bei Berlin), Merkur als Argustöter und ein Relief für die Kapelle im Palast Pitti: Christus mit seinen Jüngern am Meer bei Tiberias, dem Christus in Emmaus folgte. Seine damals ausgeführte Gruppe der Grazien zeigt im Gegensatz zu der berühmten des Canova die keusche Strenge der Antike. 1819 kehrte T. nach Kopenhagen zurück. Seine ersten dortigen Arbeiten waren die Büsten des Königs und der Königin sowie mehrerer Prinzen und Prinzessinnen. Bedeutungsvoller sind die Werke für die Frauenkirche in Kopenhagen, welche er teils damals, teils später ausführte. Im August 1820 verließ er, zum Etatsrat ernannt, die dänische Hauptstadt und ging über Deutschland, Polen und Österreich nach Italien zurück. In Rom modellierte er zunächst die treffliche Porträtstatue des Fürsten Potocki (jetzt in der Kathedrale zu Warschau) und vollendete dann (1821) die Skizzen zu dem großen Bildercyklus der Frauenkirche. Unter seiner Aufsicht führten seine Schüler die Statuen der Apostel und den aus 14 Statuen bestehenden Schmuck des Giebelfeldes: die Predigt des Johannes in der Wüste aus. Das nächste größere Werk, das Monument des Kopernikus, in Bronze gegossen, ward 1830 auf dem Universitätsplatz zu Warschau aufgestellt. Zu Thorwaldsens Hauptarbeiten der folgenden Jahre gehören: das Modell zur Reiterstatue des Fürsten Poniatowski, welche, in Bronze gegossen, 1830 zu Warschau enthüllt wurde, und die Büste und ein Relief für den Sarkophag des Kardinals Consalvi. Obwohl T. Protestant war, wurde er ausersehen, dem Papst Pius VII. ein Denkmal zu setzen; dasselbe ward 1830 in Marmor vollendet und in der Kapelle Clementina der Peterskirche aufgestellt. Weitere Werke Thorwaldsens aus dieser Zeit sind: das Monument des Herzogs Eugen von Leuchtenberg in der St. Michaelskirche zu München und die Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern auf dem Wittelsbacher Platz daselbst, die Statue Gutenbergs für Mainz, welche 1837, und die Schillers für Stuttgart, die 1839 enthüllt ward. 1838 unternahm T. eine zweite Reise nach Dänemark und wurde mit großer Begeisterung empfangen. Hier beschäftigte er sich vorzugsweise mit Werken, deren Motive der christlichen Religion entnommen sind. Meisterwerke dieser Richtung sind zwei große Reliefs, der Einzug Christi in Jerusalem und der Zug des Heilands nach Golgatha, beide in der Frauenkirche zu Kopenhagen. Damals modellierte er auch die Statue König Christians IV., die, in Erz gegossen, im Dom zu Roeskilde aufgestellt wurde, dann die Büsten Holbergs, Öhlenschlägers, Steffens' und sein eignes Bild in Lebensgröße. Im Mai 1841 kehrte er nach Rom zurück. Dort vollendete er die Allegorien der sieben Wochentage in Genienfiguren, für den König von Württemberg die Reliefs der vier Jahreszeiten, der Hirtin mit den Liebesgöttern im Nest und Amors, wie er sich bei Venus über den Stich der Rose beklagt. Nachdem T. noch einen Cyklus von Bildern aus dem Leben des Heilands, als Fortsetzung der im Auftrag des Königs von Bayern begonnenen gleichartigen Arbeit, entworfen, kehrte er im Oktober 1842 nach Kopenhagen zurück. Hier beschäftigte ihn neben der Umarbeitung einiger früher gefertigter Modelle zur Ausschmückung des Schlosses Christiansborg vornehmlich der Plan zu einem Standbild Luthers, welches aber nicht zu stande kam. Aus seinem Atelier zu Rom ging in dieser Zeit die schon 1833 begonnene Statue Konradins von Schwaben in Marmor hervor, welche in der Kirche Santa Maria del

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Thos - Thouars.

Carmine zu Neapel, wo Konradins Gebeine ruhen, aufgestellt ward. T. starb plötzlich 24. März 1844 in Kopenhagen während einer Vorstellung im Theater; sein Leichenbegängnis trug das Gepräge nationaler Trauer. Thorwaldsens Hauptgebiet war die Darstellung idealer, mythologischer Gestalten; er schuf die Antike gleichsam neu in sich in ihrer Wahrheit und Einfachheit, in ihrer Naivität und ihrem Humor. In dieser Beziehung hat er eine Zeitlang auf die Richtung der Kunst des 19. Jahrh. Einfluß geübt, besonders aber auf die Kunst und Kunstindustrie seines Vaterlandes, die noch heute seiner Richtung folgt. Die Darstellung des Individuellen, Charakteristischen war ihm dagegen versagt, ebenso wie das Dramatische außerhalb seiner Begabung lag. Seine Bedeutung liegt in der Wiederbelebung der idyllischen Richtung der antiken Kunst. T. war nie verheiratet und hatte außer einer natürlichen Tochter keine Angehörigen. Zum Erben seines künstlerischen Nachlasses nebst einem Kapital von 75,000 Thaler hatte er seine Vaterstadt eingesetzt mit der Bedingung, daß ein eignes Gebäude zur Aufbewahrung desselben errichtet werde. Dieses Thorwaldsen-Museum, nach Plänen des Architekten Bindesböll im italienischen Stil aufgeführt, wurde 1846 eröffnet und enthält (teils in Originalen, teils in Abgüssen) die sämtlichen Kunstwerke sowie die Kunstsammlungen des Meisters (darunter von seiner Hand 80 Statuen, drei lange Bilderreihen in erhabener Arbeit sowie zahlreiche andere Reliefs und 130 Büsten). In dem von den vier Flügeln des Gebäudes umschlossenen Mittelraum befindet sich sein schmuckloses Grab. Einen Katalog des Museums veröffentlichte Müller (Kopenh. 1849-1851, 8 Tle.); eine Sammlung von Lithographien (120) sämtlicher Werke Thorwaldsens gab Holst im "Musée T." (das. 1851). Denkmäler des Künstlers befinden sich im Garten des Palazzo Barberini zu Rom (nach Emil Wolff) und zu Reikjavik auf Island (seit 1875). Zu den bedeutendsten seiner Schüler gehören die Dänen Freund und Bissen, die Deutschen Emil Wolff, Schwanthaler, von der Launitz, die Italiener Tenerani, Bienaimé u. a. Vgl. Thiele, Leben und Werke des dänischen Bildhauers B. T. (Leipz. 1832-34, 4 Bde. mit 160 Kupfertafeln); Derselbe, Thorwaldsens Leben, nach eigenhändigen Aufzeichnungen (deutsch, das. 1852-56, 3 Bde.); E. Plon, T., sein Leben und seine Werke (a. d. Franz, Wien 1875); Hammerich, T. u. seine Kunst (Gotha 1876).

Thos, s. Schakal.

Thoth (Tehut), ägypt. Gott, mit dem die Griechen den Hermes identifizierten, ist ursprünglich Lunus, ein Mondgott, gewöhnlicher aber der Gott der Schrift und Wissenschaft. Sein heiliges Tier ist der Ibis, er selbst wird beständig mit einem Ibiskopf dargestellt (s. Abbildung); außerdem war ihm der Hundskopfaffe heilig, unter dessen Form er gleichfalls mitunter erscheint. Seine gewöhnlichsten Attribute sind Schreibtafel und Griffel. Er gilt als der Urheber aller Intelligenz und als der Verfasser der heiligsten Bücher. Weiteres s. Hermes Trismegistos.

Thou (spr. tu), 1) Jacques Auguste de, latinisiert Thuanus, franz. Geschichtschreiber und Staatsmann, geb. 8. Okt. 1553 zu Paris, wo sein Vater Christoph de T. erster Parlamentspräsident war, studierte in Orléans und Valence die Rechte, ward von Heinrich III. mit mehreren wichtigen Missionen, unter andern 1576 mit den Unterhandlungen mit den protestantischen Führern in Guienne, betraut und zum geistlichen Rat beim Pariser Parlament ernannt. Nach dem Tod seiner beiden Brüder gab er den beabsichtigten Eintritt in den geistlichen Stand auf, ward 1584 Requetenmeister, folgte 1586 Heinrich III. nach Chartres, veranlaßte ihn 1588 zu dem Bündnis mit Heinrich von Navarra und reiste, um Geld zur Fortsetzung des Kampfes gegen die Liga zu schaffen, nach Deutschland und Italien. Nach Heinrichs IIl. Ermordung trat er in die Dienste Heinrichs IV. 1594 ward er Vizepräsident des Parlaments und Großmeister der königlichen Bibliothek. Als toleranter, freisinniger Katholik hatte er wesentlichen Anteil an der Ausarbeitung des Edikts von Nantes. Nach Heinrichs IV. Ermordung (1610) verlieh ihm die Regentin Maria von Medici nicht die ihm versprochene Stelle des ersten Präsidenten des Parlaments, sondern ernannte ihn zu einem der drei Generaldirektoren der Finanzen; daher zog er sich bald aus dem öffentlichen Leben zurück. Er starb 7. Mai 1617. Sein Hauptwerk ist die "Historia mei temporis", 1543-1607, die er 1591, vom Tod Franz' I. ausgehend, begann. Die ersten 18 Bücher wurden 1604 veröffentlicht. 1606 erschien eine neue Ausgabe bis zum 49. Buch, 1614 eine dritte, 80 Bücher umfassend, bis 1584. Das Werk sollte nach seinem Plan 138 Bücher umfassen und bis zum Tod Heinrichs IV. reichen; allein bei Veranstaltung der nächsten Ausgabe überraschte ihn der Tod, und dieselbe erschien daher erst 1620, von seinem Verwandten Dupuy und seinem Freund Nic. Rigault besorgt. Vollständig erschien das Werk in dem ursprünglichen Text und von Rigault aus Thous Materialien bis zu dem bestimmten Ziel fortgesetzt zu London 1733 in 7 Bänden. Nach dieser Ausaabe ist die 1734 zu Paris (mit dem Druckort London) erschienene französische Übersetzung (16 Bde.) abgefaßt. Das in trefflichem lateinischen Stil geschriebene Werk ist für die Geschichte jener Zeit, besonders die französische, und für die Würdigung der damaligen religiösen Händel äußerst wichtig, da T. Augenzeuge vieler Ereignisse war und nach unparteiischer Wahrheit strebte. Dennoch wurde er als kirchenfeindlich und parteiisch für die Hugenotten angegriffen. Zu seiner Rechtfertigung schrieb T. seit 1616: "Thuani commentarius de vita sua", libri IV" (Orl. 1620, deutsch in Seybolds "Selbstbiographien berühmter Männer"). Eine Sammlung trefflicher Poesien in lateinischer Sprache erschien unter dem Titel: "Posteritati; poematum opus notis perpetuis illustratum a J. Melanchthone" (Amsterd. 1678). Vgl. Phil. Chasles, Discours sur la vie et les oeuvres de J. A. de T. (Par. 1824); Düntzer, de Thous Leben, Schriften und historische Kunst (Darmst. 1837).

2) François Auguste de, franz. Staatsrat, Sohn des vorigen, geb. 1607 zu Paris, glich seinem Vater an Talenten und Kenntnissen sowie an Edelmut des Charakters, wurde sehr jung Parlamentsrat, Requetenmeister, auch Großmeister der königlichen Bibliothek und später Staatsrat, aber als Mitwisser der Verschwörung des Cinq-Mars (s. d.) 12. Sept. 1642 in Lyon enthauptet.

Thouars (spr. tuár), Stadt im franz. Departement Deux-Sèvres, Arrondissement Bressuire, rechts am Thouet, über den drei Brücken führen, Knotenpunkt

[Thoth.]

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Thouars - Thrakische Chersones.

der Eisenbahnen Tours-Bressuire und Saumur-Niort, hat ein Felsenschloß mit schöner Kapelle, Reste von Befestigungswerken, Weberei, Gerberei, Handel mit Getreide, Pferden etc. und (1881) 3535 Einw.

Thouars, auch P. Th., bei botan. Namen für L. M. A. du Petit-Thouars, geb. 1756 auf Schloß Boumois in Anjou, bereiste die Maskarenen und Madagaskar, gest. 1831 in Paris. Flora der südafrikanischen Inseln; Obstbäume.

Thourout (spr. turuh), Stadt in der belg. Provinz Westflandern, Arrondissement Brügge, Knotenpunkt der Staatsbahnlinie Ostende-Ypern und der Linie Brügge-Courtrai, hat Leinweberei, Gerberei, Hutfabrikation und (1888) 8972 Einw.

Thouvenel (spr. tuhw'nell), Edouard Antoine, franz. Staatsmann, geb. 11. Nov. 1818 zu Verdun, bereiste nach Absolvierung seiner Rechtsstudien den Orient (vgl. sein Werk "La Hongrie et la Valachie", 1840), ging 1844 als Attaché nach Brüssel und 1845 als Gesandtschaftssekretär nach Athen, wo er 1848 Gesandter wurde; 1850 ward er nach München versetzt. Als entschiedener Anhänger des Prinz-Präsidenten erhielt er nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 die Leitung der politischen Angelegenheiten im Departement des Auswärtigen übertragen. Dem Kaiser machte er sich unentbehrlich durch die Gewandtheit, womit er dessen Ideen aufzunehmen und in vollendeter Form diplomatisch zu gestalten verstand. 1855 für den Gesandtschaftsposten in Konstantinopel ausersehen, sollte er vornehmlich den englischen Einfluß im Diwan brechen; doch gelang es ihm nicht, den französischen Einfluß zu größerer Geltung zu bringen. Seit 8. Mai 1859 Senator, war er vom 24. Jan. 1860 bis 15. Okt. 1862 Minister des Auswärtigen. Er starb 19. Okt. 1866 in Paris. Vgl. "Le secret de l'empereur. Correspondance confidentielle et inédite entre M. T., le duc de Grammont et le général Flahault 1860-63", veröffentlicht von M. Thouvenel (Par. 1888).

Thouvenin (spr. tuhw'náng), Louis Etienne de, geb. 1791 zu Moyenvic (Meurthe), wurde 1811 Artillerieleutnant im französischen Heer, focht mit Auszeichnung in den Feldzügen 1813-15, dann 1823 in Spanien, 1828 in Griechenland, trat 1853 als Brigadegeneral in den Ruhestand und starb 1882. Er schlug 1840 eine Verbesserung des gezogenen Gewehrs vor, indem er einen Dorn in der Schwanzschraube des gezogenen Gewehrs anbrachte, und konstruierte 1844 eine Dornbüchse mit Langgeschoß, welche 1846 angenommen, fast in allen Heeren als Jägerwaffe, auch als Birsch- und Scheibenbüchse benutzt und erst durch das Minie- und Zündnadelgewehr verdrängt wurde.

Thrakien (Thrake, lat. Thracia), in den ältesten Zeiten Bezeichnung der nördlich von Griechenland sich ausdehnenden Landstriche, dann das Land östlich und nördlich von Makedonien; zur Zeit der Römerherrschaft das im W. vom Gebirge Rhodope, im N. vom Hämos, im O. vom Pontos Euxeinos und dem Thrakischen Bosporus und im S. von der Propontis, dem Hellespont und dem Ägeischen Meer begrenzte Land. Hauptgebirge desselben ist der Hämos im N., an den sich im SW. der Skomios anschließt. Die bedeutendsten Flüsse sind die an der Südküste mündenden: Nestos und Hebros (jetzt Maritza) mit dem Ergines (jetzt Ergene) und dem Artiskos (Arda). Von Meerbusen ist nur der Melasbusen zwischen T. und der Thrakischen Chersones ermähnt. Das Land lieferte Getreide in Menge und selbst Wein. Auch an edlen Metallen war es reich, und bei Philippi wurden Goldminen bearbeitet. Die unter dem allgemeinen Namen Thraker (Thrakes) begriffenen Einwohner arischen Stammes standen frühzeitig auf einer ziemlich hohen Stufe der Kultur, sanken aber später in derselben und zerfielen in eine Menge Völkerschaften, z. B. die Odrysen am Hebros, die Besser längs der Rhodope und die Kikonen und Bistonen am Ägeischen Meer. Die Sitten und Gebräuche der Thraker hatten viel Übereinstimmendes mit denen der germanischen Völker. Jagd und Krieg bildeten die Hauptbeschäftigung der Männer. Eine den Thrakern eigentümliche Sitte war das Tättowieren. Manche Stämme hatten Könige, denen ein Rat zur Seite stand. Die Religion war die polytheistische der Griechen. Menschenopfer wurden nur bei Nationalfeiern dargebracht. Die wichtigern Städte, fast durchweg griechische Siedelungen, waren, zwischen Nestos und Hebros an der Küste: Abdera, Maroneia, Änos; auf der Thrakischen Chersones: Sestos, Kallipolis, Lysimachia; an der Propontis: Perinthos, Selymbria; am Thrakischen Bosporus: Byzantion; am Pontos: Apollonia, Mesembria; im Innern: Philippopolis, Hadrianopolis.

Dareios Hystaspis hatte auf seinem Feldzug gegen die Skythen 515 v. Chr. die um den Pontos Euxeinos wohnenden thrakischen Stämme unterjocht; doch hörte die persische Herrschaft wieder ganz auf, als der Zug des Königs Xerxes gegen Griechenland 480 unglücklich ablief. Nach den Perserkriegen bemächtigten sich die Griechen der thrakischen Küsten, und namentlich war es Athen, welches mehrere Seestädte und die Striche in T. mit den Goldbergwerken an sich riß. Im Innern gelangten besonders die Odrysen zur Herrschaft, namentlich unter ihren Fürsten Teres und Sitalkes, der sein Reich bis zum Istros, Nestos und Pontos Euxeinos ausdehnte. Mit den Athenern befreundet, unternahm er auf ihre Veranlassung gegen Perdikkas von Makedonien 430 einen Feldzug, blieb aber 425 gegen die Triballer. Sein achfolger Seuthes L unterwarf sich mehrere Nachbarvölker. Seuthes I. (400) war der Schwiegersohn des Atheners Xenophon. Sein Nachfolger Kotys (380) eroberte fast ganz T., wodurch er in Zwiespalt mit Athen geriet. Sein Sohn Chersobleptes wurde von Philipp von Makedonien 343 seines Landes beraubt und T. dem makedonischen Reich einverleibt. Nach Alexanders d. Gr. Tod wurde T. Lysimachos 311 zugesprochen, doch behaupteten mehrere Stämme unter Seuthes III. ihre Unabhängigkeit. Nach Lysimachos' Tod eroberten 280 keltische Völkerschaften das Land, wurden aber um 220 wieder vertrieben, worauf wieder jeder Volksstamm seinen besondern Heerführer hatte. Besonders mächtig wurden die Besser sowie die odrysischen Fürsten. M. Crassus unterwarf einen großen Teil des Landes, welcher unter dem Namen Mösia zur römischen Provinz gemacht ward. Das übrige T. stand zwar in Abhängigkeit von den Römern, hatte aber eigne Könige. Nach dem Tode des Rhömetalkes, 7 n. Chr., verteilte Kaiser Augustus dessen Reich zwischen dessen Bruder und Sohn Rheskuporis und Kotys V. Ihnen folgte durch die Gunst des Tiberius des erstern Sohn Rhömetalkes II., und Caligula überließ ihm 38 die Herrschaft über ganz T. Nach seinem Tod (47) wurde ganz T. römische Provinz, erhielt aber erst von Vespasianus die Einrichtung einer solchen. Unter den byzantinischen Kaisern wurden viele fremde Völker nach T. verpflanzt, so die Bastarner von Probus, die Goten von Valens und Theodosius. Vgl. Cary, Histoire des rois de Thrace (Par. 1825).

Thrakische Chersones, s. Chersonesus.

Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl., XV. Bd.

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Thrakischer Bosporus - Thrasybulos.

Thrakischer Bosporus, im Altertum Name der Straße von Konstantinopel.

Thran (Fischthran, Fischöl), fettes Öl aus Seesäugetieren und Fischen. Die Waltiere und Robben, welche hauptsächlich des Thrans halber gejagt werden, besitzen unter der Haut eine sehr starke Specklage, aus welcher man durch Auskochen den T. gewinnt. Früher geschah dies meist auf den Schiffen selbst, während man jetzt den in Fässern verpackten Speck nach den Seestädten bringt und mit Dampf ausschmelzt. Frischer Speck liefert einen hellen T. von mildem Geschmack und Geruch; aus dem auf der Reise angefaulten Speck erhält man dagegen bei größerer Ausbeute einen dunkelbraunen T. von widerlich scharfem Geruch und Geschmack, nachdem eine etwas bessere Sorte vorher freiwillig abgeflossen ist. Der braune T. wird durch Schütteln mit Ätzkali oder Metallsalzlösungen, Lohbrühe oder Chlorkalk gereinigt und zum Teil auch gebleicht. Heller T. harzt stärker auf dem Leder als dunkler, bei höherer Temperatur durch Ausbraten gewonnener und erhält die guten Eigenschaften des letztern, wenn man ihn auf 290° erhitzt. Der gewöhnliche Walfischthran, zunächst vom Grönlandswal (Balaena Mysticetus) gewonnen, ist meist als weißer T. im Handel, obwohl davon auch eine gelbe und braune Sorte existiert. Der T. vom Pottfisch oder Kachelot (Catodon macrocephalus) ist hell orangegelb, in dünnen Schichten lichtgelb, durchsichtig klar, vom spez. Gew. 0,884, setzt bei 8° nadelförmige Fettkristalle ab. Er dringt leicht in das Leder ein, schlägt aber gern durch. Delphinthran, hauptsächlich aus dem Speck des Grindwals (Globiceps macrocephalus), im Norden Europas in großen Mengen erzeugt, ist leichtflüssig, zitronengelb, von sehr starkem Geruch, scheidet bei 3° Fettkristalle ab und erstarrt erst bei niedriger Temperatur. Er eignet sich bestens für die Sämischgerberei. Der Döglingthran, aus dem Zwergwal (Balaenoptera rostrata) gewonnen, ist farblos bis braun, riecht sehr intensiv, gehört zu den schlechten Thransorten und wird meist mit andern Thranen gemischt. Die Robbenthrane, zu denen der beliebte Dreikronenthran gehört, werden aus dem Speck der Ohrenrobben (Otaria), Seehunde (Phoca) und Walrosse (Trichechus) auf verschiedenen Meeren gewon^ nen. Diese Thrane sind viel geschätzter als die Walsischthrane. Da sie spezisisch schwerer sind, liefern sie im Leder bessere Gewichtsergebnisse, wegen ihrer Dickfiüssigkeit schlagen sie nicht leicht durch und mischen sich auch gleichmäßiger mit dem Talg zu einer gleichförmigen Schmiere. Dazu kommt, daß die Walthrane mit der Zeit an der Luft zu einer starren Masse eintrocknen, wobei das Leder steif, hart und brüchig wird. Durch den Sämischprozeß wird der Walfischthran in ein braunes, dickes Öl (Moellon, Dégras) umgewandelt, welches nicht mehr an der Luft trocknet und als vorzügliches Lederschmiermittel bekannt ist. Die Umwandlung, welche der Walfischthran hier erfahren hat, muß auch auf andre Weise herbeigeführt werden können, wenigstens kommt als Baläneïn ein T. im Handel vor, welcher viele wertvolle Eigenschaften des Dégras besitzt und dem Leder helle Farbe und große Milde verleiht. Für die Sämischgerberei sind die Walfischthrane vorzuziehen, weil sie vermöge ihrer Dünnflüssigkeit leichter als die Seehundsthrane in die Blöße eindringen. Von den Fischthranen ist der T. vom Stockfisch oder Dorsch (Gadus Morrhua) am wichtigsten. Er wird aus der Leber dieser beiden Fische, aber auch aus der Leber andrer Schellfische gewonnen, der helle und braunblanke durch Behandeln der Leber mit Dampf, der dickflüssigere, dunklere durch Ausbraten der gedämpften Lebern über freiem Feuer. Der Dampfthran bildet beim Lagern einen bedeutenden Bodensatz und braucht lange Zeit zum Abklären. Für die Benutzung als Lederschmiere ist das Auskochen ebenso notwendig wie beim Wal- und Robbenthran. Heringsthran kommt weiß, blond und braun vor, ist sehr dickflüssig, vom spez. Gew. 0,927, riecht und schmeckt intensiv nach Seefischen. Der Gerberthran dieser Sorte ist bräunlich orangegelb, bleibt bei 0° noch flüssig und setzt nur nach einiger Zeit festes Fett ab. Beim Lagern wird er bald ranzig und ziemlich sauer, was übrigens seiner guten Verwendbarkeit als Schmiermittel nur wenig schadet. Rochenthran, aus den Lebern von Trygon Pastinaca, Raja Giorna und Raja clavata, dem Dorschthran ähnlich, wird in italienischen und südfranzösischen Gerbereien benutzt. Eine ergiebige Quelle ist durch den Haifischfang erschlossen; manche Leber soll 800 kg T. liefern. Über die Eigenschaften desselben als Lederschmiermittel ist noch nichts bekannt. An der Ostküste Nordamerikas liefert die Meerbricke (Petromyzon maximus) einen T., der weniger als Dorschthran geschätzt wird. Die Leber des Thunfisches (Thynnus vulgaris) wird jetzt ebenfalls auf T. versotten. Guter Thunfischthran ist gelbbraun, dickflüssig, vom spez. Gew. 0,9275, riecht mild nach Sardinen, erstarrt erst unter 0° und stellt sich den besten bisher im Handel vorkommenden Thranen zur Seite.

Thränen (Lacrimae), die wässerige und klare Flüssigkeit, welche von den acinösen Thränendrüsen abgesondert wird und auf 99 Proz. Wasser kleine Mengen von Mucin und Eiweiß sowie ca. 0,8 Proz. Salze enthält. Die T. werden beständig in geringer Menge abgesondert, ergießen sich über die vordere Fläche des Augapfels, um diesen vor Wasserverlust zu schützen, sammeln sich im Thränensee in den innern Augenwinkeln und gelangen durch die Thränenpunkte in die Thränenkanälchen, von hier in den Thränengang und dann in die Nasenhöhle, wo sie sich dem Nasenschleim beimengen. Wird die Sekretion der T. so stark vermehrt, daß die Thränenkanälchen das Sekret nicht mehr fortzuführen im stande sind, so stürzen die T. aus dem Auge hervor (Weinen). Die Thränenabsonderung wird vergrößert durch Reizung des Nervus lacrimalis, durch gewisse psychische Affekte und reflektorisch bei Reizung der Nasenschleimhaut oder der Konjunktiva. Beiden Tieren wird ein Abfließen der T. über die Wangen nur unter pathologischen Verhältnissen wahrgenommen.

Thränenbeine, s. Schädel, S. 374.

Thränenfistel, eine krankhafte, geschwürige Öffnung, durch welche der Thränensack und Thränenkanal nach außen münden. Meist liegt eine Erkrankung der den Thränenkanal begrenzenden Knochen zu Grunde; die Behandlung beginnt mit einer Entfernung etwa abgebröckelter Knochenstückchen, später wird der Defekt durch plastische Operation geschlossen.

Thränenflaschen, fälschliche Bezeichnung für schlauchförmige, in antiken Gräbern gefundene Salbgefäße aus Glas oder Thon.

Thränengras, s. Coix.

Thränenschwamm, s. Hausschwamm.

Thränensteine, s. Augenstein.

Thraso, Name des prahlerischen Soldaten (miles gloriosus) in dem Lustspiel "Der Eunuch" von Terenz; daher thrasonisch, prahlerisch, großsprecherisch.

Thrasybulos, athen. Feldherr, Sohn des Lykos, stand 411 v. Chr. als einer der Strategen an der

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Thrasyllos - Thrombosis.

Spitze der athenischen Flotte bei Samos, setzte, um die oligarchische Herrschaft der Vierhundert zu stürzen, die Zurückberufung des Alkibiades durch und focht erst unter Alkibiades am Hellespont, dann 406 als Trierarch bei den Arginusen. Nachdem auf das Gebot Spartas in Athen die Herrschaft der Dreißig Tyrannen errichtet worden war, ging T. in die Verbannung nach Theben, fiel von da aus 403 mit 70 seiner Freunde in Attika ein, eroberte das Kastell Phyle, bemächtigte sich des Piräeus und besiegte die Tyrannen. Er betrieb darauf die Wiederherstellung der Solonischen Verfassung und den Erlaß einer allgemeinen Amnestie. Unmäßige Ausbrüche leidenschaftlicher Demokraten wider die Gegenpartei wußte er zu unterdrücken. Er begnügte sich mit einem Olivenkranz als Anerkennung seines Verdienstes. Als Feldherr befehligte er 394 die athenischen Truppen in Böotien und vor Korinth, stellte 391 den Einfluß Athens in Byzantion und auf den Inseln wieder her, namentlich durch die Eroberung von Lesbos und die Verteidigung von Rhodos, und wurde 389, als er in Pamphylien bei der Stadt Aspendos gelandet war, durch einen Ausfall der Aspender im Feldherrenzelt getötet; er entging so der gegen ihn erhobenen Anklage wegen Veruntreuung und Plünderung.

Thrasyllos, athen. Feldherr, Anhänger der Demokratie, rief 411 als Strateg der athenischen Flotte bei Samos im Verein mit Thrasybulos Alkibiades zurück, kämpfte unter diesem tapfer in Kleinasien, war wieder Strateg 406 in der siegreichen Schlacht bei den Arginusen, ward aber nebst fünf andern Strategen wegen der Nichtbestattung der Gefallenen zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Three rivers (spr. thri riwwers), s. Trois Rivières.

Threnodie (griech.), bei den Griechen Bezeichnung der Trauer- oder Klagelieder auf den Tod geliebter Wesen, dergleichen bei der Ausstellung der Leichen gesungen wurden. Sie bildeten sich mit der Zeit zu einer eignen Gattung der Poesie aus, in der namentlich Pindar und Simonides Vorzügliches leisteten. Vgl. Elegie.

Threskiornis, s. Ibisse.

Thrinakía, mythische Insel bei Homer, auf welcher die Herden des Sonnengottes weideten (s. Helios), wohl identisch mit Trinakria (s. d.).

Thrips, Blasenfuß, s. Blasenfüßer.

Thrombosis (griech.), Verstopfung von Blutgefäßen durch ein Blutgerinnsel (Thrombus, Pfropfen), kommt im Herzen, in den Arterien und besonders häufig in den Venen, namentlich nahe ihren Klappen, vor. Dagegen ist sie in den Kapillaren und Lymphgefäßen seltener. Jeder Pfropfen ist von Anfang an ein wandständiger, welcher das Gefäßlumen nur teilweise verstopft; späterhin füllt der Pfropfen das Gefäßlumen vollständig aus. Von der Stelle der ursprünglichen Verstopfung kann sich der Thrombus sowohl nach rückwärts als auch zentralwärts, d. h. nach dem Herzen hin, in verschiedener Ausdehnung fortsetzen. Derselbe ist anfangs weich, feucht, blutig gefärbt; später wird er trockner, derber, gelblich und bröckelig. Weiterhin kann derselbe, und zwar zunächst in seinem Zentrum, zu einer breiigen, oft eiterartigen Masse erweichen (puriforme Schmelzung) und endlich seiner ganzen Ausdehnung nach in eine solche Masse zerfallen. Das Gerinnsel kann aber unter andern Umständen auch durch Einwanderung von Rundzellen aus der Nachbarschaft zu festem Bindegewebe organisiert werden. Hierdurch wird stets eine bleibende Verstopfung des Gefäßes bedingt, und dieser Vorgang ist erwünscht, wenn er in einem zerschnittenen oder anderweitig verletzten Gefäß vor sich geht, weil er das einzige sichere Mittel gegen die Blutung abgibt. Selten kommt es zur teilweisen Resorption, zur einfachen Schrumpfung und Vermeidung des Thrombus (Venensteine, Phlebolithen). An der Stelle, wo sich in einem Gefäß ein Thrombus gebildet hat, zeigt sich die Gefäßwand infolge der T. meist im Zustand einer chronischen, seltener einer akuten Entzündung; umgekehrt hat auch eine Entzündung der Gefäßwand nicht selten T. zur Folge. Die Ursachen der T. bestehen entweder in einer Stockung des Bluts (bei normaler Gefäßwand) oder in krankhafter Veränderung der Gefäßwand. Stockungen des Bluts treten aber unter den verschiedensten Verhältnissen ein, so z. B. bei jeder Verengerung des Gefäßlumens (Kompressionsthrombose), wie sie durch die Unterbindung des Gefäßes oder durch den Druck, welchen Geschwülste etc. auf das Gefäß ausüben, bedingt wird. Auch bei der Durchschneidung und Zerreißung der Gefäße kommt es fast immer zur T. (traumatische T.), und in diesem Fall ist die Pfropfenbildung ein erwünschter, zur Heilung notwendiger Vorgang, da auf ihm z. B. die Heilung von Wunden zum Teil beruht. Eine fernere Veranlassung zur T. ist die Erweiterung der Gefäße (Dilatationsthrombose), denn je weiter der Kanal ist, desto langsamer ist der Fluß in demselben bei gleicher Flüssigkeitsmenge. Hierher gehören die Fälle von Gerinnung in den Krampfaderknoten und Pulsadergeschwülsten, wodurch eine Heilung der letztern bewerkstelligt werden kann. Endlich bilden sich Gerinnungen in den Venen bei stark abgemagerten Kranken, wenn dieselben ruhig daliegen, und wenn gleichzeitig die Herzkraft abgenommen hat, das Blut also nicht schnell genug zirkuliert (marantische T.). Diese Art der T. ist eine häufige Nachkrankheit schwerer fieberhafter Krankheiten, namentlich des Typhus und Puerperalfiebers; sie ist auch eine sehr gewöhnliche Komplikation der Tuberkulose, Krebskrankheit, der chronischen Gelenk- und Knochenkrankheiten. In andern Fällen ist die T. abhängig von krankhaften Veränderungen der Gefäßwand. Dies geschieht beim Brand eines Gliedes, bei der Entzündung der äußern Venenhaut, bei Krebs, welcher die Venenwand durchbricht, und am häufigsten bei der chronischen Entzündung der innern Arterien und Herzhaut. In allen diesen Fällen werden die Gefäßwände rauh, und der Faserstoff des Bluts lagert sich auf den Rauhigkeiten als Thrombus ab. In ähnlicher Weise tritt Blutgerinnung ein, wenn man durch das lebende Gefäß eine Nadel sticht oder einen Faden durchzieht, wie dies z. B. die Chirurgen bei der sogen. Elektropunktur der Aneurysmen thun, um auf dem Weg einer künstlich herbeigeführten Gerinnung oder T. die Heilung derselben herbeizuführen. Die Verstopfung der Venen gibt sich zu erkennen durch Anstauung des venösen Bluts hinter dem Thrombus und vorzugsweise durch wassersüchtige Anschwellung des betreffenden Körperteils. Die Wassersucht fehlt jedoch, wenn sich ein genügender Kollateralkreislauf herstellt. Die Folgen der T. einer Arterie bestehen in mangelhafter oder unterbrochener Blutzufuhr, also in Blutarmut des betreffenden Teils, welche so hochgradig werden kann, daß derselbe brandig abstirbt, wie beim sogen. Altersbrand. Es kommt nicht selten vor, daß ein Stück von einem Thrombus, namentlich wenn derselbe in der Erweichung begriffen ist und der Kranke eine schnelle Bewegung ausführt, abbricht und mit dem Blutstrom nach andern Körperteilen hingeführt wird (s. Embolie). War der Thrombus aus der

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Thrombus - Thugut.

Gegend einer verjauchenden Wunde und selbst mit Jauche getränkt, so ruft der von ihm abgebrochene Embolus an der Stelle, wohin er mit dem Blutstrom gelangt, wiederum eine jauchige Entzündung hervor, es entstehen die sogen. metastatischen Abszesse. Vgl. Virchow, Gesammelte Abhandlungen (Berl. 1862); Baumgarten, Die sogen. Organisation des Thrombus (Leipz. 1877).

Thrombus (griech.), s. Thrombosis.

Thron (griech.), der für besonders feierliche Gelegenheiten bestimmte, ausgezeichnete Sitz für fürstliche Personen, ein Attribut der Herrschergewalt, bei den Griechen ursprünglich Ehrensitz, der Stuhl der sitzenden Götterbilder (s. Abbildung). Der T. ist in einem besondern Saal (Thronsaal) aufgestellt und ruht gewöhnlich auf einem Gestell, zu dem mehrere Stufen führen. Über dem Sessel ist in der Regel ein Thronhimmel angebracht, d. h. eine an der Wand befestigte, verzierte, zeltartige Decke mit prächtigen, meist aus Seide u. Goldstoff bestehenden Behängen. Der T. wird von den Fürsten nur bei feierlichen Gelegenheiten benutzt, wenn der Fürst als Träger der Herrscherwürde auftreten muß. Symbolisch bezeichnet T. die Herrscherwürde oder Herrschergewalt selbst, daher die Ausdrücke: den T. besteigen, jemand vom T. stoßen etc., Thronerbe, Thronlehen, Thronräuber (Usurpator).

Thronentsagung, s. Abdankung.

Thronfolge (Succession, Thronerbfolge), der Eintritt des Regierungsnachfolgers (Thronfolgers) in die Hoheitsrechte des bisherigen Monarchen. Je nachdem sich die T., wie dies in den Erbmonarchien der Fall ist, auf Verwandtschaft oder je nachdem sie sich auf einen andern Titel, z. B. auf eine Erbverbrüderung, gründet, wird zwischen ordentlicher und außerordentlicher T. unterschieden. Das Recht zur ordentlichen T. (Thronfolgerecht) wird durch leibliche und eheliche Abstammung vom ersten Erwerber der Krone aus ebenbürtiger Ehe begründet (s. Ebenbürtigkeit), und zwar sind nach den meisten fürstlichen Hausgesetzen männliches Geschlecht des Thronfolgers und Abstammung desselben vom ersten Erwerber durch Männer (agnatische oder männliche Deszendentenfolge) erforderlich. Außerdem muß der Thronfolger nach den meisten Verfassungen die zur Führung der Regierung nötige geistige und körperliche Tüchtigkeit besitzen. Weibliche (kognatische) T. ist nach manchen Hausgesetzen und Verfassungen überhaupt ausgeschlossen. Dies ist das sogen. Salische Gesetz (s. d.). In andern Staaten, z. B. in Holland, Bayern, Sachsen und Württemberg, ist die weibliche T. subsidiär, d. h. nach gänzlichem Aussterben des Mannesstamms, statuiert, und in England und Spanien ist sogar eine mit der agnatischen vermischte weibliche T. (Successio promiscua) insofern eingeführt, als nur die Söhne des Regenten und ihre männliche Deszendenz vor den Töchtern den Vorzug haben, während die letztern und ihre Nachkommen die Brüder des Regenten und dessen sonstige Agnaten in den Seitenlinien ausschließen. Die Thronfolgeordnung ist regelmäßig so bestimmt, daß stets der Erstgeborne und, wenn er vor der Thronerledigung verstarb, sein erstgeborner Deszendent und dessen Nachkommenschaft succedieren (Lineal-Primogeniturordnung). Fehlt es überhaupt an Deszendenten, so kommt der Erstgeborne der dem letzten Regenten nächsten Linie zur T. Vgl. Schulze, Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern (Leipz. 1851); Derselbe, Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser (Jena 1862-83, 3 Bde.); Heffter, Die Sonderrechte der souveränen und der mediatisierten, vormals reichsständigen Häuser (Berl. 1871).

Thronrede, die Rede, mit welcher der Monarch oder an dessen Stelle ein verantwortlicher Minister die Sitzungen der Volksvertreter eines konstitutionellen Staats eröffnet. Sie bezeichnet die von der Volksvertretung zu behandelnden Gegenstände und gibt zugleich in der Regel eine Darlegung der äußern und innern Verhältnisse des Staats. Die T. wird daher zugleich als Programm des Ministeriums, welches ihren Inhalt zu vertreten hat, angesehen und bei besonderer Veranlassung von der Kammer in einer Adresse beantwortet.

Thuanus, s. Thou 1).

Thudichum, Friedrich Wolfgang Karl von, angesehener Rechtslehrer, geb. 18. Nov. 1831 zu Büdingen, studierte 1849-52 in Gießen, war dann vier Jahre im Justiz- und Verwaltungsdienst thätig und habilitierte sich 1858 in Gießen als Privatdozent. 1862 folgte er einem Ruf als außerordentlicher Professor der Rechte nach Tübingen, wo er 1870 zum ordentlichen Professor ernannt ward. Er schrieb. "Die Gau- und Markverfassung in Deutschland" (Gieß. 1860); "Der altdeutsche Staat" (das. 1862); "Rechtsgeschichte der Wetterau" (Tübing. 1867-85, 2 Bde.); "Das Verfassungsrecht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins" (das. 1869f., 2 Abtlgn.); "Deutsches Kirchenrecht des 19. Jahrhunderts" (Leipz. 1877-78, 2 Bde.); "Bismarcks parlamentarische Kämpfe und Siege" (Stuttg. 1887).

Thueyts (spr. tüä), Stadt im franz. Departement Ardèche, Arrondissement Largentière, auf einem von riesigen Basaltsäulen gestützten Lavaplateau nahe am Zusammensluß der Ardèche und des Médéric, welcher unter dem Pont du Diable einen 100 m hohen Wasserfall bildet, hat Mineralquellen, Seidenindustrie, ein altes Schloß und (1881) 720 Einw.

Thug, s. Thag.

Thugut, Franz Maria, Freiherr von, österreich. Staatsmann, geb. 8. März 1739 zu Linz, fand 1752 Aufnahme in die orientalische Akademie zu Wien, ward 1754 als Sprachknabe (Dolmetschgehilfe) mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopel geschickt, hierauf 1757 zum Dolmetsch, 1769 zum Geschäftsträger bei der Pforte, 1770 zum Residenten und 1771 zum Wirklichen Internunzius daselbst ernannt. Auf dem Friedenskongreß von Fokschani 1772 bewies er als österreichischer Botschafter große diplomatische Gewandtheit und ward von Maria Theresia dafür in den Freiherrenstand erhoben. Durch eine Konvention mit der Pforte bewirkte er 1776 die Abtretung der Bukowina an Österreich. Nachdem er an den Höfen von Neapel, Versailles und Berlin diplomatisch thätig gewesen, ging er 1780 als Gesandter nach Warschau, 1787 nach Neapel und 1788 als Hofkommissar in die Moldau und Walachei, deren Verwaltung er bis 1790 leitete. Er beteiligte sich hierauf an den Friedensunterhandlungen mit der Pforte zu Sistova und leitete in Paris die Unterhandlungen zwischen der Königin Maria Antoinette und dem Grafen Mirabeau. Nach seiner Rückkehr im J. 1792 wurde er zum Armeeminister bei dem Heer des Prinzen von

[Zeus auf dem Thron os sitzend (Münze von Elis).]

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Thuin - Thulden.

Koburg, welches die verlornen Niederlande wiedererobern sollte, ernannt und 27. Mai 1793 Generaldirektor der Staatskanzlei unter Kaunitz und damit tatsächlich, nach Kaunitz' Tod 1794 auch formell, Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Ein Mann von Geist und Talent, aber ränkevoll und gewissenlos, schärfte er durch seine unruhige, neidische Eroberungspolitik den Gegensatz zwischen Österreich und Preußen, dessen Plänen er in Polen auf alle Weise hindernd in den Weg trat, ohne für Österreich Wesentliches zu erreichen, während er die energische Kriegführung der Koalition gegen Frankreich empfindlich schädigte. Nachdem er auf diese Weise Österreich in Deutschland isoliert hatte, verschuldete er den unglücklichen Ausgang des Kriegs und mußte auf Napoleons I. ausdrückliches Verlangen bei dem Abschluß des Friedens von Campo Formio 1797 aus dem Ministerium scheiden. Er ging darauf als bevollmächtigter Minister in die neuerworbenen italienischen und Küstenprovinzen, übernahm 1799 beim Wiederausbruch des Kriegs aufs neue das Portefeuille des Auswärtigen, trat aber schon im Dezember 1800 wieder zurück und lebte fortan zu Preßburg und Wien, wo er 29. Mai 1818 starb. Vgl. Vivenot, T., Clerfayt und Wurmser 1794-97 (Wien 1869); Derselbe, T. und sein System (das. 1870, 2 Tle.); Derselbe, Vertrauliche Briefe des Freiherrn v. T. (das. 1871, 2 Bde.).

Thuin (spr. tuäng), Hauptstadt eines Arrondissements in der belg. Provinz Hennegau, an der Sambre und der Eisenbahn Charleroi-Erquelines, mit schöner Kirche, höherer Knabenschule, Tuchfabrikation, Eisenwerken und (1888) 5361 Einw. T. gehörte früher zum Bistum Lüttich und war stark befestigt.

Thuja Tourn. (Lebensbaum), Gattung aus der Familie der Kupressineen, Bäume von in der Regel mehr oder weniger pyramidenförmigem Wuchs, mit blattartig flachen letzten Verästelungen, vierreihig dachziegeligen, schuppenförmigen, nur an der Spitze freien Blättern, monözischen Blüten auf verschiedenen Ästen und kleinen, im zweiten Jahre reifenden Zapfen. T. occidentalis L. (abendländischer Lebensbaum), ein 20-22 m hoher Baum von pyramidenförmigem Wuchs mit abstehenden bis horizontalen Ästen, in horizontaler Ebene dicht und fiederig zweizeilig verzweigten jüngern Zweigen, kurzen, fast stachlig gespitzten Blättern, von denen die auf den flachen Seiten der Zweige stehenden eine rundliche, stark riechende Drüse auf dem Rücken besitzen, und länglichen, überhängenden, braunen Beerenzapfen, wächst in Nordamerika und wird seit dem 16. Jahrh. bei uns kultiviert. In den Gärten benutzt man mehrere Varietäten als Ziersträucher, auch ist der Baum an vielen Orten beliebte Gräberpflanze. Das Holz dient zu Wasserbauten und feinen Tischlerarbeiten; die Blätter und das daraus bereitete ätherische Öl wurden früher medizinisch benutzt (daher der Name, den zuerst Dodoens brauchte). T. (Biota) orientalis L. (morgenländischer Lebensbaum), ein niedriger, bleibender, pyramidenförmiger Baum mit in senkrechter Ebene fiederig verzweigten Ästchen, einer Mittelfurche auf dem Rücken der Blätter und fleischigen, hellgrünen, bläulich bereiften, später fast der ganzen Länge nach sich öffnenden Beerenzapfen, wächst in China und Japan, auch in Mittelasien und Gilan und wird wie die vorige in mehreren Abarten bei uns kultiviert, ist aber viel empfindlicher. - T. articulata, s. Callitris.

Thukydides, 1) athen. Staatsmann, Sohn des Melesias, übernahm nach Kimons, seines Verwandten, Tod (449 v. Chr.) die Leitung der konservativen Partei in Athen, wußte durch seinen uneigennützigen Charakter und seine Rednergabe viele Anhänger zu gewinnen, ward, als er Perikles zu stürzen versuchte, 444 durch den Ostrakismos verbannt, setzte aber nach seiner Rückkehr die Opposition gegen Perikles fort.

2) Ausgezeichneter griech. Geschichtschreiber, geb. 471 v. Chr. (so eine Angabe aus dem Altertum, wahrscheinlich jedoch einige Jahre später) im attischen Gau Halimus, stammte durch seinen Vater Oloros von einem thrakischen Fürstengeschlecht ab, während er durch seine Mutter mit Miltiades verwandt war, hatte den Philosophen Anaxagoras und angeblich auch den Redner Antiphon zu Lehrern. Er führte 424 den Oberbefehl über eine Flottenabteilung in den thrakischen Gewässern, ward aber, weil er die Eroberung der Stadt Amphipolis durch die Spartaner nicht verhindern konnte, 423 verbannt, kehrte 403 infolge der veränderten Verhältnisse nach Athen zurück, aber nur auf kurze Zeit, und starb wenige Jahre nachher; über Ort, Zeit und Art seines Todes besitzen wir nur unzuverlässige, sich untereinander widersprechende Nachrichten. Er war der erste, der eine strenge historische Kritik anwandte; sein Werk stellt den Peloponnesischen Krieg dar, jedoch nur bis 411, wo es unvollendet abbricht, und zeichnet sich ebensosehr durch Wahrheitsliebe und politische Einsicht wie durch die kräftige, gedrängte Sprache aus; die gedankenreichen Betrachtungen über die Gründe der Vorgänge sind meist in die Form von Reden gekleidet, die den handelnden Personen in den Mund gelegt werden und die einen besonders wertvollen Bestandteil des Werkes bilden. Unter den Ausgaben sind außer der ersten (Vened. 1502) die von Poppo (Leipz. 1821-40, 11 Bde.; Handausgabe, 2. Aufl., das. 1875, 2 Bde.), Bekker (Berl. 1821, 3 Bde.; in 1 Bd. 1868), Dindorf (Leipz. 1824), Göller (2. Aufl., das. 1836, 2 Bde.), Arnold (neue Ausg., Oxf. 1854, 3 Bde.), Bloomfield (Lond. 1842, 2 Bde.), Krüger (3. Aufl., Berl. 1860, 2 Bde.), Schöne (das. 1874), Classen (2. Aufl., das. 1870-78, 8 Bde.) und Böhme (2. Aufl., Leipz. 1862 ff.) hervorzuheben. Neuere Übersetzungen lieferten Osiander (Stuttg. 1826 bis 1829 u. öfter, 8 Bdchn.), Campe (das. 1856-1857, 2 Bde.) und Wahrmund (2. Aufl., das. 1867, 2 Bde.). Eine Biographie des T. in griechischer Sprache besitzen wir von Marcellinus (hrsg. von Westermann in den "Biographi graeci minores". Braunschw. 1845). Antike Büsten des T. befinden sich in Neapel (Doppelherme, mit Herodot) und zu Holkham Hall in England. Vgl. Krüger, Untersuchungen über das Leben des T. (Berl. 1832); Roscher, Leben, Werk und Zeitalter des T. (Götting. 1842); Welzhofer, T. und sein Geschichtswerk (Münch. 1877); Michaelis, Die Bildnisse des T. (Straßb. 1877); Girard, Essai sur T. (2. Aufl., Par. 1884).

Thulden, Theodor van, niederländ. Maler und Radierer, geb. 1606 zu Herzogenbusch, bildete sich in der Werkstatt von Rubens und wurde 1627 Freimeister der Lukasgilde in Antwerpen. Er war 1632 und 1647 in Paris thätig, wo er eine Anzahl von Kirchenbildern, unter andern die heilige Dreifaltigkeit (jetzt im Museum zu Grenoble), die Himmelfahrt Mariä (jetzt im Museum zu Angers) und die Äusgießung des Heiligen Geistes (jetzt im Museum zu Le Mans), malte, und 1648 wurde er nach dem Haag berufen, wo er an der Ausmalung des Oraniensaals im Huis ten Bosch teilnahm (Hauptbild: die waffen-

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Thule - Thun.

schmiedenden Kyklopen). Von seinen übrigen Werken sind zu nennen: Martyrium des heil. Hadrian (in der Michaeliskirche zu Gent), der auferstandene Christus vor Maria (im Louvre zu Paris), die Entdeckung der Purpurschnecke (im Museum zu Madrid) und die Rückkehr des Friedens (in der kaiserlichen Galerie zu Wien). Er hat auch zahlreiche Blätter radiert, unter andern die Amazonenschlacht nach Rubens, 49 Blätter nach den Darstellungen auf dem Triumphbogen beim Einzug des Kardinal-Infanten Ferdinand in Antwerpen (1635) und 58 Blätter Odysseebilder nach Primaticcio und N. dell' Abbate. Er starb um 1676 in Herzogenbusch.

Thule, eine von Pytheas (s. d.) um 330 v. Chr. entdeckte und fälschlich von ihm unter den Polarkreis verlegte Insel des Atlantischen Meers, die für den nördlichsten Punkt der bekannten Erde galt. Ptolemäos setzt dieselbe so an, daß sie den heutigen Shetlandinseln entspricht (so H. Kiepert und Müllenhoff).

Thum, Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft Zwickau, Amtshauptmannschaft Annaberg, an der Linie Willischthal-Ehrenfriedersdorf der Sächsischen Staatsbahn, 513 m ü. M., hat eine evang. Kirche, eine Oberförsterei, Strumpfwirkerei, Spinnerei, Färberei, Bandfabrikation und (1885) 4213 Einw.

Thumann, Paul, Maler, geb. 5. Okt. 1834 zu Tschacksdorf (Niederlausitz), war von 1855 bis 1856 Schüler der Akademie in Berlin und arbeitete dann bis 1860 im Atelier von Julius Hübner in Dresden. Nach zweijährigem Aufenthalt in Leipzig ging er nach Weimar zu Ferdinand Pauwels und wurde 1866 Professor an der Kunstschule daselbst. Nachdem er seit 1872 als Lehrer in Dresden thätig gewesen, wurde er 1875 als Professor an die Kunstakademiein Berlin berufen, welche Stellung er 1887 niederlegte. Er bereiste 1862 Ungarn und Siebenbürgen, 1865 Italien, später Frankreich, Belgien, England. Seine Hauptthätigkeit fand T. in der Illustration (z. B. Auerbachs Kalender, Goethes "Wahrheit und Dichtung", Tennysons "Enoch Arden". Chamissos "Frauenliebe und Leben", desselben "Lebenslieder und -Bilder", Hamerlings "Amor und Psyche", Heines "Buch der Lieder"). Die Eleganz der Formengebung, der sinnvolle Ernst und die Anmut der Figuren gewannen diesen Illustrationen großen Beifall. Doch verlor sich T. schließlich in ein süßliches und oberflächliches Formenspiel, welches den Eindruck seiner ersten Schöpfungen abschwächte. Von seinen Gemälden sind neben der Erstlingsarbeit: St. Hedwigis, Altarbild für Liegnitz (1857), fünf Bilder aus dem Leben Luthers für die Wartburg, Luthers Trauung (1871), die Taufe Wittekinds und die Rückkehr Hermanns des Cheruskers aus der Schlacht am Teutoburger Wald für das Gymnasium zu Minden und die drei Parzen zu erwähnen. Er hat auch Studienköpfe gemalt, deren Vorzug in der süßlichen Eleganz der Auffassung beruht.

Thumerstein (Thumit), s. Axinit.

Thümmel, Moritz August von, Schriftsteller, geb. 27. Mai 1738 zu Schönefeld bei Leipzig, studierte in Leipzig, ward 1761 Kammerjunker bei dem Erbprinzen von Sachsen-Koburg und 1768 Wirklicher Geheimer Rat und koburgischer Minister, zog sich 1782 von den öffentlichen Geschäften zurück und starb 26. Okt. 1817 in Koburg. Unter seinen Schriften (neue Ausg. 1856, 8 Bde.) erlangten "Wilhelmine, oder der vermählte Pedant", ein prosaisch-komisches Gedicht (Leipz. 1764; 6. Aufl. 1812; neue Ausg. von Ad. Stern, das. 1879), und die "Reise in die mittägigen Provinzen von Frankreich" (das. 1791-1805, 10 Bde.) einen außerordentlichen Ruf. T. erwies sich in diesen Produktionen als echten Geistesverwandten und Schüler Wielands. Eine gewisse Anmut, feine Beobachtung und Schilderungsgabe, daneben freilich auch Frivolität und lüsterne Leichtfertigkeit sicherten ihnen die nachhaltigste Wirkung. Vgl. v. Gruner, Leben M. A. v. Thümmels (Bd. 8 der "Werke", Leipz. 1819). -

Sein Bruder Hans Wilhelm, Freiherr von, geb. 17. Febr. 1744 zu Schönefeld, gest. 1. März 1834 als herzoglich sachsen-gothaischer Wirklicher Geheimer Rat, Kammerpräsident u. Obersteuerdirektor in Altenburg, machte sich besonders um das Herzogtum Sachsen-Altenburg durch Erleichterung der bäuerlichen Lasten, Verbesserung des Armenwesens, Errichtung von Armen- und Krankenhäusern etc. verdient. Zugleich war er ein Freund und Förderer der Wissenschaften und Künste (namentlich der Baukunst). Seiner Anordnung gemäß wurde er auf seinem Landgut Nöbdenitz unfern Altenburg unter dem Stamm einer alten Eiche, ohne Sarg, auf einer Moosbank sitzend, eingesenkt.

Thummim, s. Urim und Thummim.

Thun, Landstädtchen im schweizer. Kanton Bern, an der Eisenbahn Bern-Scherzligen, mit (1888) 5507 Einw., ist Sitz der eidgenössischen Militärschule und der größte Waffenplatz der Schweiz (mit Reitschule, Zeughäusern, Munitionsfabrik etc.), außerdem für die Mehrzahl der Touristen die Pforte zum Berner Oberland. An die Dampfschiffkurse des Thuner Sees (s. d.), an dessen Ausfluß T. liegt, schließt sich die Bödelibahn Därligen-Interlaken. Vgl. Roth, T. und seine Umgebungen (Bern 1873); "T. und Thuner See" (Zürich 1878).

Thun (T. und Hohenstein), 1) Friedrich, Graf von, österreich. Staatsmann, geb. 8. Mai 1810 aus einem seit 1629 reichsgräflichen, in Tirol und Böhmen begüterten Geschlecht, betrat die diplomatische Laufbahn, ward bei dem am 9. Mai 1850 eröffneten Kongreß zu Frankfurt a. M. österreichischer Gesandter und nach Reaktivierung des Bundestags Präsident desselben, welche Stelle er im November 1852 mit der eines außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Ministers am preußischen Hofe vertauschte. Von 1854 bis 1863 war er österreichischer Gesandter in Petersburg und starb als k. k. Kämmerer und Mitglied des Herrenhauses 24. Sept. 1881 in Tetschen.

2) Leo, Graf von, österreich. Staatsmann, Bruder des vorigen, geb. 7. April 1811, war vor der Märzbewegung von 1848 als Sekretär in der Hofkanzlei angestellt und machte sich damals auch durch einige Schriften, wie: "über den gegenwärtigen Stand der böhmischen Litteratur" (Prag 1842), "Die Stellung der Slowaken in Ungarn beleuchtet" (das. 1843), bekannt. 1848 war er eine Zeitlang Landeschef von Böhmen. Vom 28. Juli 1849 bis Oktober 1860 mit dem Portefeuille des Kultus und öffentlichen Unterrichts betraut, machte er sich in dieser Stellung namentlich um Durchführung der Unterrichtsreform verdient, errichtete die kaiserliche Akademie der Wissenschaften, deren Ehrenmitglied er wurde, wirkte aber anderseits wesentlich zum Abschluß des Konkordats mit. Am 18. April 1861 wurde er lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses, in welchem er Huuptvertreter der klerikalen und feudalen Interessen war. 1861 als Vertreter des fideikommissarischen Besitzes in den Landtag Böhmens gesendet, schloß er sich der mit den tschechischen Föderalisten verbündeten Feudalpartei an. Bei den staatsrechtlichen Verhandlungen des böhmischen Landtags 1865 bis 1866 war T. Berichterstatter der Majorität. Der

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Thunar - Thur.

Ausgleich mit Ungarn fand in T. einen schroffen Gegner, wie er auch gegen das Ehe- und Schulgesetz von 1868 war. Er starb 17. Dez. 1888 in Wien.

3) Guido, Graf von, österreich. Staatsmann, geb. 19. Sept. 1823, trat in den diplomatischen Dienst, ward 1859 Geschäftsträger im Haag, 1863 in Petersburg, 1865-66 Gesandter am kaiserlichen Hof in Mexiko, 1866-67 bei den Hansestädten, 1867-1870 Vertreter der verfassungstreuen böhmischen Großgrundbesitzer im böhmischen Landtag und im Abgeordnetenhaus, ist seit Dezember 1872 Mitglied des Herrenhauses.

Thunar, Gott des Donners, s. Thor.

Thunb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für K. P. Thunberg (s. d.).

Thunberg, Karl Peter, Botaniker und Zoolog, einer der berühmtesten Schüler Linnés, geb. 11. Nov. 1743 zu Jönköping, studierte in Wexiö, dann seit 1761 Medizin und Naturgeschichte zu Upsala, bereiste Europa, lebte von 1772 bis 1775 als Arzt der Holländisch-Ostindischen Kompanie am Kap, ging 1775 nach Batavia und Japan, kehrte 1778 nach Schweden zurück, ward 1781 Professor der Botanik zu Upsala und starb 8. Aug. 1828 auf Tunaberg bei Upsala. Er schrieb: "Flora japonica" (Leipz. 1784); "Icones plantarum japonicarum" (Ups. 1794-1805); "Prodromus plantarum capensium" (das. 1794-1800); "Flora capensis" (das. 1807-13); "Resa uti Europa, Africa, Asia" (das. 1788-93, 4 Bde.; deutsch, Berl. 1792-94). Von seinen botanischen und zoologischen Abhandlungen in den akademischen Dissertationen der Universität Upsala wurden die bis 1801 reichenden von Persoon herausgegeben: "Dissertationes academicae Upsaliae hahitae sub praesidio C. P. Thunbergi" (Götting. 1799-1801, 3 Bde.).

Thunder Bay, Bai am westlichen Ende des Obern Sees in Kanada (Britisch-Amerika), an welchem die Hafenorte Port Arthur und Fort William liegen.

Thünen, Johann Heinrich von, hervorragender Nationalökonom, geb. 24. Juli 1783 auf dem väterlichen Gut Kanarienhausen bei Jever, studierte Landwirtschaft und kaufte 1810 das durch ihn berühmt gewordene Gut Tellow in Mecklenburg, welches er bis zu seinem 22. Sept. 1850 erfolgten Tod bewirtschaftete. Er führte mit großer Genauigkeit Buch und Rechnung über seine Wirtschaft und gewann auf diesem Weg fruchtbare Schlußfolgerungen über den Einfluß, welchen die Entfernung vom Absatzort auf Intensität der Bewirtschaftung, Wahl der Fruchtart, überhaupt auf die Art ausüben muß, wie ein Landgut rationell zu behandeln ist. In lichtvoller Weise hat er das unter dem Namen Thünensches Gesetz bekannt gewordene Ergebnis derselben in seinem in 3 Teilen (Hamb. 1826, Rost. 1850 u. 1863) erschienenen Werk "Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie" (3. Aufl., Berl. 1875) dargelegt. Im 2. Bande dieses Werkes, welcher kurz vor seinem Tod erschien, untersucht er die naturgemäße Höhe des Arbeitslohns und kommt zu dem Resultat: "Der naturgemäße Arbeitslohn = ^ap; diese Formel schmückt auch seinen Leichenstein. 1847 führte T. auf seinem Gute das System der Gewinnbeteiligung der Arbeiter ein, mit welchem gute Erfolge erzielt wurden. Vgl. (Schumacher) "J. H. v. T., ein Forscherleben" (2. Aufl., Rost. 1883); Hermann, Das Thünensche Gesetz (Halle 1876).

Thuner See, See im schweizer. Kanton Bern, 560 m ü. M., 216 m tief, 48 qkm groß, nimmt viele Gebirgswasser auf, darunter bei Thun die Kander, und wird von der Aare durchflossen, die ihn mit dem Brienzer See verbindet. Im Gegensatz zu diesem ist er mehr von voralpinem Wesen, mehr lieblich als ernst und großartig, von sanftern Bergformen umrahmt, mehr mit Dörfern und Landhäusern bekränzt und in der Saison mehr vom Fremdenzug belebt, wie die größere Zahl seiner Dampfer verrät. Das Bahnnetz der flachern Schweiz erreicht ihn in Thun (-Scherzligen), und die Bödelibahn verknüpft ihn mit dem Brienzer See: von Därligen über Interlaken nach Bönigen. Der See ist reich an Fischen, vorzüglich Forellen, Aalen, Karpfen und Hechten.

Thunfisch (Thynnus C. V.), Gattung aus der Ordnung der Stachelflosser und der Familie der Makrelen (Scomberoidei), große Fische mit gestrecktem, spindelförmigem, gegen den Schwanz hin stark verdünntem Körper, nahe aneinander stehenden Rückenfloffen, 6-9 falschen Flossen, hinten Rücken- und Afterflosse, einem aus großen Schuppen gebildeten Brustpanzer und einem Kiel neben beiden Kanten des Schwanzes. Der gemeine T. (T. vulgaris C. V., s. Tafel "Fische II"), 2-3 m, angeblich bis 4 m lang und 3-12 Ztr. schwer, ist oberseits schwarzbläulich, am Brustpanzer weißblau, an den Seiten und am Bauch grau mit weißen Flecken und Bändern, an der ersten Rücken- und der Afterflosse fleischfarben, die falschen Flossen schwefelgelb, schwarz gesäumt, bewohnt das Mittelmeer, auch den Atlantischen Ozean und das Schwarze Meer, geht nördlich bis England, selten bis Rügen, lebt in der Tiefe, nähert sich, um zu laichen, den Küsten und hält dabei, bisweilen in Herden von Tausenden, bestimmte Straßen ein. Er erscheint im April, laicht im Juni im Tang, und die Jungen erreichen noch im Oktober ein Gewicht von 1 kg. Der T. nährt sich von Fischen und Weichtieren, hauptsächlich von Sprotten und Sardellen, und wird von Haifischen und Delphinen verfolgt, lebt dagegen mit dem Schwertfisch in gutem Einvernehmen und zieht öfters in dessen Gesellschaft. Die Thunfischerei wurde im Altertum hauptsächlich an der Straße von Gibraltar und im Hellespont, gegenwärtig besonders großartig an den italienischen Küsten betrieben. Man sperrt den Tieren die gewohnten Straßen mit sehr großen Netzen ab und erbeutet Tausende mit einemmal, indem man sie aus einer Kammer des Netzes in die andre treibt, bis sie sämtlich in der Totenkammer versammelt sind. Diese wird dann heraufgezogen und der Fisch mit Keulen erschlagen. Das Fleisch ist sehr verschiedenartig, wird daher gut sortiert und eingesalzen, bildet aber wesentlich nur eine Speise der ärmern Klassen. Ein vielfach beliebtes hors d'oeuvre ist T. à l'huile, gekochter T. in Öl eingelegt, den man mit pikanter kalter Sauce genießt. Aus der Leber gewinnt man Thran; aus Haut und Knochen kocht man Öl. Der Bonite (T. Pelamis L.), 80 cm lang, ein sehr schöner Fisch, auf dem Rücken und an den Seiten stahlblau, in Grün und Rot schillernd, am Bauch silbern mit braunen Streifen, lebt besonders im Atlantischen Ozean, folgt in Gesellschaft der Thune oft lange den Schiffen, bildet dabei aber regelmäßig geordnete Haufen. Er nährt sich hauptsächlich von fliegenden Fischen, außerdem von Tintenfischen, Schaltieren und selbst Pflanzenstoffen; sein Fleisch ist nicht genießbar, soll sogar schädlich sein.

Thuok (Theok), Ellenmaß in Anam, = 10 Tahk à 10 Fahn = nahezu 64 cm; das T. der Feldmesser und Architekten ist jedoch nur 0,485 m.

Thur, 1) Fluß im Oberelsaß, entspringt am Rheinkopf in den Vogesen, durchströmt das anmutige, industriereiche Thal von St.-Amarin in südöstlicher

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Thür - Thurgau.

Richtung, tritt bei Thann aus dem Gebirge, fließt in der Rheinebene nach NO. und mündet mit einem Arm bei Ensisheim, mit dem andern bei Kolmar links in die Ill; die Länge ihres Laufs beträgt 86 km. -

2) Linksseitiger Nebenfluß des Rheins in der Schweiz, 122 km lang, entspringt in zwei Quellflüssen im obersten Teil des Toggenburg, bei Wildhaus (1104 m) und am Säntis, durchfließt in nordwestlichem Lauf das Toggenburg, wendet sich dann bei Wyl nach NO., bei Bischofzell, unter Aufnahme der Sittern (457 m), wieder nach W., durchfließt den Thurgau und das Züricher Weinland und mündet in korrigiertem Bett unterhalb Andelfingen (348 m). Ihr größter linksseitiger Zufluß ist die Murg.

Thür, im Hochbau verschließbare Durchgangsöffnung in einer Umfangs- oder Zwischenwand, besteht aus einer meist steinernen oder hölzernen, selten eisernen Einfassung, aus ein- oder mehrteiligen, meist hölzernen, seltener aus Metall bestehenden Flügeln und aus dem Beschlag. Die Thüröffnung erhält je nach der Bestimmung der T. eine Breite von 0,5-1,5 m und eine Höhe von 1,8-2,5 m, während sie je nach Baumaterial und Stil des Gebäudes oben wagerecht oder durch Bogen (s. d.) begrenzt ist. Die Einfassung einer rechteckigen T. besteht aus dem Sturz, den beiden Gewänden (Säulen, Pfosten) nebst der Schwelle (Sohle) und ist mit Falz versehen, in welchen sich die Flügel legen, welche bei untergeordneten Gebäuden oder Gebäudeteilen aus Brettern mit zwei Querleisten und einer Strebe, für Gebäude, welche höhern Anforderungen genügen müssen, aus Rahmstücken und Füllungen zusammengesetzt sind. Im romanischen Stil bildet der meist gewölbte Bogen einen Halbkreis, im gotischen Stil einen Spitzbogen. Die Thürflügel lehnen sich entweder direkt an diese Bogen oder an den wagerechten Abschluß eines zwischen dieselben eingeschalteten, mehr oder minder reich ornamentierten Bogenfeldes an. Der Beschlag besteht aus den Thürbändern und dem Thürschloß von verschiedener Konstruktion, wozu in manchen Fällen noch besondere Verschlußvorrichtungen, wie Riegel und Thürzuwerfer, hinzutreten. Je nach Lage und Bewegungsweise hat man noch Schiebethüren, Fallthüren, Klappthüren u. a. Die T. wird je nach dem Charakter des Gebäudes mehr oder minder reich ausgebildet und erhält besonders im Kirchenbau oft reichgegliederte und ornamentierte Einfassungen, künstlerisch ausgestattete Thürflügel und kunstvoll geschmiedete Beschläge (s. Tafel "Schmiedekunst") . In diesem Fall, besonders bei den Haupteingängen der Kirchen, wird die T. mit Portal bezeichnet.

Thuret (spr. türä), Gustav, Botaniker, geb. 23. Mai 1817 zu Paris, studierte Rechtswissenschaft, dann Botanik, ging 1840 als Attaché der französischen Gesandtschaft nach Konstantinopel, kehrte aber schon im nächsten Iahr nach Frankreich zurück, um sich ganz den Untersuchungen der Meeresalgen widmen zu können. Hier lebte er bis 1851 auf seinem Schloß Reutilly bei Lagny, siedelte dann mit Bornet nach Cherbourg und später nach Antibes über, wo er einen botanischen Garten anlegte. Er starb 10. Mai 1875. T. entdeckte die Geschlechtlichkeit und die Befruchtung der Fukaceen (1853) und Florideen (1867). Nach seinem Tod erschienen: "Études phycologiques. Analyses d'algues marines" (Par. 1878, mit 50 Tafeln).

Thurgau, Kanton der nördlichen Schweiz, durch den Bodensee und Rhein von Baden, Württemberg und Bayern getrennt, umfaßt 988 qkm (17,9 QM.). In dem zum Thalsystem der Murg gehörenden Hinter-T. steigt das Land fast zu voralpinen Höhen an, so am Hörnli (1135 m), jedoch ohne dessen Gipfel zu erreichen. Auch der größere Teil des an den Kanton St. Gallen grenzenden Gebiets steigt erheblich an, während die tiefsten Punkte an der Thur und am Rhein liegen. Zwischen Thurthal und Bodensee zieht ein breites Plateau (Seerücken) hin, zudem als einer der markantesten Punkte der Ottenberg (671 m) gehört. Der Kanton zählt (1888) 105,091 Einw. deutscher Abstammung. Unter der Bevölkerung sind beide Konfessionen sehr gemischt, doch ist der Protestantismus vorherrschend. Die Katholiken (im ganzen 30,337) gehören der Diözese Basel an; Klöster bestehen keine mehr. Der Kanton baut zwar nicht ausreichend Getreide, nimmt aber in andern Feldgewächsen und besonders in Obst und Wein (auf 1812 Hektar) eine hervorragende Stelle ein. Auch die Rinder- u. Schweinezucht ist bedeutend (1886 gab es 47,317 Rinder, 10,418 Schweine). Viele Gesellschaftskäsereien sind vorhanden. In Ermatingen und Gottlieben werden jährlich ca. 150,000 Gangfische gefangen. Hauptindustrie ist gegenwärtig die Baumwollspinnerei an der Thur und Murg; Islikon im Thurthal besitzt eine ausgedehnte Färberei und Druckerei, Amriswyl eine Strumpffabrik. Außerdem sind Gerbereien, Papiermühlen, Spielkartenfabriken, Spiritus- und Leimfabriken, Ziegeleien etc. im Betrieb. Großhandelsplätze hat der T. nicht, aber einen bedeutenden Obstmarkt in Frauenfeld, große Viehmärkte in Dießenhofen, Bischofzell, Amriswyl und Weinfelden. Romanshorn ist als Bodenseehafen wichtig. Die Nordostbahn überschreitet in Amriswyl den Seerücken, geht ins Thurthal hinüber nach Weinfelden-Frauenfeld-Winterthur und kreuzt die Seethallinien in Romanshorn. Den Hinter-T. kreuzt die Linie Winterthur-St. Gallen. In Frauenfeld und Weinfelden arbeiten die zwei thurgauischen Zettelbanken: die Thurgauische Hypothekenbank (1851 gegründet) und die Thurgauische Kantonalbank (seit 1870). Das Schulwesen gehört zu den regenerierten; in Kreuzlingen besteht das kantonale Lehrerseminar, in Frauenfeld eine Kantonsschule. Der T. hat auch eine Rettungs- und eine Zwangsarbeits-, aber keine Blinden- und Taubstummenanstalt. Die öffentlichen Bibliotheken enthalten 60,000 Bände, wovon über 30,000 auf die Kantonsbibliothek in Frauenfeld entfallen. Nach der Verfassung vom 28. Febr. i869 gehört der T. zu den rein demokratischen Kantonen. Sie gibt dem Volk das obligatorische Referendum, dem auch die Beschlüsse der Legislative unterstellt werden können. Die oberste Landesexekutive wird direkt vom Volk gewählt und kann, wie die Legislative, abberufen werden, nämlich wenn 5000 Votanten sich für eine Abstimmung ausgesprochen haben. Die Legislative übt der Große Rat, der auf je drei Jahre durch das Volk gewählt wird. Die oberste vollziehende Behörde ist der Regierungsrat, mit fünf Mitgliedern und ebenfalls dreijähriger Amtsdauer. Die oberste Gerichtsinstanz heißt Obergericht, dessen sieben Mitglieder ebenfalls auf drei Jahre durch den Großen Rat gewählt werden. Der Kanton ist in acht Bezirke eingeteilt; jeder derselben hat seinen Bezirksstatthalter, dem ein Bezirksrat zur Seite steht, und ein Bezirksgericht, jede Gemeinde ihren Gemeinderat, dessen Vorsitz der Ammann führt; für größere Kreise besteht ein Friedensrichter. Die Staatsrechnung für 1886 weist an Einnahmen 1,224,476 Frank auf, darunter Ertrag des Staatsguts 449,516, Abgaben 625,207 Fr.; die Ausgaben belaufen sich auf 1,207,793 Fr., wovon 281,784 Fr. auf das Erziehungswesen fallen. Zu Ende des Jahrs 1886 berechnete sich das unmittelbare Staatsgut auf 5,624,823 Fr.

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Thurii - Thüringen.

die Summe des Spezialfonds auf 6,444,022, also das Gesamtvermögen auf 12,068,845 Fr. Hauptstadt ist Frauenfeld.

Geschichte. T. war der Name einer alten alemannischen Grafschaft, welche ursprünglich außer dem Kanton T. auch die heutigen Kantone Zürich, Uri, Schwyz, Zug, Appenzell sowie Stücke von St. Gallen, Aargau und Luzern umfaßte, aber durch die Lostrennung des westlichen Teils als eines besondern Zürichgaues, durch die Immunitätsprivilegien des Klosters St. Gallen etc. zusammenschmolz. Nach dem Aussterben der Grafen von Kyburg, welche die Landgrafschaft T. besessen, kam dieselbe an Rudolf von Habsburg (1264). 1415 wurde infolge der Ächtung Herzog Friedrichs die hohe Gerichtsbarkeit über den T. an Konstanz verliehen, 1460 entrissen die Eidgenossen das Land Österreich gänzlich und machten daraus eine gemeine Vogtei der sieben alten Orte (ohne Bern). Unter dem Schutze Zürichs wandte sich der größte Teil des Landes der Reformation zu. Der Umsturz der alten Eidgenossenschaft (1798) befreite den T. aus seiner Unterthanenschaft, und die Mediationsakte erhob ihn 1803 zum selbständigen Kanton mit einer Repräsentativverfassung, die 1814 durch Zensus, lange Amtsdauern, künstliche Wahlart etc. ein aristokratisches Gepräge erhielt. Nach der Julirevolution machte T. unter der Führung des Pfarrers Bornhauser den Anfang mit der Demokratisierung der schweizerischen Kantone durch seine neue, 26. April 1831 angenommene Verfassung. Seitdem gehörte der T. beständig zu den liberalen Kantonen, nahm teil an den Badener Konferenzbeschlüssen, hob 1848 seine Klöster auf bis auf eins und erklärte sich für Annahme der neuen Bundesverfassung wie auch für die Revisionen derselben 1872 und 1874. Nachdem schon 1837 und 1849 das Grundgesetz revidiert worden war, begann 1868 eine neue Revisionsbewegung, welche Einführung des Referendums und der Initiative, der direkten Volkswahl der Regierung etc. anstrebte und in der Verfassung vom 28. Febr. 1869 ihren Abschluß fand. Vgl. Puppikofer, Geschichte des Thurgaus (2. Aufl., Frauenfeld 1884); Häberlin, Geschichte des Kantons T., 1798-1869 (das. 1872-76, 2 Bde.); "Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte" (das. 1861 ff.).

Thurii, Stadt, s. Sybaris.

Thüringen, das Land zwischen Werra und Saale, dem Südfuß des Harzes und dem des Thüringer Waldes, umfaßt den Hauptteil des Großherzogtums Sachsen-Weimar, das Herzogtum Sachsen-Gotha, die Ober-Herrschaft der Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen, einen Teil der Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Altenburg, den preußischen Regierungsbezirk Erfurt fast ganz und vom Regierungsbezirk Merseburg den westlichen Teil. Unter den Namen thüringische Staaten versteht man alle Länder zwischen den preußischen Provinzen Sachsen und Hessen-Nassau, Bayern und dem Königreich Sachsen, nämlich: das Großherzogtum Sachsen-Weimar, die Herzogtümer Sachsen-Meiningen, Sachsen-Koburg-Gotha und Sachsen-Altenburg sowie die Fürstentümer Schwarzburg und Reuß, mit einem Gesamtflächeninhalt von 12,288 qkm (223,17 QM.) und (1885) 1,213,063 Einw. (darunter ca. 1,147,800 Evangelische, 17,000 Katholiken und 3800 Juden). S. Karte "Sächsische Herzogtümer".

[Geschichte.] Zu Anfang des 5. Jahrh. n. Chr. tritt in dem heutigen T. ein deutscher Volksstamm unter dem Namen Thüringer (Düringe) in der Geschichte auf. Sie sind Abkömmlinge der Hermunduren, mit deren Namen der ihrige nahe verwandt ist. Zu Grenznachbarn und steten Gegnern hatten sie im Norden die Sachsen, im Westen die Franken und im Süden die Alemannen. Sie werden dann unter den deutschen Völkerschaften genannt, welche den Hunnenkönig Attila 451 auf seinem Zug nach Gallien begleiteten. Zu Anfang des 6. Jahrh. hat sich ein großes thüringisches Reich gebildet, dessen Grenzen im Norden bis zur Niederelbe, im Süden bis zur Donau reichten. Hermanfried, durch seine Gattin Amalaberga der Eidam des großen Theoderich, erwarb damals die Alleinherrschaft, nachdem er seine Brüder Berthar und Baderich aus dem Wege geräumt hatte. Als König Theoderich I. von Austrasien, der ihm dabei geholfen, den versprochenen Lohn nicht erhielt, begann er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Chlotar I. 530 gegen Hermanfried den Krieg. Bei Burgscheidungen wurden die Thüringer geschlagen, und ihr König, der sich, um Frieden zu schließen, nach Austrasien begab, fand auf der Mauer von Zülpich durch Hinterlist seinen Tod. Das nordöstliche T. zwischen der Unstrut und Elbe ward hierauf den Sachsen überlassen, der südwestliche Teil fiel an Austrasien. Fortan bezieht sich der Name T. vornehmlich auf das Gebiet zwischen Harz und Thüringer Wald, Werra und Saale. Der südliche Teil um den Main bis zur Donau wurde allmählich fränkisches Gebiet und verlor den alten Namen. Dagobert I. von Austrasien gab 630 den Thüringern einen Herzog in der Person Radolfs. Derselbe focht tapfer gegen die Slawen, lehnte sich dann gegen den Frankenkönig Siegbert III. auf und brachte 640 die Unabhängigkeit Thüringens zu stande. Schon im 7. Jahrh. wurde die Bekehrung der Thüringer durch britische Missionäre versucht. Die dauernde Bekehrung gelang aber erst Bonifacius, welcher um 725 die Johanniskirche auf dem Alten Berg bei Georgenthal, das Kloster Ohrdruf und die Marienkirche in Erfurt stiftete. Inzwischen war T. wieder zur Anerkennung der fränkischen Oberhoheit gebracht worden; von Pippin wurde die herzogliche Würde beseitigt und die Verwaltung der einzelnen Gaue (wie Helmengau, Altgau, Eichsfeld, Westgau, Ostgau, Lancwiza und Arnstadt) Grafen überlassen. Karl d. Gr. gründete um 804 gegen die Sorben die thüringische Mark an der Saale, deren Inhaber unter Ludwig dem Deutschen den Titel Markherzöge (duces Sorabici limitis) führten, wie Thakulf um 849 und Radulf um 875. Diese Würde wechselte dann mehrfach, so daß es zur Ausbildung einer einheimischen herzoglichen Gewalt nicht kam; vielmehr dehnte der sächsische Herzog Otto der Erlauchte 908 nach dem Tode des Markgrafen Burchard seine Gewalt eigenmächtig auch über T. aus. Nach dessen Tod (912) behauptete sie sein Sohn, der nachmalige deutsche König Heinrich I., gegen den König Konrad I. Von den fünf Marken, in welche Kaiser Otto I. nach Markgraf Geros Tode dessen große Sorbenmark zerteilte, verschwanden die nordthüringische und die südthüringische frühzeitig wieder, weil überflüssig geworden durch die östlichern Marken. Ihnen entsprechen die Bistümer Merseburg und Zeitz (später Naumburg), wogegen das eigentliche T. kirchlich von Mainz abhängig blieb. Markgraf Ekkehard I. von Meißen (985-1002) besaß auch über T. eine Art herzoglicher Gewalt. Noch einmal, unter den Markgrafen Wilhelm und Otto (von Weimar, 1046-1067), war T. mit Meißen vereinigt; doch erhob sich um diese Zeit ein neues Geschlecht in T., das die übrigen Grafen, die sich nach Käfernburg, Schwarzburg, Gleichen, Gleisberg, Weimar nannten, an Macht bald übertraf. Ludwig der Bärtige kaufte zwischen 1031

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Thüringen (Geschichte).

und 1039 von den Grafen von Käfernburg, Gleichen u. a. Güter am Thüringer Wald, namentlich in der Gegend von Altenberg und Reinhardsbrunn, erhielt hierzu vom Kaiser noch ein großes unangebautes Gebiet um den Inselsberg und durch seine Gemahlin Cäcilie Sangerhausen und Umgegend. Er ist der Ahnherr der ältern thüringischen Landgrafen. Ihm folgte 1056 Ludwig II., der Salier (fälschlich der Springer, s. Ludwig 53), unter dem T. den Zehntenstreit mit dem Erzbischof Siegfried von Mainz auszufechten hatte. Trotz der Entscheidung der Erfurter Kirchenversammlung (1073) weigerten sich die Thüringer, neue Zehnten zu zahlen, und stellten sich auf die Seite der Gegner Heinrichs IV., der die Ursache ihrer Bedrückung gewesen war. In dieser schweren Zeit der Gewaltthaten entstanden überall auf Thüringens Bergen Burgen; auch Ludwig der Springer baute 1067 die Wartburg bei Eisenach und schlug da 1076 seinen Wohnsitz auf. 1085 gründete er das Kloster Reinhardsbrunn. Nach seinem Tod (1123) folgte sein Sohn Ludwig III. Ihm verlieh 1130 König Lothar die bisher dem Grafen von Winzenburg zustehende Würde eines Landgrafen von T. Auch erwarb er, als Landgraf Ludwig I. genannt, durch Heirat bedeutende Besitzungen in Hessen. Sein Sohn Ludwig II., der Eiserne (s. Ludwig 54), durch seine Gemahlin Jutta mit dem Kaiser Friedrich Barbarossa verwandt, nahm an dessen Heerfahrten nach Italien teil und starb 1172. Sein Sohn und Nachfolger Ludwig III., der Milde (s. Ludwig 55), nahm an der Bekämpfung Heinrichs des Löwen den thätigsten Anteil und erhielt nach Heinrichs Sturz (1180) die Pfalzgrafschaft Sachsen. 1189 machte er Kaiser Friedrichs I. Kreuzzug mit und starb auf der Heimkehr im Mai 1190 auf Cypern kinderlos. Ihm folgte sein Bruder Hermann I., dessen Schwanken zwischen den beiden Gegenkönigen Philipp von Schwaben und Otto IV. sowie zwischen Otto IV. und Friedrich II. große Kriegsdrangsale über T. brachte. Die Wartburg ward unter ihm ein Asyl der Minnesänger und der Schauplatz des sagenhaften Wartburgkriegs (s. d.). Hermann, welcher 1216 starb, hatte seinen zweiten Sohn, Ludwig IV., den Heiligen, zum Nachfolger. Dieser (s. Ludwig 56) und seine Gemahlin, die heil. Elisabeth (s. Elisabeth 14), sind von Sage und Legende vielfach verherrlicht worden. Bei Ludwigs Tod in Otranto 11. Sept. 1227 zählte sein einziger Sohn, Hermann II., erst vier Jahre, weshalb sein Oheim Heinrich Raspe die stellvertretende Regierung in T. erhielt. 1238 mündig geworden, übernahm Hermann II. die Regierung selbst, starb aber schon 1242 kinderlos. Ihm folgte der eben genannte Heinrich Raspe (s. Heinrich 49). Er starb als Gegenkönig Kaiser Friedrichs II. 17. Febr. 1247, als der letzte männliche Sproß seines Hauses. Schon 30. Juli 1242 hatte der Markgraf Heinrich der Erlauchte von Meißen (s. Heinrich 39), Sohn von Jutta, der Stiefschwester des letzten Landgrafen von T., vom Kaiser Friedrich II. die anwartschaftliche Belehnung mit T. erhalten und schritt nun zur Besitzergreifung. Da aber zu gleicher Zeit Sophie, die Tochter Ludwigs des Heiligen und Gemahlin des Herzogs Heinrich I. von Brabant, und Graf Siegfried von Anhalt, ein Neffe Heinrich Raspes, mit Erbansprüchen hervortraten, so entstand der sogen. Thüringer Erbfolgekrieg, welcher zwar durch das Treffen bei Mühlhausen (11. Febr. 1248) und den Weißenfelser Vergleich vom 1. Juli 1249 zu gunsten Heinrichs des Erlauchten endigte, allein, da Sophie von Brabant den Kampf erneuerte, nach einem zweiten entscheidenden Sieg Heinrichs bei Wettin (29. Okt. 1263) dadurch beigelegt wurde, daß Sophie Hessen, Heinrich dem Erlauchten aber T. zugesprochen ward. T. war seit 1256 von Heinrichs ältestem Sohn, Albrecht, und dessen Oheim, dem Grafen Hermann von Henneberg, verwaltet worden. 1263 aber trat Heinrich der Erlauchte T. und die sächsische Pfalz an jenen Sohn, Albrecht den Entarteten (s. Albrecht 14), ab. Diesen verwickelte sein Versuch, die ihm von seiner ersten Gemahlin, Margarete, gebornen Söhne, Heinrich, Friedrich den Freidigen und Diezmann, zu gunsten des ihm von Kunigunde von Eisenberg gebornen Apitz an ihrem Erbteil zu verkürzen, in Krieg mit erstern; dabei verkaufte er 1294 T. für 12,000 Mark Silber an den König Adolf von Nassau. Infolge davon ward das Land von allen Greueln des Kriegs heimgesucht, indem sich König Adolf 1294 und 1295 mit Heeresmacht in Besitz des erkauften Landes zu setzen suchte, und diese Greuel wiederholten sich, als nach Adolfs Sturz dessen Nachfolger Albrecht I. ebenfalls Ansprüche auf T. erhob. Nachdem aber Friedrich der Freidige (s. Friedrich 34) seinem Vater die Wartburg entrissen und mit Diezmann die kaiserlichen Truppen bei Lucka 31. Mai 1307 geschlagen hatte, gelangte er nach Diezmanns Ermordung zum alleinigen Besitz von T. und erhielt dann von Kaiser Heinrich VII. auch die förmliche Belehnung. Zwischen seinem Sohn und Nachfolger Friedrich II,. dem Ernsthaften (s. Friedrich 35), einer- und den Grafen von Orlamünde und Schwarzburg sowie andern thüringischen Grafen anderseits entstand 1342 der sogen. Thüringer Grafenkrieg. Zwar stiftete Kaiser Ludwig der Bayer 1343 Frieden, doch entbrannte der Kampf bald aufs neue und endete erst 1345 und zwar zum Vorteil des Landgrafen. Er starb 18. Nov. 1349. Von seinen drei Söhnen vergrößerte Friedrich III., der Strenge (1349-81, s. Friedrich 36), T. durch Erwerbung der Pflege Koburg und Balthasar (1349-1406) durch Erwerbung der Ämter Hildburghausen, Heldburg, Ummerstadt etc. infolge seiner Vermählung mit Margarete, der Tochter des Burggrafen Albrecht von Nürnberg. Auch entrissen sie im Verein mit ihrem dritten Bruder, Wilhelm dem Einäugigen, 1369 den von ihnen besiegten Vögten von Plauen Ziegenrück, Auma und Triptis und kauften 1365 die Stadt Sangerhausen zurück. Nachdem 1373 mit den Landgrafen von Hessen eine Erbverbrüderung geschlossen worden war, fand 1379 und definitiv 1382 nach Friedrichs des Strengen Tod eine Teilung statt, der zufolge T. an Balthasar fiel. Balthasar hatte in T. 1406 seinen Sohn Friedrich IV., den Friedfertigen oder den Einfältigen, zum Nachfolger. Dieser (s. Friedrich 37) überließ aber die Regierung meist seinem Schwiegervater, dem Grafen Günther von Schwarzburg, und erhielt infolge des Absterbens seines Oheims Wilhelm einen großen Teil von Meißen. Nach seinem Tod (1440) fiel T. an den Kurfürsten Friedrich II., den Sanftmütigen, und dessen Bruder, den Herzog Wilhelm III. Die Teilung zwischen beiden Brüdern veranlaßte einen Bruderkrieg (s. Sachsen, S. 134). Als darauf Wilhelm 1482 ohne Leibeserben starb, fiel T. an die Söhne Friedrichs des Sanftmütigen, Ernst und Albert, welche 26. Aug. 1485 eine förmliche Länderverteilung vornahmen (s. Sachsen, S. 134). Seitdem verschmilzt die Geschichte von T. in die der sächsischen Herzogtümer Ernestinischer Linie (s. d.), die Geschichte des thüringischen Kreises aber, wie der Anteil der Albertinischen Linie hieß, in die Geschichte Kursachsens und seit 1815 Preußens. Vgl. "Thüringische Geschichts-

GEOLOGISCHE KARTE VON THÜRINGEN.

Maßstab 1:415000.

Farbenerklärung.

Formationen:

Tertiär

Lias

Trias:

Keuper

Muschelkalk

Buntsandstein

Perm:

Zechstein

Rotliegendes

Karbon:

prod. Steinkohle

Kulm

Devon

Silur

Cambrium.

Gneis und Glimmerschiefer

Eruptivgesteine:

Phonolith

Basalt

Palatinit

Melaphyr und Porphyrit

Quarzporphyr

Granitporphyr

Granit

Diabas

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Thüringer Wald.

quellen" (hrsg. von Wegele und Liliencron, Jena 1854 bis 1886, Bd. 1-5); "Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte" (das. 1854 ff.); Galletti, Geschichte Thüringens (Gotha 1781-85, 6 Bde.); Wachter, Thüringische und obersächsische Geschichte (Leipz. 1826-30, 3 Bde.); Knochenhauer, Geschichte Thüringens in der karolingischen u. sächsischen Zeit (Gotha 1863) und zur Zeit des ersten Landgrafenhauses (das. 1871); Koch, Geschichte Thüringens (das. 1886); Rothe, Chronik von T. (hrsg. von Fritzsche, Eisenach 1888); Gebhardt, Thüringische Kirchengeschichte (Gotha 1880); Bechstein, Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringer Landes (Hildburgh. 1838).

Thüringer Wald (hierzu "Geologische Karte des Thüringer Waldes"), Kettengebirge in Mitteldeutschland, erstreckt sich zwischen Thüringen im N. und Franken im S. in südöstlicher Richtung von der Werra unweit Eisenach bis zum Wetzstein bei Lehesten, nach andern nur bis zur Werra und Schwarza, wo es, den Charakter des Plateaus annehmend, in den Frankenwald übergeht (s. Karte "Sächsische Herzogtümer"). Die Länge des Gebirges, über dessen Kamm in seiner ganzen Ausdehnung ein uralter Grenzweg, der sogen. Rennstieg (s. d.), führt, beträgt, die Linie der Werra- und Schwarzaquelle als Grenze angenommen, 75, bis zum Wetzstein 110 km, während die Breite im äußersten Nordwesten kaum 10 km, im SO., zwischen Rudolstadt und Sonneberg, 35 km beträgt. Das Profil des langgestreckten Gebirgszugs mit seinen zahlreichen, schön gerundeten Gipfeln und muldenförmigen Vertiefungen bildet eine fortlaufende, sanft gekrümmte Wellenlinie, die namentlich von der Nordseite her einen ungemein malerischen Anblick darbietet. Der Kamm selbst erhebt sich nur an wenigen Stellen über 900 m, während die Höhe seiner Ausläufer zwischen 200 m (bei Eisenach und Saalfeld) und 490 m (bei Ilmenau) schwankt. Im allgemeinen kann man den T. W. nach seiner Längenausdehnung in zwei Hälften teilen, die in ihrer von der geognostischen Zusammensetzung abhängigen Oberflächengestalt sich wesentlich voneinander unterscheiden. Auf ihrer etwa durch die Linie Eisfeld-Amtgehren bezeichneten Grenze haben die Gewässer, welche das Gebirge drei Hauptströmen (Elbe, Weser und Rhein) zusendet, ihren Quellknoten. Der nordwestliche Teil bildet eine schmale, gegen Eisenach keilförmig zugespitzte, durch einen hohen Kamm geschlossene Bergkette mit steilem Abfall nach N. und S. Da, abgesehen von räumlich beschränkten Gebieten kristallinischen Urgebirges (Granit-, Gneis- und Glimmerschiefergebiet von Brotterode), die Ablagerungen der Karbon-Rotliegend-Zeit und von diesen wiederum vorwaltend die Lavaströme porphyr- und melaphyrartiger Gesteine die Hauptmasse dieses etwa 75 km langen, 15 bis 22 km breiten Gebirgsabschnitts zusammensetzen, so herrschen die den Eruptivgebieten eignen steilen, zerrissenen, durch malerisch geformte Thalgründe zerklüfteten Terrainformen vor. In diesem vorzugsweise von Bade- und Kurorten belebten Teile liegen zugleich die höchsten und besuchtesten Gipfel des Gebirges: der Inselsberg (915 m), der Große Beerberg (983), der Schneekopf (978), der Finsterberg (947), der Kickelhahn (861 m) u. a. Der südöstliche Teil (den Wetzstein als Grenze angenommen) stellt sich als ein fast ebenso langes, dagegen 40-50 km breites, wellenförmiges, hauptsächlich aus Phyllit, Thonschiefer und Grauwacke bestehendes Hochland dar, mit steilem Abfall nach S., breitfüßigen und flach geböschten Bergen, welche sich nur wenig über das allgemeine Niveau erheben, und langgestreckten, etwas einförmigen, aber von gewerblichem und industriellem Verkehr vielfach belebten Thälern. Als höchste Punkte sind hier zu nennen: das Kieferle (877 m), die Kursdorfer Kuppe (805), der Wurzelberg (837) und der Wetzstein (821 m). - Der Wald besteht vorherrschend aus Tannen und Fichten, neben denen auch bedeutende Laubwaldbestände vorkommen, gegenwärtig fast überall Gegenstand einer sorgfältigen Kultur. Die am höchsten gelegenen, stets bewohnten Orte sind: Neustadt a. R. (925 m), Igelshieb (835), Steinheid (814), Neuhaus a. R. (812), Oberhof (811), Oberweißbach (754), Schmiedefeld (728 m) etc., fast alle im südöstlichen Teile des Thüringer Waldes liegend.

In geognostischer Beziehung gehört der T. W. zu den interessantesten und lehrreichsten Gebirgen Deutschlands. Das nordwestliche Ende besteht aus Rotliegendem; weiterhin gegen SO. wächst in der Nachbarschaft des inselartig hervortauchenden Kernes kristallinischen Grundgebirges (Granit, Gneis, Glimmerschiefer) die Zahl und Mannigfaltigkeit der karbonisch-rotliegenden Sedimente und besonders der gleichaltrigen Eruptivgesteine mit ihren Tuffbildungen. Porphyr, Porphyrit, Melaphyr in den verschiedenartigsten Abänderungen durchsetzen gangförmig und stockförmig oder überlagern deckenförmig die bisweilen stark zurücktretenden und in ihrem Lagerungsgefüge durch zahlreiche Verwerfungen gestörten Schichtgesteine. Dabei walten in den gewaltigen, Lavaströmen vergleichbaren Deckenergüssen der tiefern (karbonischen) Stufe, wie sie den Granit von Suhl, Vesser, Schmiedefeld und Stützerbach überlagern, die basischen Eruptivgesteine (Melaphyr, Glimmerporphyrit), in der höhern, dem Rotliegenden zugerechneten Stufe, insonderheit auf der Strecke Tambach, Oberhof, Elgersburg, dagegen die sauren Glieder (Quarzporphyr etc.) vor. Südöstlich der Linie Amtgehren, Neustadt a. R., Unterneubrunn hören die zusammenhängenden Eruptivgesteinsdecken ziemlich plötzlich auf, und die Glieder des kambrisch-phyllitischen Schiefersystems (Thonschiefer, Grauwacke, Quarzit) mit den bei Siegmundsburg aufgefundenen Vertretern der ältesten Fauna treten in der ganzen Breite des Waldgebirges hervor. Schon hart an der Grenze gegen den Frankenwald lagern sich in schmalem, von SW. bis NO. laufendem Streifen von Steinach über Spechtsbrunn, Gräfenthal nach Saalfeld die Glieder des Silur- und Devonsystems auf, ihrerseits den weit in den Frankenwald in großer Fläche verbreiteten Kulm (Unterkarbon) tragend. Der ganze Gebirgskörper erscheint als ein durch gewaltige Bruchlinien (Verwerfungen) von dem ihn allseitig umgebenden, eingesunkenen, aus Buntsandstein, Muschelkalk und Keuper gebildeten hügeligen Vorland losgetrennter und stehen gebliebener horstförmiger Keil. Wo das Absinken des Vorlandes von demselben weniger in Gestalt scharfer, schnittförmiger Brüche als durch eine Schichtenverbiegung und Niederziehung erfolgte, ist die Zechsteinformation als bald breiterer, bald schmälerer Randsaum des Gebirges erhalten.

Die Gewässer des Thüringer Waldes, sämtlich zum Gebiet der Nordsee gehörend, verzweigen sich zu einem dreifachen Flußgebiet, dessen Scheitelpunkt der Saarberg unfern Limbach ist. Zum Elbgebiet gehören die direkt oder indirekt zur Saale gehenden: Selbitz, Loquitz, Schwarza, Ilm und Gera mit Apfelstedt; zum Wesergebiet: die Werra mit Schleuse, Hasel, Schmalkalde, Druse und Hörsel mit Leine; zum Rheingebiet die zum Main gehenden: Rodach und Itz. An größern stehenden Gewässern fehlt es dem Gebirge. Von Mineralquellen

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Thüringische Terrasse - Thurles.

sind außer den kalk- und kohlensäurehaltigen Eisenquellen in Liebenstein die Solquellen von Salzungen und Schmalkalden zu nennen, während andre Orte, besonders Elgersburg, Ilmenau etc., sich eines fast chemisch reinen Wassers erfreuen und den dortigen Kaltwasserheilanstalten ihren guten Ruf verschafft haben. An nutzbaren Mineralien ist die Ausbeute von Braunstein, welcher aus Gängen im Porphyr vorkommt (Manganerz), bei Ilmenau, Elgersburg, Friedrichroda, Schmalkalden etc. von einiger Bedeutung. Außerdem liefert die Zechsteinformation Eisenerze (Stahlberg und Mommel bei Schmalkalden, Kamsdorf bei Saalfeld), Schwerspat, Kupfererz (Kupferschiefer bei Ilmenau, Schweina u. Fahlerz bei Kamsdorf), Gips (Kittelsthal, Friedrichroda etc.), Kobalt- und Nickelerze bei Saalfeld und Schweina. Alaun- und Vitriolschiefer sind bei Schmiedefeld im Silur bekannt. Gold fand sich im kambrischen Quarzit von Reichmannsdorf. Flußspat wird bei Steinbach und Öhrenstock, Kaolin bei Limbach etc. gewonnen. Besondere Erwähnung verdienen noch die Schieferbrüche im südöstlichen Teil des Gebirges, besonders bei Lehesten. Lebhaft ist die Industrie. Hervorragend sind besonders: die Bearbeitung des Eisens in allen Formen bis hinab zu den Produkten der Kleinschlosserei und den sogen. Schmalkaldener Waren, die Porzellan- und Steingutmanufakturen, die Spielwaren- und Papiermachéfabriken in Sonneberg und Waltershausen, die Meerschaumindustrie in Ruhla, die Glashütten, Glasinstrumenten- und Glasperlenfabrikation, die Farbenfabriken, die Gewinnung von Pechharz und Kienruß etc. Bedeutend ist der Fremdenverkehr während der Sommermonate, besonders in Eisenach, Thal, Ruhla, Friedrichroda, Tabarz, Georgenthal, Tambach, Elgersburg, Ilmenau. Zahlreiche, meist wohlgepflegte Straßen überschreiten das Gebirge. Ein Gürtel von Eisenbahnen umgibt den T. W., drei Linien durchschneiden denselben von N. nach S. zum Teil in langen Tunnels. Für noch größere Hebung des Fremdenverkehrs, namentlich auch für Aufschließung noch weniger bekannter Thäler und Aussichtspunkte, ist der Thüringerwaldverein sehr thätig. In politischer Beziehung bietet der T. W. noch heute das bunteste Bild dar: Preußen, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Weimar, Sachsen-Koburg-Gotha, die beiden Schwarzburg, Reuß und Bayern teilen sich in ihn. Vgl. Heim, Geologische Beschreibung des Thüringer Waldgebirges (Meining. 1796, 6 Bde.); Credner, Geognostische Verhältnisse Thüringens und des Harzes (Gotha 1843); Derselbe, Versuch einer Bildungsgeschichte der geognostischen Verhältnisse des Thüringer Waldes (das. 1855); Schwerdt und Ziegler, Thüringen (in "Meyers Reisebüchern", 3. Aufl., Leipz. 1879), und ebenda: Anding und Radefelds "Wegweiser" (9. Aufl., das. 1888); Trinius, Thüringer Wanderbuch (Mind. 1886-89, 3 Bde.); Vogel, Topographische Karte vom T. W., 1 : 150,000 (Gotha).

Thüringische Terrasse, die Berg- und Hügellandschaft zwischen dem Thüringer Wald und dem Harz, der Saale und der Werra, die vom Harz durch die Goldene Aue (das Thal der Helme) geschieden wird, bildet im allgemeinen eine allmählich gegen S. ansteigende Landschaft mit zahlreichen Bergzügen und Platten unter besondern Namen. Dahin gehören: das Plateau des Eichsfeldes (Goburg, am Westrand, 568 m) mit dem Ohmgebirge (522 m) und dem Dün (517 m), das zwischen Wipper und Helbe sich als Hainleite (Wetternburg 465, Possen 461 m) zur Unstrut zieht; das Kyffhäusergebirge (470 m) am südlichen Rande der Goldenen Aue; die Schmücke, Schrecke und Finne zwischen der Unstrut bei Sachsenburg und der Saale bei Kösen; der Göttinger Wald (440 m) östlich von der Leine und von Göttingen; der Hainich (473 m), Verbindungsglied zwischen dem Eichsfelder Plateau und den Bergen bei Eisenach; der Ettersberg (481 m) nördlich von Weimar und der Steigerwald bei Erfurt. In unmittelbarer Nähe des Thüringer Waldes bereits befinden sich Höhen zwischen der Saale und Gera (Singerberg bei Stadtilm 582 m, Reinsberg bei Plaue 614 m), die Drei Gleichen bei Wandersleben und die Hörselberge (485 m) bei Eisenach. Auch die ostwärts von der Saale sich erstreckenden Berglandschaften gehören teilweise noch hierher, so: der Kulm (482 m) bei Saalfeld, die Leuchtenburg (436 m), die Kunitzburg (353 m) und die Rudelsburg, alle drei unmittelbar an der Ostseite des Saalethals. Was den Bau der Terrasse betrifft, so besteht dieselbe, abgesehen von den Alluvionen in den Flußthälern, vorzugsweise aus Keuper, Muschelkalk und Buntsandstein. Älteres Gestein, Zechstein und Rotliegendes, Granit, Gneis und Hornblendefels bedeckend, findet sich im Kyffhäusergebirge.

Thürklopfer, ursprünglich eiserne Hämmer, dann Ringe aus Eisen oder Bronze, welche an den Hausthüren so angebracht waren, daß man sie bewegen und mit ihnen gegen einen eisernen Knopf schlagen konnte. Seit der gotischen Zeit wurden die T. phantastisch gestaltet und künstlerisch verziert (s. Tafel "Schmiedekunst", Fig. 3 u. 25), in der Renaissance zu Kunstwerken mit figürlichem Zierat ausgebildet (s. Abbild.). Bisweilen waren sie auch mit Fackelhaltern verbunden (s. Tafel "Schmiedekunst", Fig. 19). Jetzt nur noch in England gebräuchlich.

Thurles (spr. thörls), Stadt in der irischen Grafschaft Tipperary, am Suir, sehr alt, Sitz des Erzbischofs von Cashel und Emly, hat ein kath. Seminar, 2 Nonnenklöster, die Ruinen eines Schlosses derTempelherren und (1881) 4850 Einw. 6 km davon die Ruinen der 1182 gestifteten Holy Croß Abbey.

[Thürklopfer (Neptun am Palast Trevisan in Venedig).]

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Thurm - Thymele.

Thurm, s. Turm.

Thurmayr, Johannes, s. Aventinus.

Thurn, Heinrich Matthias, Graf von, einer der Hauptführer des böhmischen Aufstandes unter Ferdinand II., geb. 1580 von protestantischen Eltern, erhielt vom Kaiser Rudolf II. wegen seiner Dienstleistungen in einem Feldzug gegen die Türken die Stelle eines Burggrafen von Karlstein in Böhmen. Er war einer der Haupturheber des Majestätsbriefs und wurde von den Ständen zu einem der 30 Defensoren des Glaubens ernannt. Er gab 23. Mai 1618 das Zeichen zum Aufstand der protestantischen Bevölkerung in Böhmen und ward dann zum Anführer des ständischen Heers ernannt, mit dem er im Juni 1619 bis Wien vordrang. Nach der Schlacht am Weißen Berg, in welcher er mitkämpfte, floh er nach Siebenbürgen zu Bethlen Gabor. 1626 befehligte er ein kleines Korps in Schlesien, begab sich dann zu dem König Gustav Adolf von Schweden und focht bei Leipzig 1631 und bei Lützen 1632 mit. Nach dem Tode des Königs ging er mit einem schwedischen Korps nach Schlesien, knüpfte dort mit Wallenstein nutzlose Unterhandlungen an und ward im Oktober 1633 mit seinen 2500 Schweden bei Steinau a. O. eingeschlossen und zur Kapitulation gezwungen, aber bald wieder freigegeben. 1636 veröffentlichte er in Stockholm eine "Defension-Schrifft". Er starb 28. Jan. 1640. Vgl. Hallwich, Heinrich Matthias Graf T. (Leipz. 1883).

Thurn und Taxis, altes, weitverzweigtes Adelsgeschlecht, stammt angeblich von den mailändischen della Torre, die 1237-77 und 1302-11 Mailand beherrschten. Von den Visconti vertrieben, ließ sich nach der Überlieferung Lamoral I. 1313 im Gebiet von Bergamo nieder und nahm von dem Berg Tasso (Dachsberg) den Namen del Tasso, später de Tassis (Taxis), an. Thurn entstand durch die Übersetzung des italienischen Torre. Franz von T. ward von Kaiser Maximilian 1512 der rittermäßige Reichsadel bestätigt; er errichtete 1516 die erste wirkliche Post zwischen Wien und Brüssel. 1595 wurde Leonhard von Taxis Generalpostmeister des Reichs, und 1615 erwarb Lamoral von Taxis neben der Erblichkeit dieses Amtes die gräfliche Würde für sein Haus. Eugen Alexander von Taxis wurde 1686 von Leopold I. in den Reichsfürstenstand erhoben, und der fürstliche Rang war seit 1695 in seinem Geschlecht erblich. Die 1785 von Karl Anselm von Taxis erkauften reichsunmittelbaren Herrschaften Friedberg, Scheer, Dürmentingen und Bussen wurden 1786 zu einer gefürsteten Reichsgrafschaft erhoben und verschafften ihrem neuen Herrn Sitz und Stimme auf der Fürstenbank des schwäbischen Kreises. Als Entschädigung für den Verlust der Posten in den österreichischen Niederlanden und auf dem linken Rheinufer erhielt das Thurn und Taxissche Haus im Reichsdeputationshauptrezeß von 1803 das gefürstete Damenstift Buchau nebst Stadt, die Abteien Marchthal und Neresheim, das Amt Ostrach, die Herrschaften Schemmerberg und die Weiler Tiefenthal, Frankenhofen und Stetten als Fürstentum; von Preußen 1819 als Entschädigung für die hier verlornen Posten drei in der Provinz Posen gelegene Domänenämter, die zu einem Fürstentum Krotoschin erhoben wurden. Außerdem besitzt das Haus zahlreiche Herrschaften in Österreich, Bayern, Württemberg u. Belgien. Seine gesamten Besitzungen umfassen etwa 1900 qkm (34½ QM.) mit ca. 100,000 Einw. und 1,1 Mill. Mk. Einkünften. Über die Thurn und Taxisschen Posten, welche 1867 Preußen übernahm, s. Post, S. 274. Gegenwärtiger Standesherr ist Fürst Albert, geb. 8. Mai 1867, Sohn des Erbprinzen Maximilian und der Prinzessin Helene, Herzogin in Bayern. Derselbe wohnt in Regensburg, ist erblicher Reichsrat in Österreich u. Bayern und erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses sowie der Ersten Kammer in Württemberg. Eine Sekundogenitur des Hauses T. bildet die zu Prag residierende fürstliche Seitenlinie, welche durch die Nachkommen des Prinzen Maximilian Joseph (geb. 29. Mai 1769, gest. 15. Mai 1831) gebildet wird. An ihrer Spitze steht jetzt Fürst Hugo, geb. 3. Juli 1817. Einer seiner Brüder, Prinz Emmerich, geb. 12. April 1820, ist k. k. Geheimrat, Kämmerer und General der Kavallerie in Österreich. Beider Oheim, Prinz Karl Theodor, geb. 17. Juli 1797, wurde 1850 bayrischer General der Kavallerie und im Feldzug von 1866 Befehlshaber des Kavalleriereservekorps, ward bald nach wiederhergestelltem Frieden zur Disposition gestellt und starb 21. Juni 1868 in München.

Thurnau, Flecken im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Kulmbach, am Rande des Jura, 350 m ü. M., Hauptort eines 220 qkm (4 QM.) großen Mediatgerichts des Grafen von Giech, hat eine evang. Kirche, ein Schloß mit Park, ein Amtsgericht, Schleifsteinbrüche und (1885) 1269 Einw.

Thursday (spr. thörrsde), zur britisch-austral. Kolonie Queensland gehörige Insel, in der Torresstraße gelegen, nördlich vom Kap York, mit der seit einigen Jahren hierher von Somerset verlegten Niederlassung der Regierung. T. ist eine Zentralstation für die in diesen Gewässern schwunghaft betriebene Perl- und Trepangfischerei (Ertrag 1886: 70,602, resp. 6800 Pfd. Sterl.) und Station für die von Singapur nach Brisbane laufenden Postdampfer.

Thursen, Riesen, s. Joten.

Thúrso, Seestadt in der schott. Grafschaft Caithneß, an der Mündung des Flusses T. in eine geräumig Bai, hat ein altes Schloß, einen Hafen für Schiffe von 3,6 m Tiefgang, Seilerei, Ausfuhr von Vieh und Pflastersteinen und (1881) 4026 Einw.

Thürsteuer, f. Gebäudesteuer.

Thusis (roman. Tuseun), Marktflecken im schweizer. Kanton Graubünden, Hauptort des Bezirks Heinzenberg, an der Mündung der Nolla in den Hinterrhein (oberhalb beginnt die Via mala), 746 m ü. M., mit Korn- und Viehhandel und (1880) 1126 Einw. T. ist wichtig als Kreuzungspunkt der Splügen- und der Schynstraße. In der Nähe die Burgruine Hohen-Rätien (Hohen-Realta, 950 m hoch) mit schöner Aussicht. Vgl. Lechner, T. und die Hinterrheinthäler (Chur 1875); Rumpf, Thusis (Zürich 1881).

Thusnélda, Tochter des Segestes, Gattin des Arminius, der sie ihrem Vater entführt hatte, geriet später wieder in die Gewalt ihres Vaters und wurde von diesem 15 n. Chr. an Germanicus ausgeliefert, der sie nebst ihrem Sohn Thumelicus, den sie in der Gefangenschaft geboren, im J. 17 zu Rom im Triumph aufführte.

Thyatira, antike Stadt, s. Akhissar 2).

Thyéstes, Bruder des Atreus (s. d.).

Thyiaden, s. v. w. Bacchantinnen, s. Dionysos, S. 997.

Thylacinus, Beutelwolf.

Thylacotherium, s. Beuteltiere, S. 848.

Thyllen (griech., Füllzellen), Zellen, welche ältere oder verletzte Gefäße, z. B. im Holz der Eiche, Robinien u. a., nachträglich ausfüllen.

Thymallus, Äsche.

Thymele, auf der altgriech. Bühne eine altarförmige viereckige, sich auf Stufen erhebende Erhöhung in der Mitte der Orchestra, auf welcher der Chorführer

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Thymeleen - Tiara.

stand und die Bewegung des Reigens beherrschte (s. Tafel "Baukunst IV", Fig. 11, u. Theater, S. 623).

Thymeleen (Daphnoideen), dikotyle, etwa 300 Arten umfassende, der gemäßigten und warmen Zone ungehörige Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Thymeläinen, welche sich von den nächstverwandten Eläagnaceen hauptsächlich durch die nahe dem Gipfel des ein-, selten mehrfächerigen Ovariums entspringenden, hängenden Samenknospen unterscheidet. Vgl. Meißners Monographie in De Candolles "Prodromus", Bd. 14. Eine Anzahl von Arten aus den Gattungen Daphne L. und Pimelea Banks kommen fossil in Tertiärschichten vor.

Thymelinae, Ordnung im natürlichen Pflanzensystem unter den Dikotyledonen, charakterisiert durch nebenblattlose Blätter, viergliederige Blüten, ein röhrenförmiges, blumenkronartig gefärbtes Perigon, die fehlende Korolle, perigynische Staubgefäße, einen oberständigen, einfächerigen und meist einsamigen Fruchtknoten, umfaßt die Familien der Thymeleen, Eläagneen, Proteaceen.

Thymian, Pflanzengattung, s. Thymus.

Thymianöl, ätherisches Öl, welches aus dem blühenden Kraute des Thymians durch Destillation mit Wasser gewonnen wird. Es ist farblos oder gelblich, vom Geruch und Geschmack des Thymians, spez. Gew. 0,87-0,90, löst sich schwer in Wasser, in gleichen Teilen Alkohol, leicht in Äther, enthält Thymen C10H16, Cymol C10H14 und Thymol C10H14O. Es wird in der Parfümerie häufig angewandt.

Thymol (Thymiankampfer) C10H14O findet sich im ätherischen Thymianöl und in einigen andern ätherischen Ölen und wird daraus gewonnen, indem man die Öle mit Natronlauge schüttelt und die von dem Öl getrennte wässerige Flüssigkeit mit Salzsäure Übersättigt. Es bildet farblose Kristalle, riecht thymianähnlich, schmeckt brennend gewürzhaft, ist leicht löslich in Alkohol und Äther, schwer in Wasser, schmilzt bei 44°, siedet bei 230° und wird aus seiner Lösung in wässerigen Alkalien durch Kohlensäure abgeschieden. Das T. wurde als Ersatz der Karbolsäure (Phenol) beim Wundverband, als Arzneimittel, zu Mundwässern und zum Konservieren des Fleisches etc. empfohlen. Es wirkt antiseptisch, aber nicht in der Weise schädlich auf den Organismus wie Karbolsäure, hinter welcher es freilich auch in seinen antiseptischen Eigenschaften bedeutend zurücksteht. In der Wundbehandlung hat es daher nur vorübergehend eine Rolle gespielt. Vgl. Ranke, Über das T. (Leipz. 1878).

Thymus Tourn. (Thymian, Quendel), Gattung aus der Familie der Labiaten, Halbsträucher oder kleine Sträucher mit kleinen, ganzrandigen, gegenständigen Blättern, meist wenigblütigen Scheinquirlen, die bald entfernt voneinander, bald zu dichten oder lockern Ähren oder Köpfchen zusammengedrängt sind, und meist rötlichen Blüten. 40 (80) Arten, besonders in den Mittelmeerländern. T. Serpyllum L. (Feldthymian, Feld-, Hühnerpolei, Quendel), in ganz Europa, im mittlern und südwestlichen Asien, in Afrika und Nordamerika, kleiner Halbftrauch mit niederliegendem, verästeltem Stengel, linealischen oder elliptischen, meist drüsig punktierten und am Grund borstig gewimperten Blättern und blaß purpurroten Blüten, variiert stark in Behaarung und Blattform, riecht, besonders gerieben, angenehm gewürzig und liefert ein ätherisches Öl (bis 0,4 Proz.). Das Kraut ist offizinell. T. vulgaris L. (Gartenthymian, römischer Quendel), ein niedriger Halbstrauch in Südeuropa, in Deutschland und noch in Norwegen häufig in den Gärten zum Küchengebrauch und der Bienen wegen kultiviert, hat einen aufsteigenden, ästigen Stengel, linealisch-lanzettliche bis länglich-eiförmige, drüsig punktierte, sehr kurz behaarte oder kahle, am Rand umgerollte Blätter und weißliche oder rötliche Blüten in ährig bis kopfig zusammengerückten Scheinquirlen. Das Kraut enthält ätherisches Öl (bis 0,6 Proz.) und ist offizinell.

Thymusdrüse (Milchfleisch, Brustdrüse, Briesel, Glandula Thymus), bei den Wirbeltieren ein drüsiges Gebilde im obern Teil der Brusthöhle und des Halses. Sie ist sehr langgestreckt bei den Krokodilen und Vögeln, wo sie vom Herzbeutel bis zum Unterkiefer reicht, kürzer bei den Säugetieren. Fast immer ist sie in der Jugend stärker entwickelt und erleidet im Alter Rückbildungen. Bei den Fischen steht sie noch in naher Beziehung zu den Kiemen und scheint auch aus ihnen hervorgegangen zu sein. Ihrem Bau nach ist sie eine Lymphdrüse (s. d.) ohne Ausführungsgang. Beim Menschen liegt sie hinter dem Handgriff des Brustbeins, wiegt 4-34 g, ist graurötlich, platt, meist dreieckig und besteht aus zwei seitlichen Lappen, welche durch einen schmälern mittlern Teil untereinander verbunden sind. Ungefähr im zweiten Jahr nach der Geburt hört sie auf, sich zu vergrößern. Von da an bleibt sie, meist bis etwa zum 15. Jahr, stationär und erleidet dann allmählich eine Umwandlung in Fettgewebe.

Thynnus, Thunfisch.

Thyone, Beiname der Semele (s. d.), daher auch Dionysos hin u. wieder als Thyoneus verehrt wurde.

Thyreotomie (griech.), operative Spaltung des Schildknorpels zur Entfernung unzugänglicher Neubildungen aus dem Kehlkopf.

Thyrsos (griech.), der mit Epheu u. Weinranken umwundene, oben mit einem Fichtenzapfen versehene Stab des Dionysos u. seiner Begleiter (s. Abbild.); in der Botanik (Thyrsus) s. v. w. sehr zusammengedrängte Rispe.

Thysanuren (Thysanura), Gruppe der Insekten, welche früher zu den Geradflüglern gestellt wurde, jetzt aber als selbständige Ordnung aufgefaßt wird; flügellose Tiere mit behaarter oder beschuppter Körperbedeckung, rudimentären kauenden Mundteilen und borstenförmigen Fäden, bez. Springapparat am Ende des zehngliederigen Hinterleibs. Die T. scheinen den ursprünglichen Charakter der ältesten Insektenformen am meisten bewahrt zu haben u. erinnern besonders in den langgestreckten Kampodiden an gewisse Myriopoden, zumal sie auch am Hinterleib Fußstummel tragen können. Die T. leben an feuchten, moderigen Orten und ernähren sich von verwesenden organischen Substanzen. Man teilt sie in drei Familien: Campodidae. Springschwänze (Poduridae) und Borstenschwänze (Lepismidae), zu welchen der Zuckergast (Lepisma saccharina) gehört. Vgl. Lubbock, Monograph of the Collembola and Thysanura (Lond. 1873).

Ti, in der Chemie Zeichen für Titan.

Tiahuanaco, Dorf in der südamerikan. Republik Bolivia, in der Nähe des Titicacasees, bekannt durch seine Altertümer, die von den Vorfahren der Aymara herstammen sollen.

Tiara (griech.), nach Herodot die bei feierlichen Gelegenheiten getragene Kopfbedeckung der Orientalen, namentlich der Perser, von aufrecht stehender Form mit darum geschlungenem Diadem; dann die hohe päpstliche Kopfbedeckung, anfangs weiß ohne Kronenrand, dann gestreift mit goldenem Stirnreif.

[Thyrsos.]

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Tibaldi - Tiber.

Bonifacius VIII. (gest. 1303) gab dem letztern die Gestalt einer Krone (regnum) und setzte darüber noch einen zweiten goldenen Kronenreif; Urban V. (gest. 1370) fügte dazu einen dritten Kronenreif und machte sie so zur dreifachen Krone (triregnum), an den Seiten mit zwei herabhängenden Bändern u. oben darauf mit dem Reichsapfel, dem Symbol der vom Kreuz beherrschten Welt. Seit Papst Paul II. (gest. 1471) besteht sie aus purpurnen, blauen und grünen Streifen mit dreifachem Reif darum (s. Abbild.).

Tibaldi, Pellegrino, ital. Maler und Architekt, geb. 1532 zu Bologna, begab sich 1547 nach Rom, wo er besonders die Werke Michelangelos studierte, ging sodann zur Architektur über, bethätigte sich aber auch wieder als Maler, als ihn der Kardinal Gio. Poggi beauftragte, in seinem Palast zu Bologna die Geschichte des Odysseus zu malen. Durch seine Ausschmückung der Kapelle des heil. Jakob des Augustiners erwarb er sich den Namen eines "Michelangelo riformato". Im Börsensaal zu Ancona malte er den die Ungeheuer zähmenden Herakles, inzwischen aber auch zarte und anmutige Bilder in Öl, meist figurenreich, lebhaft koloriert und mit Architektur verziert. 1562 wurde T. vom Kardinal Carlo Borromeo nach Pavia berufen, um den Plan zum Palast della Sapienza zu entwerfen. In Mailand restaurierte er den erzbischöflichen Palast, und nach Vollendung des Baues der Kirche des heil. Fidelis daselbst wurde er 1570 erster Architekt des Doms und modernisierte als solcher besonders das Innere desselben. 1586 ward er von Philipp II. nach Madrid berufen, um den Plan zum Escorial zu entwerfen, in welchem er auch das Deckenbild der Bibliothek malte. Zum Marchese von Valsolda ernannt, kehrte der Künstler nach neun Jahren nach Mailand zurück und starb daselbst 1598. Vgl. Zanotti, Le pitture di Pellegrino T. (Vened. 1756). Sein Sohn Domenico, geb. 1532 zu Bologna, gest. 1583, erwarb sich ebenfalls als Architekt und Maler einen Namen.

Tibbu (Tebu), das Volk der östlichen Sahara, hat seine westliche Grenze, gegen die Tuareg hin, ungefähr an der großen von Tripolis über Mursuk und Bilma nach Kuka verlaufenden Karawanenstraße, wird im N. von Tripolitanien, im S. von Kanem und Wadai, im O. von der Libyschen Wüste begrenzt und zerfällt in zwei sprachlich getrennte Gruppen: die Teda oder Tubu in Tibesti und Kauar und die Dasa oder Koran in Borku, Kanem und dem Gebiet des Gazellenflusses in Wadai. Während Rohlfs u. a. die T. zu den Negern stellten, weist ihnen Nachtigal ihre ethnographische Stellung bei den Berbern zu; doch ist eine Mischung mit Negern nicht ausgeschlossen. Die Sprache der Teda ist nach den Untersuchungen von Barth, der die T. für Nachkommen der alten Garamanten (s. d.) hält, und Fr. Müller entschieden verwandt mit dem benachbarten Kanuri von Bornu. Hautfarbe und Gesichtsbildung der T. schwanken zwischen hell und "kaukasisch" und negerartig mit krausem Haar und gelber Bindehaut der Augen; vorwiegend sind weißlichgelbe bis rotbräunliche Individuen. Der Bartwuchs ist spärlich. Alle T. sind jetzt zum Islam bekehrt, dem sie fanatisch anhängen, wiewohl sie dessen Wesen kaum begriffen haben. Gesellschaftlich sind die T. in drei Klassen geschieden: die Maina (Edlen), aus welchen die Sultane hervorgehen, das übrige Volk und die Schmiede, welche eine Pariastellung einnehmen. Die Industrie ist sehr gering; die Frauen flechten Matten aus Palmfasern, die Männer gerben Schläuche und verfertigen Sättel. Die Behausungen, durch Reinlichkeit ausgezeichnet, bestehen aus Höhlen in den Felsen, aus kreisrunden, von Sandsteinen geschichteten Häusern und aus Stabhütten, die mit Matten gedeckt sind. Die Kleidung ist das einfache Baumwollgewand (Tobe) des Sudân; Knaben gehen bis zum zehnten Jahr nackt. Waffen sind Schwert, Spieß, Bogen und das zackige Wurfmesser (Schandermagor), wie es bei den Niam-Niam im Gebrauch ist. Da geschriebene Gesetze fehlen, beruht die gesellschaftliche Ordnung auf dem Herkommen, wozu seit Einführung des Islam der Koran kommt. Die Sultane (Derde) werden auf Lebenszeit aus der Klasse der Maina gewählt; ihre Einkünfte bestehen in einem Teil der Raubzugsbeute; ihre Machtvollkommenheit ist eine beschränkte. Eine Nation oder einen Staat bilden die T. nicht; auch da, wo, wie in Kauar und Tibesti, mehrere Ortschaften unter einem gemeinsamen Herrscher stehen, ist doch der Verband ein lockerer. Vgl. Behm, Land und Volk der Tebu (im Ergänzungsheft Nr. 8 zu "Petermanns Mitteilungen", 1862); Nachtigal, Die T. (in der "Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin", Berl. 1870); Derselbe, Sahara und Sudân, Bd. 1 (das. 1879); Rohlss, Quer durch Afrika, Bd. 1 (Leipz. 1874).

Tiber (ital. Tevere, franz. Tibre, bei den Römern Tiberis, in noch früherm Altertum Albula), der Hauptfluß des mittlern Italien, an dessen Ufern die Stadt Rom liegt, entspringt in der Provinz Arezzo, 18 km nördlich von Pieve Santo Stefano, am Hochkamm des toscanischen Apennin, fließt anfangs gegen S. und SW. durch die Provinz Perugia, wendet sich dann bei der Einmündung der Paglia scharf gegen SO. und läuft nun eine Strecke weit parallel mit der Küste des Tyrrhenischen Meers, bis er sich wieder gegen SW. dem Meer zuwendet, die Provinz Rom betritt und 38 km unterhalb Rom in zwei Armen (wovon der nördliche, der von Fiumicino, ein künstlich abgeleiteter Kanal ist) in das Tyrrhenische Meer einmündet. Das Thal des T. ist bald schluchtenartig eng und wild, bald weitet es sich zu einem lieblichen Gebirgskessel aus, überall aber ist es reich an Naturschönheiten. Auch die Thäler der Nebenflüsse haben einen wilden Charakter. Nur die untern, erweiterten Thalgründe von Rieti u. Foligno, trocken gelegte Seebecken, machen eine Ausnahme. Bei Nazzano gelangt der Fluß in die wellenförmige Campagna di Roma. Die beiden Mündungsarme, von welchen nur der nördliche (Fiumicino) schiffbar, der südliche (Fiumara) aber versandet ist, umschließen die Isola sacra ("heilige Insel"), ein mit Wald und Sumpf bedecktes Delta. Von den mehr als 40 Nebenflüssen verdienen nur die Paglia mit der Chiana rechts, der Chiascio mit Topino und Clitunno, die Nera mit dem Velino und der Teverone links Erwähnung. Die direkte Entfernung von der Quelle bis zur Mündung beträgt 233, der Stromlauf 418 km. Beim Eintritt in die Stadt Rom, welche er auf eine Länge von 4450 m durchfließt, ist der Fluß 75, weiterhin nur 52, unterhalb der Tiberinsel 103 m breit, bei einer Tiefe von 5-13 m. Berüchtigt sind die vielen Überschwemmungen in Rom und der Cam-

[Tiara.]

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Tiberias - Tiberius Claudius Nero.

pagna, welche durch rasches Schneeschmelzen und langes Regenwetter bei weitgehender Entwaldung des Flußgebiets verursacht werden. Den Lauf des Flusses zu regeln und diese Überschwemmungen zu verhüten, ist eine der schwierigsten noch ungelösten Aufgaben der italienischen Wasserbaumeister. Der T. ist von der Mündung der Nera an schiffbar, von Rom aus auch für kleine Dampfer und Segelschiffe bis zu 180 Ton. Sein Wasserstand ist auch im Sommer höher, als man erwarten sollte, und es ist anzunehmen, daß er durch unterirdische Zuflüsse aus dem Kalkgebirge genährt wird. Er ist beständig trübe und von den Thonmassen gelblichweiß gefärbt, welche er von den umbrischen Bergen und Ebenen mitführt, um sie an seiner Mündung abzulagern. Er schiebt deshalb sein Delta sehr rasch ins Tyrrhenische Meer vor und hat alle Hafenanlagen ausgefüllt und unbrauchbar gemacht; die älteste, Ostia, liegt jetzt 6½ km vom Meer. Vgl. Smith, The T. and its tributaries (Lond. 1877); Nissen, Italische Landeskunde, Bd. 1 (Berl. 1883).

Tiberias, Stadt in Palästina (Galiläa), am westlichen Gestade des Sees Genezareth, der daher auch See von T. heißt, Gründung und gewöhnliche Residenz des Herodes Antipas, der ihr dem Kaiser Tiberius zu Ehren den Namen gab, war durchaus im römisch-griechischen Geschmack erbaut, mit Amphitheater, Rennbahn etc. und daher den strenggläubigen Juden zuerst verhaßt. Nach dem Untergang des jüdischen Staats war T. Jahrhunderte hindurch Sitz einer berühmten jüdischen Akademie und Mittelpunkt der jüdischen Nation, wo Mischna und Talmud entstanden. Das Christentum fand nur langsam seit Konstantin Eingang. 637 fiel die Stadt den Arabern in die Hände. Während der Kreuzzüge galt sie als eins der wichtigsten Bollwerke der Kreuzfahrer; aber 4. Juli 1187 erlitten die Christen bei Hattin unweit T. durch Saladin eine entscheidende Niederlage, welche die Übergabe der Stadt zur Folge hatte. Jetzt Tabarieh, ein ärmlicher, schmutziger Ort mit verfallenem Kastell, dicker Stadtmauer und 3000 Einw., zur größern Hälfte Juden, deren Begräbnisplatz, ½ Stunde westlich der Stadt, die Gräber der berühmtesten Talmudisten (Maimonides, Rabbi Akiba etc.) enthält.

Tiberinus (Paton T.), der Gott des Tiberflusses, nach der römischen Sage ein alter König des Landes, der in dem seither nach ihm Tiberis genannten Fluß Albula ertrank und zum Gott wurde. Der Mythus ließ ihn die in den Tiber gestürzte Mutter des Romulus und Remus, Rea Silvia, zu seiner Gemahlin und zur Stromgöttin erheben. Sein Heiligtum war auf der Tiberinsel, wo ihm 8. Dez. geopfert wurde; besondere Spiele feierten ihm zu Ehren am 7. Juni die Fischer.

Tiberius, Name zweier oströmischer Kaiser: 1) T. Constantinus, ein Thraker, Befehlshaber der Leibwache unter Justin II., wurde von diesem 574 zum Mitkaiser erhoben und folgte ihm 578 in der Regierung. Er unterdrückte einen von Justins Gemahlin Sophia angestifteten Aufstand und führte ein kräftiges und gerechtes Regiment, er kämpfte mit Glück gegen den Perserkönig Chosru, welcher 579 den Krieg erneuerte, aber von T.' Feldherrn Justinian wiederholt besiegt und bis in die Nähe seiner Hauptstadt verfolgt wurde. T. starb schon 582.

2) T. Apsimarus, von dem gegen den Kaiser Leontios aufständischen Heer 698 zum Kaiser ausgerufen, stürzte Leontios, wurde aber 705 von dem mit bulgarischer Hilfe aus dem Exil heimkehrenden Justinian II. gestürzt und grausam hingerichtet.

Tiberius Claudius Nero, röm. Kaiser, geb. 42 v. Chr., Sohn eines gleichnamigen Vaters und der Livia Drusilla und nach deren Verheiratung mit Augustus (38) Stiefsohn des Kaisers, unterwarf mit seinem Bruder Drusus zusammen 16-15 die Rätier und Vindelizier, unterdrückte in drei Feldzügen 12-10 einen Aufstand der Pannonier und Dalmatier und machte 8 einen Einfall in das Gebiet der Sigambrer, die er schlug, und von denen er 40,000 auf das linke Rheinufer verpflanzte. Er war 12 nach dem Tode des Agrippa mit Julia, der Tochter des Augustus, verheiratet worden, und 6 wurde ihm die tribunizische Gewalt auf fünf Jahre verliehen. In demselben Jahr aber wurde er durch die Ausschweifungen der Julia und durch Eifersucht auf die bevorzugten Enkel des Augustus, Gajus und Lucius Cäsar, bewogen, sich gegen den Willen des Kaisers nach Rhodos in ein freiwilliges Exil zu begeben. Erst 2 n. Chr. kehrte er von da zurück, und nun wurde er, nachdem Gajus und Lucius Cäsar gestorben waren, 4 von Augustus adoptiert und damit zum Nachfolger auf dem Kaiserthron designiert; zugleich wurde ihm die tribunizische Gewalt auf weitere fünf Jahre (sodann 9 auf Lebenszeit) übertragen. Sonach fiel ihm, nachdem er 6-9 einen neuen, langen und schwierigen Krieg in Pannonien und Dalmatien geführt und 11 die Rheingrenze gegen die Deutschen geschützt hatte, 14 nach dem Tode des Augustus die Herrschaft von selbst zu, welche er hierauf 23 Jahre mit Klugheit und Energie und nicht ohne einen gewissen Gewinn für die Provinzen, aber mit Härte und Mißgunst gegen jedermann und mit Grausamkeit geführt hat. In den ersten Jahren seiner Regierung wurde er zu einiger Zurückhaltung durch die Rücksicht auf Germanicus, den Sohn seines Bruders Drusus, bestimmt, den er auf Anordnung des Augustus adoptiert, und der durch zwei glänzende, obwohl erfolglose Feldzüge gegen die Deutschen (15 und 16) seinen Argwohn erregt hatte. Nachdem aber Germanicus 19 gestorben und die Regierung immer mehr in die Hand des Sejanus, des Präfekten der Prätorianer, gelangt war, der diese in einem festen Lager in Rom selbst vereinigte, um durch sie einen Druck auf die Hauptstadt auszuüben, nahmen die Verfolgungen der angesehensten Männer durch die Delatoren, d. h. die Angeber, welche im Dienste des T. alle, die dessen Verdacht erweckten, anklagten und ihre Verurteilung im knechtisch gesinnten Senat bewirkten, immer mehr zu. Zwar wurde 31 Sejanus gestürzt, der, um sich selbst den Weg zur Herrschaft zu bahnen, schon 23 Drusus, den Sohn des T., durch seine Gemahlin hatte vergiften lassen, der 26 den T. bewogen hatte, sich nach Capreä (Capri) zurückzuziehen, und der die Familie des Germanicus zum großen Teil zu beseitigen gewußt hatte. Indessen diente dies nur dazu, die Zahl der Hinrichtungen zu vermehren, indem alle diejenigen, welche der Mitschuld an den Plänen des Sejanus geziehen wurden, der Grausamkeit des T. zum Opfer fielen, bis endlich T. 16. März 37, als er schon im Todeskampf lag, von Macro, dem Nachfolger des Sejanus in der Gunst des Kaisers, in den Kissen seines Lagers erstickt wurde. Vgl. Stahr, Tiberius' Leben, Regierung, Charakter (2. Aufl., Berl. 1873); L. Freytag, T. u. Tacitus (das. 1870), welche beide den T. durch Herabsetzung des Tacitus zu rechtfertigen gesucht haben; dagegen Pasch, Zur Kritik der Geschichte des Kaisers T. (Altenb. 1866), und Beulé, T. und das Haus des Augustus (deutsch von Döhler, Halle 1873); Deppe, Kriegszüge des T. in Deutschland (Bielef. 1887).

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Tibesti - Tibet.

Tibesti (auch Tu), das Land der Tibbu Reschade in der östlichen Sahara, zwischen 14-19° östl. L. v. Gr. und 19-23° nördl. Br. gelegen, wurde zuerst 1868-69 von Nachtigal erforscht. Der bewohnte Teil des Landes konzentriert sich um das Zentralgebirge, eine von NW. nach SO. streichende Kette, welche im Tarso, einem 1000 m hohen Dolomitrücken, ihren Hauptstock hat. Die höchsten Kegel desselben sind: der Tusside (2500 m), der Timi, Boto und Bodo. Am östlichen Fuß des Tarso befindet sich eine heiße Quelle. An den Seiten dieses Hauptgebirges, in den nach W. hinabgehenden Thälern sowie in dem östlich gelegenen Thal Bardai, haust die elende und arme Bevölkerung, deren Hauptsubsistenzmittel ihre Kamel-, Schaf- und Ziegenherden sind. Datteln wachsen in einigen Schluchten, Durra und Duchn wird an wenigen Orten gebaut. Auch die Jagd ist dürftig. Hauptorte sind Tao und Bardai. Vgl. Nachtigal, Sahara und Sudân, Bd. 1 (Berl. 1879).

Tibet, Zeug, s. Merino.

Tibet (Thibet, Tübet), Nebenland Chinas zwischen dem Hauptkamm des Himalaja im S. und W., dem Kuenlün und seinen östlichen Fortsetzungen im N. und den Provinzen Kansu und Setschuan im O. (s. die Karten "Zentralasien" und "China"), umfaßt 1,687,898 qkm (30,654 QM.), bildet ein großes Plateau, das, im äußersten Westen schmal, nach Osten ständig an Breite zunimmt, bis es im Meridian von Lhassa zwölf Breitengrade bedeckt, worauf es mit schwach konvergierendem Nord- und Südrand nach Osten geht. Den Süden dieses ungeheuern Gebiets nimmt das Längsthal des Indus und Sanpo ein als deutliche Grenzmark zwischen dem Himalaja und der tibetischen Massenerhebung. Die nördlich davon sich ausbreitende Hochfläche, welche sich allmählich von Westen, wo die gewaltige Bergmasse des Karakorum aufgelagert ist, nach O. senkt, hat eine mittlere Höhe von über 4000 m. Zwischen 80 und 90° östl. L. v. Gr. scheint die wellige Hochsteppe vorzuherrschen; hier führt die Straße von Kiria über den Kuenlün und ein 5000 m hohes Plateau zu den Goldfeldern von Thok Dschalung, dem höchsten (4977 m) ständig bewohnten Orte der Erde. Hier dehnt sich nun die zentrale Hochsteppe aus, ein mit zahlreichen Salzlachen und Salzseen bedecktes, abflußloses Gebiet, das für zahlreiche Scharen wilder Esel, Antilopen und Moschusschafe immer noch genügende Weideplätze zu bieten scheint. Auf weite Strecken ist das Hochland unbewohnt, nur einige tiefer gelegene Gründe gestatten den Anbau von Gerste. Den Südostteil dieser Hochsteppe erfüllt ein seenreiches Gebiet; einer der größten Seen ist der Tengri-Nor (4600 m ü. M.), einige buddhistische Klöster an seinen Ufern sind die einzigen Wohnstätten. Osttibet, das Gebiet nordöstlich von Lhassa bis zum Huangho, ist gleichfalls ein von beträchtlichen Bergmassen erfülltes Hochland, doch unterscheidet sich dasselbe von dem westlichen Plateau dadurch, daß zahlreiche nach O. und SO. strebende Flüsse (Omtschu oder Dibong, Tsatschu, Salwen, Mekhong, Murussu oder Britschu, Jatschu, die beiden letztern Quellflüsse des Jantsekiang) dasselbe durchziehen. Über die Hauptrichtung der Gebirgszüge Osttibets herrscht noch keine Klarheit; auf weite Strecken gänzlich unbewohnt, beherbergt dies Gebiet einzelne wilde Stämme, die kaum als Unterthanen der Chinesen anzusehen sind und das Eindringen von S. her ähnlich erschweren wie die tibetischen Beamten an den Grenzorten der Karawanenstraßen. Von der großen Hochebene führen 5000 m hohe Pässe über den bis 7500 m hohen, mit Schneegipfeln gekrönten Plateaurand in das Thal des Brahmaputra, das bis 88° östl. L. v. Gr. noch immer über 4000 m hoch und daher nur von Nomaden bewohnbar ist. Hier erst beginnt die Möglichkeit des Anbaues der Gerste. Im NO. liegt das mit zahllosen Seen besetzte Quellgebiet des Huangho, des Sternenmeers, westlich davon erhebt sich das Plateau zu 5400 m, dagegen senkt sich das von einem abflußlosen Salzmorast bedeckte Becken von Tschaidam bis zu 2600 m; am äußersten Nordrand des tibetischen Plateaus liegt 3300 m hoch das Becken des Kuku-Nor. Das Klima hat einen durchaus kontinentalen Charakter: die Sommer sind kurz und heiß, die Winter lang und streng (bis -25° C.). Die Trockenheit ist ungemein, der atmosphärische Niederschlag, fast nur Schneefall während des 5-7 Monate dauernden Winters, beträgt kaum 25 mm. Die beim Auftauen des Schnees mit Feuchtigkeit sich vollsaugenden Moosarten ersetzen zum Teil den Mangel an Waldungen, indem sie das gänzliche Ausdörren des Bodens verhindern. Die Pflanzenwelt ist, da die Hochebenen größtenteils höchst unfruchtbar sind, eine sehr dürftige. In den wärmern Thälern des Südwestens wird Reis gebaut, ebenso Obst und Wein; der Getreidebau deckt den Bedarf nicht. Die Steppenregionen liefern den feinsten Rhabarber. Mannigfaltig ist das Tierreich. Der Yak kommt auf den Hochsteppen in großen Herden wild vor, ebenso eine wilde Art Pferde (Equus hemionus) und ein wildes Schaf (Ovis Argali) mit großen Hörnern. Antilopen, Moschustiere, Wölfe, Schakale und Füchse bevölkern die Steppen. Vögel sind selten, Singvögel fehlen ganz. Die wertvollsten Haustiere sind: Yak, Pferd (klein), Ziege (deren Vlies die kurze, zu den feinsten Geweben taugliche, Paschm genannte Wolle liefert) und Schaf. Hunde sind bei jedem Haus, aber verwahrlost und darum eine Plage. Das Mineralreich liefert Gold, Edelsteine, Bergkristalle, Salz, Borax u. a.

Die Bevölkerung, deren Zahl auf 6 Mill. veranschlagt wird, gehört der großen Mehrzahl nach zu den eigentlichen Tibetern (Bod-dschi), einem mongolischen Volk; daneben gibt es eigentliche Mongolen (Sokpa), Türken (Hor) und Kirgisen im N., Mohammedaner, Chinesen und einige Inder in Lhassa und in den Städten. Die Tibeter bewohnen außer T. noch Bhutan, Sifan, das Quellgebiet des Huangho und die obern Stufenländer der hinterindischen Flüsse sowie im W. Ladak und Baltistan. Den Charakter des Tibeters kennzeichnen kriechende Unterwürfigkeit gegen Mächtige, Übermut gegen Niedrige. Die Ehe wird wenig heilig gehalten; unter den Reichen herrscht Polygamie, unter dem Volk Vielmännerei bei Brüdern. Gesellschaftlich gliedert sich die Bevölkerung in Geistliche und Laien; leider übt die Welt- und Klostergeistlichkeit beider Geschlechter keinen guten Einfluß auf die Sittlichkeit des Volkes aus. Doch findet wissenschaftliche Bildung in den zahlreichen Klöstern eine anerkennenswerte Pflege, so daß in dieser Hinsicht die Tibeter unter den Völkern Hochasiens einen hervorragenden Rang einnehmen. Die Hauptbeschäftigung ist Viehzucht, dann Ackerbau; die gewerbliche Thätigkeit beschränkt sich auf Anfertigung von groben Wollgeweben, Filzen und Metallarbeiten für den Hausbedarf. Der Handel mit Hochasien, Indien und China ist nicht unbedeutend; doch bereitet die chinesische Regierung dem Verkehr mit Indien aus politischem Mißtrauen die größten Schwierigkeiten. Den Verkehr mit China wie den Binnenhandel haben die Klöster und die Großen des Landes in Händen.

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Tibet (Geschichte).

Waren werden auf den Rücken von Schafen und Ziegen oder auch von Menschen verschickt, Kunststraßen fehlen, und selbst auf den Hauptverkehrswegen müssen Seilbrücken solidere Anlagen ersetzen. Der Handel ist vorwiegend Tauschhandel. Neben Thee statt Geld kursieren chinesische Kupfermünzen und indische Rupien, oft zu Klumpen zusammengeschmolzen. Religion ist der Buddhismus in der tibetischen Form. Begründer der tibetischen Lehre ist der Mönch Tsonkhapa (1358-1419), der die Menge des zu Wissenden und zu Verrichtenden in acht Gebote zusammenfaßte und unter der Geistlichkeit eine feste Hierarchie begründete, welche der Kitt der bestehenden politischen Verhältnisse wurde. Obenan steht der Dalai Lama, eine Verkörperung des Tschenresi (Padmapani), des göttlichen Stellvertreters des Buddha auf Erden; seine Residenz ist Lhassa (s. d.). Nächst diesem kommt der Pantschen Rinpotsche, der zu Taschi Lhunpo (s. d.) residiert und dort in einem kleinen Bezirk auch Hoheitsrechte ausübt. Beide Hohepriester gehen aus Wahl hervor unter Einwirkung der chinesischen Regierung (s. Dalai Lama). Unter dem Dalai Lama stehen die Klosteräbte, unter diesen die Priester (Lama), alle dem Cölibat unterworfen und in verschiedene Klassen zerfallend. Die Klöster (Gonpa) sind weitläufige Gebäude (zuweilen eine ganze, von Ringmauern umgebene Stadt) und reich mit liegenden Gründen bedacht. Durchschnittlich wird aus jeder Familie ein Sohn Lama. Die Mönche sind sehr ungebildet, dabei von lockern Sitten. Die religiösen Gebräuche unterstützen den Aberglauben; weltbekannt ist die Anwendung des Gebetrades (s. Gebetmaschine). Die Hauptfamilienakte vollziehen sich ohne Segen des Lama; aber bei jedem sonstigen Anlaß braucht man den Lama als Geisterbeschwörer, der dabei große Fertigkeit in höherer Gaukelei bekundet. Der eigentliche Gottesdienst ist durch Gepränge, Musik und Weihrauch geistverwirrend (vgl. E. Schlagintweit, Buddhism in T., Leipz. 1863). Eine zwischen 1861 und 1870 durch französische Missionäre in Bonga, südöstlich von Lhassa, eingerichtete Missionsstation wurde unterdrückt. Die Verwaltung wird im Namen des Kaisers von China von Tibetern geführt, welche ihre Bestallung von Peking aus erhalten. Der Dalai Lama widmet sich nur der Erfüllung seiner religiösen Pflichten; die Besorgung der Regierungsgeschäfte liegt einem Stellvertreter ob, der aus den Mönchen eines der Hauptklöster von Lhassa genommen wird. Oberster Rat sind 4 Minister und 16 Dezernenten für Zivil, Militärverwaltung, Gerichtswesen und Finanzen mit dem Sitz in Lhassa; unter ihnen wirken Lokalbeamte. Chinesische Beamte überwachen in Lhassa, Mandarinen in den Provinzen die Geschäfte; sie stehen unter dem Gouverneur von Setschuan, wie T. auch als Teil dieser Provinz gilt. Verwaltung wie Gerichtswesen bieten jedoch durch Bestechlichkeit ein Zerrbild gesunden Staatslebens. Für den Bestand der chinesischen Oberherrlichkeit sorgt eine Mandschutruppe von etwa 4000 Mann, die in zahlreichen kleinen Garnisonen untergebracht ist. Außerdem wird im Inland eine Miliz ausgehoben. Der jetzige Dalai Lama, der 13. dieses Titels, wurde 1879 noch im Kindesalter unter Feierlichkeiten, die drei Tage andauerten, eingesetzt.

[Geschichte.] Die tibetischen Chroniken leiten das älteste dort regierende Königsgeschlecht von jenem der Sakja ab, dem im 7. Jahrh. v. Chr. der Stifter des Buddhismus entsproß. Ein Inder, Namens Buddasri, soll ein halbes Jahrhundert v. Chr. die "kleinen Könige" in T. sich unterthan gemacht und sich zum ersten Großkönig aufgeschwungen haben. Das Reich hieß damals Jarlung ("oberes Thal") und umfaßte die Uferländer des Jarlungflusses und seiner Zuflüsse. Innere Kämpfe füllten die Zeit bis 607, da trat als großer Eroberer Namri Srongtsan auf; Begründer des Buddhismus, einer Litteratur und eines tibetischen Alphabets wurde Srongtsan Gampo (629-698), der dem Reich dabei viele neue Provinzen erwarb und zu dem chinesischen Kaiserhaus durch eine Heirat in freundschaftliche Beziehungen trat; er verlegte die Residenz nach Lhassa. Unter Kri Srongdetsan (744-786) stand T. auf der Höhe der Macht; bis an den Mustag hin, unter Türken und Mongolen, verschaffte es sich Achtung; die Himalajaländer wurden abhängig, mit China über die Grenze ein Vertrag geschlossen und dieser in eine Denksäule zu Lhassa eingeschnitten. Mächtig war noch Ralpatschan (806-842); er ließ die heiligen Schriften in zwei Sammlungen bringen (vgl. Tibetische Sprache), demütigte die äußern Feinde, darunter die Chinesen. Seine Gunstbezeigungen an den Klerus hatten eine innere Revolution zur Folge, der König wurde ermordet, dem fremden Kultus Abbruch gethan und hierdurch Osttibet in kleinere Reiche zersplittert wie auch den Chinesen geöffnet. In diesen Wirren wurde von Mitgliedern der Königsfamilie eine Seitendynastie in Westtibet gegründet, Ladak (s. d.) und die angrenzenden Provinzen zum Buddhismus bekehrt. 1206 und 1227 erhob Dschengis-Chan Tribut von T.; im 14. Jahrh. trat Tsonkhapa (s. oben) als Reformator der Lehre auf und wurde Begründer der Allgewalt der Priester. 1566 fielen die Ostmongolen in das nördliche T. ein; 1624 drang der Jesuitenpater A. Andrada als der erste christliche Missionär in das südöstliche T. vor. Eine große Umwälzung brachte dann der 1640 auf Anforderung des damaligen Dalai Lama erfolgte Zug der am Kuku-Nor lagernden Choschotmongolen. Die dem Dalai Lama ungünstigen Großen wurden vernichtet und dieser von den gläubigen Mongolen als Landesherr eingesetzt. Den Mandschu bezeigte bereits 1642 der Dalai Lama Verehrung, 1651 begab sich dieser nach Peking zum Besuch des Kaisers. Die in Kaschgar, Jarkand und Ili herrschenden Dsungaren wollten nicht dulden, daß China über die Wahl des Dalai Lama verfüge; um T. von sich abhängigen machen, zogen sie vor Lhassa, stürmten dies vergeblich, bekamen es aber 30. Nov. 1717 durch Verrat in die Hand und wüteten schrecklich. Der chinesische Kaiser Kanghi wurde nun von den Tibetern um Hilfe angegangen, seine Armee rückte in vier Haufen ein, schlug die Dsungaren in mehreren Treffen und begründete so 1720 die Oberherrschaft der heute noch herrschenden Mandschudynastie über T. Ein 1727 ausgebrochener Aufstand wurde blutig unterdrückt, und T. behielt nun Ruhe bis 1791, während welcher Zeit jedoch China manchen unbequemen Würdenträger mittels Gifts beseitigt haben soll. Die Weigerung der Tibeter, mit Nepal einen billigen Münzvertrag abzuschließen, führte zum Krieg mit diesem; China schickte Truppen und schlug 1791 das nepalische Heer. Zwischen 1837 und 1844 ließ der ehrgeizige Regent (der weltliche Stellvertreter des Dalai Lama) drei Dalai Lamas ermorden, wurde schließlich der That überführt, verbannt und die chinesische Verwaltung noch straffer angezogen. Insbesondere wurden die Großen des Landes dadurch mißgestimmt, daß der Regent nunmehr nur aus der Reihe der Priester genommen ward; die Priester hinwieder wurden darum unbotmäßig, weil seit einigen Jahrzehnten infolge der Aufstände der Taiping und

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Tibetische Sprache und Litteratur - Tic.

Dunganen (s. d.) die herkömmlichen Gaben des chinesischen Schatzes an die tibetischen Klöster ausblieben. Die Chinesen vermögen ihre Herrschaft in T. nur mit Schwierigkeiten zu behaupten. Zwischen Ende des 13. Jahrh. und 1870 erreichten Europäer 14mal T., darunter 7mal Lhassa; von Indien aus ist der Eintritt Europäern nicht gestattet, eine 1876 geplante englische Gesandtschaft mußte unterbleiben. Im Streit um Sikkim (1887/88) nahm T. gegen Britisch-Indien Partei, wurde aber von Peking aus zur Nachgiebigkeit gezwungen. Große Verdienste um die Erforschung von T. hat der Russe Prschewalskij (s. d.) ; kein andrer europäischer Reisender hat in T. so große Strecken durchmessen wie dieser Forscher. Vgl. Klaproth, Description du Thibet (Par. 1831); E. Schlagintweit, Die Könige von T. (Münch. 1866); Desgodins, Le Thibet (2. Aufl., Par. 1885); Ganzenmüller, Tibet (Stuttg. 1878); Kreitner, Im fernen Osten (Wien 1881); Prschewalskij, Reisen in T. (deutsch, Jena 1884); Feer, Le T. (Par. 1886).

Tibetische Sprache und Litteratur. Die tibetische Sprache ist eine der einsilbigen Sprachen Ostasiens und bietet die seltene Erscheinung dar, daß sie sich, obschon bereits vor mehr als 1200 Jahren zur Schrift- und Litteratursprache erhoben, infolge einer fast abgöttischen Verehrung des geschriebenen Wortes bis heute unverändert erhalten hat, während Stil und Redeformen Umgestaltungen erfuhren. Daher zeigen sich bei Vergleichung von Schrift und Laut Abweichungen in ähnlichem Maß wie im Französischen. Alphabet und Schrift (von links nach rechts) sind dem Altindischen nachgebildet; doch wird eine Druckschrift, eine Kursiv und eine Schnellschrift unterschieden. Man schneidet die Buchstaben sehr schön in Holzblöcke und druckt damit; bewegliche Lettern kennt man nicht. Der Schrift sind zusammengesetzte Konsonanten eigen, wie im Sanskrit. Das Tibetische hat 30 Konsonanten; Diphthonge fehlen. Beim Schreiben trennt man jede Silbe durch einen Punkt. Die Flexion wird meist durch Anfügung von Stammbildungsendungen (Affixen und Suffixen) ersetzt. Es gibt zwei Modi: Infinitiv und Imperativ, und drei Tempora: Präsens, Perfektum und Futurum. Das Verbum ist durchweg unpersönlich, Aktivum und Passivum werden nicht unterschieden; das handelnde Subjekt eines transitiven Zeitworts steht im Instrumental ("durch mich ist gethan"). Die Syntax kennt nur wenige feste Regeln, worunter obenan steht, daß der einfache Satz mit dem Zeitwort schließt. Grammatiken des Tibetischen verfaßten der Missionär Schröter (mit Wörterbuch, Serampur 1826), der Ungar Csoma (ebenfalls mit Wörterbuch, Kalk. 1834), J. F. Schmidt (Petersb. 1839-41), Foucaux (Par. 1858) und besonders Jäschke ("Tibetan grammar", 2. Aufl., Lond. 1883), der auch ein "Tihetan-English dictionary" (das. 1882) und ein großes "Handwörterbuch der Tibetsprache" (Gnadau 1871-75) herausgab. Die tibetische Litteratur besteht ihrem geistlichen Teil nach zumeist aus Übertragungen aus dem Sanskrit, die mit wenigen tibetischen Originalwerken zwei Hunderte von Bänden starke Sammlungen füllen, den Kandschur (s. d.) und den neuern Tandschur. Die Profanlitteratur an Erzählungen, Gedichten, Geschichtswerken ist nicht unbedeutend, aber noch wenig bekannt. An der Herausgabe und Übersetzung tibetischer Texte beteiligten sich der Ungar Csoma, die Deutschen J. F. Schmidt, A. Schiefner, H. A. Jäschke, E. Schlagintweit, die Franzosen Foucaux und Feer. Vgl. Hodgson, Essays on the languages, literature and religion of Nepal and Tibet (Lond. 1874).

Tibia (lat.), Schienbein; bei den Römern auch ein Blasinstrument mit Tonlöchern (Pfeife, Flöte).

Tibialis (lat.), das Schienbein betreffend, z. B. arteria t., Schienbeinschlagader, vena t., Schienbeinblutader, etc.

Tibullus, Albius, röm. Elegiker, um 55 v. Chr. geboren aus ursprünglich wohlhabendem Rittergeschlecht, das in den Bürgerkriegen einen großen Teil seiner Güter verloren hatte. Er begleitete 31 seinen Gönner Messala auf dem aquitanischen Feldzug. Eine Aufforderung desselben, ihn nach Asien zu begleiten, lehnte er anfangs ab, da ihn die Liebe zu Delia (eigentlich Plania), einer Libertine in Rom, zurückhielt; zwar entschloß er sich noch zur Mitreise, doch mußte er, unterwegs erkrankt, in Kerkyra zurückbleiben. Nach Rom zurückgekehrt, fand er seine Geliebte mit einem reichern Bewerber verheiratet, ein Schlag, den er nicht wieder verwunden zu haben scheint. Er starb bald nach Vergil, 19 oder 18 v. Chr. Seine Gedichte zeichnen sich durch Einfachheit, Gefühl und Anmut aus; besonders schön und innig sind die auf Delia bezüglichen im ersten der unter seinem Namen überlieferten vier Bücher. Von diesen gehören ihm indessen nur die beiden ersten vollständig an. Das ganze dritte rührt von einem wenig talentvollen Nachahmer her, der sich selbst mit dem Namen Lygdamus und als 43 v. Chr. geboren bezeichnet, und von den Gedichten des vierten Buches haben eine Anzahl poetische Liebesbriefe ein junges Mädchen, Namens Sulpicia, zur Verfasserin. Neuere Ausgaben von Voß (Heidelb. 1811), Lachmann (Berl. 1829), Dissen (Götting. 1835, 2 Bde.), Haupt (5. Aufl., Leipz. 1885), L. Müller (das. 1870), Bährens (das. 1878), Hiller (das. 1885). Übersetzungen lieferten Voß (Tübing. 1810), Teuffel (Stuttg. 1853 u. 1855), Binder (2. Aufl., Berl. 1885) , Eberz (Frankf. 1865).

Tibur, Ort in Latium, auf einem 250 m hohen Hügel am südlichen Ufer des hier prächtige Wasserfälle bildenden Anio (s. d.), östlich von Rom, war eine der ältesten und mächtigsten Städte des Latinischen Bundes, welche sich erst 335 den Römern endgültig unterwarf, aber nominell unabhängig blieb. Die Umgebung war reich an Landhäusern, unter denen namentlich die prachtvolle Villa Hadriani, südwestlich der Stadt in der Ebene, berühmt war. Jetzt Tivoli (s. d.). Vgl. L. Meyer, T. (Berl. 1883).

Tic (franz.), s. v. w. Zucken, Verziehen des Gesichts. Man unterscheidet zwei Krankheiten dieses Namens, nämlich den T. douloureux oder Fothergilischen Gesichtsschmerz (s. Gesichtsschmerz) und den T. convulsif, welcher ein Krampf im Bereich des Nervus facialis, ein mimischer Gesichtskrampf ist. Diese letztere Krankheit kommt häufig bei hysterischen und mit Eingeweidewürmern behasteten Personen vor. Auch Gemütsbewegungen und der Nachahmungstrieb werden unter den veranlassenden Ursachen des T. convulsif angeführt; in vielen Fällen ist der T. convulsif ein leichter Grad von Veitstanz. Fast immer werden nur die Muskeln Einer Gesichtshälfte vom Krampf befallen. Die Kranken machen schnell wechselnde oder andauernde Grimassen, runzeln die Stirn und die Augenbrauen, blinzeln mit den Augenlidern und schließen das Auge, zucken und schnüffeln mit den Nasenflügeln, verziehen den Mundwinkel nach oben und unten etc. Diese Grimassen treten plötzlich auf, verschwinden ebenso schnell und kehren nach kurzen Zwischenpausen wieder. Gewöhnlich ruft eine durch den Willen eingeleitete isolierte Bewegung des Gesichts krampfhafte Zusammenziehungen in andern Muskeln hervor. Anfangs ist die kranke Gesichts-

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Tichatschek - Tidemand.

hälfte oft schmerzhaft, später verlieren sich die Schmerzen. Die Behandlung ist selten erfolgreich, man empfiehlt den konstanten galvanischen Strom, Bromkalium, kräftige Ernährung; beim Vorhandensein von Würmern abtreibende Mittel. - Figürlich bedeutet T. (Tick) s. v. w. Grille, wunderliche Eigenheit.

Tichatschek, Joseph Aloys, Opernsänger (Tenor), geb. 11. Juli 1807 zu Weckelsdorf in Böhmen, ging 1827 nach Wien, um dort Medizin zu studieren, widmete sich jedoch bald darauf der Musik und fand 1830 ein Engagement als Chorist am Kärntnerthor-Theater. Infolge eifriger Kunstgesangstudien unter Leitung Cicimaras konnte er 1833 in kleinern Partien mit Erfolg auftreten und das Jahr darauf einen Ruf als erster Tenor nach Graz annehmen, wo er bis 1837 der Liebling des Publikums war. Im genannten Jahr gastierte er in Dresden und fand hier solchen Beifall, daß er alsbald an der Oper und zugleich als Sänger beim Chor der katholischen Hofkirche angestellt wurde. Hier erreichte er, angeregt namentlich durch den künstlerischen Verkehr mit der Sängerin Schröder-Devrient und Richard Wagner, nachdem dieser 1842 als Kapellmeister an die Dresdener Oper berufen war, die höchste Stufe der Meisterschaft. Besonders gaben ihm die Musikdramen des letztgenannten Meisters: "Rienzi", "Tannhäuser" und "Lohengrin", Gelegenheit, seine Fähigkeiten nicht nur als Sänger, sondern auch als geistvoll reproduzierender Künstler im hellsten Licht zu zeigen. So wirkte er, zahlreiche Gastspiele in ganz Europa abgerechnet, ununterbrochen in Dresden bis 1870, wo er in den Ruhestand trat. Er starb 18. Jan. 1886 daselbst.

Tichborne (spr. tittschborn), Sir Roger, engl. Baronet, geb. 5. Jan. 1829, wanderte 1853 auf einem französischen Schiff aus und kam wahrscheinlich bei dem Schiffbruch der Bella im April 1854 um. Seine reiche Erbschaft wurde den Verwandten, die sie in Besitz genommen hatten, 1866 von einem Fleischergesellen Orton aus Neusüdwales streitig gemacht, der sich für den verschollenen Sir Roger T. ausgab. Anerkannt von der Mutter Sir Roger Tichbornes und unterstützt von Advokaten und Agitatoren, gelang es dem Prätendenten, die öffentliche Meinung für sich zu interessieren und einen Prozeß gegen die Erben einzuleiten, für dessen Kosten seine Anhänger allmählich 60,000 Pfd. Sterl. aufbrachten. Dieser Prozeß, der das größte Aufsehen machte, zog sich infolge der zahlreichen weit hergeholten Schutz- und Belastungszeugen und der Winkelzüge der Advokaten lange hin, Orton wurde 1872 zunächst für einen Betrüger erklärt und 1874 wegen doppelten Meineids zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Obwohl bei den Gerichtsverhandlungen der T.-Prätendent sich als dem Verschollenen ganz unähnlich, überdies roh und ungebildet erwies, wurde die Agitation für ihn auch nach seiner Verurteilung noch einige Zeit sowohl in T.-Meetings und Zeitungsartikeln als auch im Parlament fortgesetzt. Als Orton aber 1884 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, war das Interesse für ihn erloschen. Vgl. "Der neue Pitaval", neue Serie, Bd. 10 (Leipz. 1875).

Tichwin, Kreisstadt im russ. Gouvernement Nowgorod, an der Tichwinka (Nebenfluß des Sjas), hat 4 Kirchen, 2 Klöster, ein weibliches Gymnasium und (1886) 6526 Einw., deren Hauptbeschäftigung im Bau von Flußbarken besteht.

Tichwinsches Kanalsystem, in Rußland, verbindet die Wolga mit der Newa. Die Fahrt geht: Newa, Ladogakanal, Sjaskanal, Sjasfluß, Tichwinka, Eglinosee, Tichwinscher Kanal, Fluß Woltschina, See Somino, Fluß Somina, Woschsee, Fluß Gorün, Tschagadoschtscha, Mologa, Wolga. Die Länge des Verbindungssystems erstreckt sich vom Fluß Gorün bis zum Sjaskanal 334 km weit, die Länge der eigentlichen Kanäle ist 16 km. Das Tichwinsche Kanalsystem durchzieht die Gouvernements St. Petersburg, Nowgorod, Jaroslaw auf einer Strecke von 903 km. Da wegen der vielen kleinen Seen und Flüsse größere Barken nicht passieren können, so werden mehr die wertvollern, aber leichtern Waren transportiert, wie Kolonialwaren, Getreide nur teilweise. Der erste Gedanke zu diesem System gehörte Peter I., doch wurde es erst 1811 eröffnet.

Ticino (spr. titscht-), Fluß und Kanton, s. Tessin.

Ticinum, antike Stadt, s. Pavia, S. 793.

Ticinus, linker Nebenfluß des Padus im cisalpinischen Gallien, der jetzige Tessin (s. d.). Am T. Niederlage der Römer unter dem Konsul P. Scipio durch die Karthager unter Hannibal 218 v. Chr.

Tick, s. Tic.

Ticket (engl.), Zettel, Stimmzettel, Billet, z. B. Railway-T., Eisenbahnfahrkarte.

Ticknor, George, Literarhistoriker, geb. 1. Aug. 1791 zu Boston, wurde im Dartmouth College erzogen und zum Juristen vorgebildet, gab aber diesen Beruf auf, ging 1815 nach Europa, wo er fünf Jahre lang in London, Göttingen, Paris, Genf, Rom, Madrid und Lissabon verweilte, und wurde nach seiner Rückkehr zum Professor der französischen und spanischen Sprache sowie der Belles-Lettres an der Harvard-Universität ernannt. Berühmt machte sich T. besonders durch sein noch heute unübertroffenes Werk "The history of Spanish literature" (New York 1849, 3 Bde.; 4. Aufl. 1872; deutsch von Julius, mit Zusätzen von Wolf, neue Ausg., Leipz. 1867, 2 Bde.), worin die Resultate 30jähriger Studien in trefflichen, durch Genauigkeit und Fülle ausgezeichneten Darstellungen verwertet sind. Außerdem schrieb T. eine Biographie Lafayettes und des Historikers Prescott (1863, neue Ausg. 1882). Er starb 26. Jan. 1871. Vgl. "The life, letters and journals of George T." (neue Ausg., Boston 1876).

Ticul, Ruinenstätte im mexikan. Staat Yucatan, 50 km südlich von Merida, beim Dorf Tekoh, mit merkwürdigen Grabstätten. Der gleichnamige Distrikt hat (1880) 23,648 Einw.

Tidemand, Adolf, norweg. Maler, geb. 14. Aug. 1814 zu Mandal in Norwegen, bildete sich zuerst auf der Kunstakademie zu Kopenhagen und seit 1837 in Düsseldorf bei Th. Hildebrandt und Schadow. Nach Vollendung des Bildes: Gustav Wasa redet in der Kirche zu Mora zu den Dalekarliern (1841) wandte er sich nach München, später nach Italien und kehrte dann nach Norwegen zurück. Hier malte er einige Bildnisse für die Universität in Christiania und machte Volksstudien in den Gebirgsthälern. Von 1846 bis 1848 lebte er wieder zu Düsseldorf, dann abermals in Norwegen und seit 1849 in der Regel im Winter in Düsseldorf, im Sommer in Norwegen. Er starb 25. Aug. 1876 in Christiania. Um T. scharte sich ein zahlreicher Kreis skandinavischer Künstler. Er wußte freundliche Anmut, elegischen Ernst, große Naturwahrheit und meisterhafte Individualisierung mit Großartigkeit der Auffassung zu vereinigen. Seine Farbe ist kräftig, frisch und von großem Schmelz, seine Pinselführung breit und markig. Frei von gesuchten Gegensätzen, machen seine Bilder den einfachen Eindruck der Natur. Er leistete im Volks- und Sittenbild sein Bestes, weniger in Altargemälden. Von seinen Werken sind hervorzuheben: Katechisation

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Tiden - Tieck.

des Küsters in einer Landkirche (1847); Nachmittagsandacht der Haugianer (1848, Kunsthalle in Düsseldorf, wiederholt); norwegisches Bauernleben, ein Cyklus von zehn Gemälden auf Zink für den Speisesaal des Schlosses Oskarshall bei Christiania (1851, als Prachtalbum in Lithographien von J. B. Sonderland mit norwegischem und deutschem Text in Düsseldorf erschienen); der verwundete Bärenjäger (1856, kaiserliche Galerie in Wien); die Austeilung des heiligen Abendmahls in einer Hütte (1860); der Zweikampf beim Hochzeitsmahl (1864); die Brautkrone der Großmutter (1865, Galerie zu Karlsruhe); die Fanatiker (1866); vier cyklische Bilder aus dem Volksleben für die Kronprinzessin von Dänemark (1870); Abschied eines Sterbenden von seiner Familie (1872); der Hochzeitszug, der einen Waldbach durchschreitet (1873), und die drei großen Altargemälde für norwegische Kirchen: die Taufe Christi (1869), die Auferstehung Christi (1871) und Christus als Einzelfigur (1874). T. hat auch häufig die Figuren auf Gemälden norwegischer Landschaftsmaler (Gude, Morten-Müller u. a.) gemalt. Vgl. L. Dietrichson, A. T. hans Liv og hans Vaerker (Christiania 1878-79, 2 Bde.), und "A. T. utvalgte Vaerker" (das. 1878, 24 Radierungen von L. H. Fischer).

Tiden, s. v. w. Gezeiten, s. Ebbe und Flut.

Tidikelt, Oase in Marokko, s. Tuat.

Tidor, eine zu den nördlichen Molukken gehörige Insel an der Westküste von Dschilolo, hat etwa 150 qkm im Umfang, mehrere Vulkane, ist fruchtbar und gut angebaut und bildet mit 8000 mohammed. Bewohnern den Mittelpunkt eines von den Niederländern abhängigen Sultanats. Die gleichnamige Hauptstadt ist die Residenz des Sultans.

Tidscharet (arab.), Handel; T.-Naziri, Handelsminister; T.-Mehkemesi, Handelstribunal zur Schlichtung der Handelsprozesse zwischen osmanischen und fremden Unterthanen.

Tieck, 1) Johann Ludwig, Dichter der romantischen Schule, geb. 31. Mai 1773 zu Berlin als der Sohn eines Sellermeisters, besuchte seit 1782 das damals unter Gedikes Leitung stehende Friedrichswerdersche Gymnasium, wo er sich eng an Wackenroder anschloß, studierte darauf in Halle, Göttingen und kurze Zeit in Erlangen Geschichte, Philologie, alte und neue Litteratur und kehrte 1794 nach Berlin zurück, wo er sofort als Schriftsteller auftrat. Es erschienen seine ersten Erzählungen und Romane: "Peter Lebrecht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten" (Berl. 1795, 2 Bde.), "William Lovell" (das. 1795-96, 3 Bde.) und "Abdallah" (das. 1796), worauf er, seinen Übergang zur eigentlichen Romantik vollziehend, die bald dramatisch-satirische, bald schlicht erzählende Bearbeitung alter Volkssagen und Märchen unternahm und unter dem Titel: "Volksmärchen von Peter Lebrecht" (das. 1797, 3 Bde.) veröffentlichte. Nachdem er sich 1798 in Hamburg mit einer Tochter des Predigers Alberti verheiratet hatte, verweilte er 1799-1800 in Jena, wo er zu den beiden Schlegel, Hardenberg (Novalis), Brentano, Fichte und Schelling in freundschaftliche Beziehungen trat, auch Goethe und Schiller kennen lernte, nahm 1801 mit Fr. v. Schlegel seinen Wohnsitz in Dresden und lebte seit 1803 teils in Berlin, teils auf dem gräflich Finkensteinschen Gut Ziebingen bei Frankfurt a. O., wohin er auch nach der Rückkehr von einer Reise nach Italien, die er 1805 zum Behuf des Studiums der im Vatikan aufbewahrten altdeutschen Handschriften unternommen hatte, zurückkehrte. Während dieses Zeitraums waren erschienen: "Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Geschmack" (Jena 1799), "Franz Sternbalds Wanderungen" (Berl. 1798), ein die altdeutsche Kunst verherrlichender Roman, an welchem auch sein Freund Wackenroder Anteil hatte, und "Romantische Dichtungen" (Jena 1799-1800, 2 Bde.) mit dem Trauerspiel "Leben und Tod der heil. Genoveva" (separat, Berl. 1820) sowie das nach einem alten Volksbuch gearbeitete Lustspiel "Kaiser Octavianus" (Iena 1804), Werke, worin sich der Autor rückhaltlos der romantischen Richtung hingegeben hatte. Daneben veröffentlichte er eine übertragung des "Don Quichotte" von Cervantes (Berl. 1799-1804, 4 Bde.), die Übersetzung einer Anzahl dem Shakespeare zugeschriebener, aber zweifelhafter Stücke unter dem Titel: "Altenglisches Theater" (das. 1811, 2 Bde.), eine Bearbeitung des "Frauendienstes" von Ulrich von Lichtenstein (Tübing. 1812) sowie eine Auswahl dramatischer Stücke von Rosenplüt, Hans Sachs, Ayrer, Gryphius und Lohenstein ("Deutsches Theater", Berl. 1817, 2 Bde.) und gab unter dem Titel: "Phantasus" (das. 1812-17, 3 Bde.; 2. Ausg., das. 1844-45, 3 Bde.) eine Sammlung früherer Märchen und Schauspiele, vermehrt mit neuen Erzählungen und dem Märchenschauspiel "Fortunat", heraus, welche die deutsche Lesewelt wieder lebhafter für T. interessierte. In der That werden Märchen und Erzählungen wie "Der getreue Eckart", "Die Elfen", "Der Pokal", "Der blonde Eckbert" etc. schon ihrer formellen Vorzüge wegen ihren dichterischen Wert lange Zeit behaupten. Das Kriegsjahr 1813 sah den Dichter in Prag; nach dem Frieden unternahm er größere Reisen nach London und Paris, hauptsächlich im Interesse eines großen Hauptwerks Über Shakespeare, das er leider nie vollendete. 1818 verließ er dauernd seine ländliche Einsamkeit und nahm seinen Wohnsitz in Dresden, wo nun die produktivste und wirkungsreichste Periode seines Dichterlebens begann. Trotz des Gegensatzes, in welchem sich Tiecks geistige Vornehmheit zur Trivialität der Dresdener Belletristik befand, gelang es ihm, hauptsächlich durch seine fast allabendlich stattfindenden dramatischen Vorlesungen, einen Kreis um sich zu sammeln, der seine Anschauungen von der Kunst als maßgebend anerkannte. Als Dramaturg des Hoftheaters gewann er namentlich in den 20er Jahren eine bedeutende Wirksamkeit, die ihm freilich durch Kabalen und Lügen der trivialen Gegenpartei mannigfach verleidet wurde. Als Dichter bediente er sich seit der Niederlassung in Dresden beinahe ausschließlich der Form der Novelle. Die Gesamtheit seiner "Novellen" (vollständige Sammlung, Berl. 1852-54, 12 Bde.) erwies sein großes Erzählertalent. In den vollendetsten gab er wahrhafte Kunstwerke, in denen eine wirklich dichterische Aufgabe mit rein poetischen Mitteln gelöst ward; mit zahlreichen andern bahnte er hingegen jener bedenklichen Gesprächsnovellistik den Weg, in welcher das epische Element ganz zurücktritt und die Erzählung nur das Vehikel für die Darlegung gewisser Meinungen und Bildungsresultate wird. Zu den bedeutendsten der erstern Gattung zählen: "Die Gemälde", "Die Reisenden", "Der Alte vom Berge", "Die Gesellschaft auf dem Lande", "Die Verlobung", "Musikalische Leiden und Freuden", "Des Lebens Überfluß" u. a. Unter den historischen haben "Der griechische Kaiser", "Der Tod des Dichters" und vor allen der großartig angelegte, leider unvollendete "Aufruhr in den Cevennen" Anspruch auf bleibende Bedeutung. In allen diesen Novellen entzückt nicht nur die einfache Anmut der Darstellungsweise, sondern auch die Man-

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Tiedemann - Tiedge.

nigfaltigkeit lebendiger und typischer Charaktere und der Tiefsinn der poetischen Idee. Auch in den prosaischern Novellen zeigte T. seine Meisterschaft des Vortrags. Sein letztes größeres Werk: "Vittoria Accorombona" (Bresl. 1840), entstand unter den Einwirkungen der neufranzösischen Romantik und hinterließ trotz der aufgewendeten Farbenpracht einen überwiegend peinlichen Eindruck. Auch Tiecks sonstige litterarische Thätigkeit war während der Dresdener Periode eine sehr ausgebreitete. 1826 übernahm er die Herausgabe und Vollendung der von A. W. v. Schlegel begonnenen Shakespeare-Übertragung und gab die hinterlassenen Schriften Heinrichs v. Kleist (Berl. 1821) heraus, denen die "Gesammelten Werke" desselben Dichters (das. 1826, 3 Bde.) folgten. "Die Insel Felsenburg" (Bresl. 1827), "Lenz' gesammelte Schriften" (Berl. 1828) sowie "Shakespeares Vorschule" (Leipz. 1823-29, 2 Bde.) etc. wurden mit Vorreden und Abhandlungen von bleibendem Wert begleitet. Aus seiner dramaturgisch-kritischen Thätigkeit erwuchsen die "Dramaturgischen Blätter (Bresl. 1826, 2 Bde.; Bd. 3, Leipz. 1852; vollständige Ausg., Leipz. 1852, 2 Tle.). 1841 wurde T. vom König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, wo er, durch Kränklichkeit zumeist an das Haus gefesselt und durch den Tod fast aller nähern Angehörigen sehr vereinsamt, ein zwar ehrenvolles und sorgenfreies, aber im ganzen sehr resigniertes Alter verlebte und 28. April 1853 starb. Seine "Kritischen Schriften" erschienen gesammelt in 2 Bänden (Leipz. 1848), "Nachgelassene Schriften" in 2 Bänden (das. 1855). "Ausgewählte Werke" Tiecks gab Welti heraus (Stuttg. 1886-88, 8 Bde.). Tiecks vielfach widerspruchsvolle Natur kann nicht bloß aus der Zwiespältigkeit seiner Bildung, in welcher sich der Rationalismus des 18. Jahrh. und die mystische Romantik fortwährend bekämpften, erklärt werden, sondern ist zumeist auch noch auf das Improvisatorische, vom zufälligen Augenblick Abhängende seiner Begabung zurückzuführen, das ihn selten zu reiner Ausgestaltung seiner geist- und lebensvollen Entwürfe gelangen ließ. Vgl. R. Köpke, Ludwig T. Erinnerungen aus dem Leben etc. (Leipz. 1855, 2 Bde.); H. v. Friesen, Ludwig T., Erinnerungen (Wien 1871, 2 Bde.); K. v. Holtei, Briefe an Ludwig T. (Bresl. 1864, 4 Bde.); Ad. Stern, Ludwig T. in Dresden (in "Zur Litteratur der Gegenwart", Leipz. 1879). - Tiecks Schwester Sophie T., geb. 1775 zu Berlin, verheiratete sich 1799 mit Aug. Ferd. Bernhardi (s. d.), von dem sie 1805 wieder geschieden wurde, lebte dann in Süddeutschland und mit ihren Brüdern, dem Dichter und dem Bildhauer, längere Zeit in Rom, später in Wien, München und Dresden. Im J. 1810 schloß sie eine zweite Ehe mit einem Esthländer, v. Knorring, dem sie in dessen Heimat folgte, und starb dort 1836. Sie hat außer Gedichten, z. B. dem Epos "Flore und Blanchefleur" (hrsg. von A. W. Schlegel, Berl. 1822), auch Schauspiele und einige Romane, wie "Evremont" (hrsg. von Ludw. T., das. 1836), geschrieben.

2) Christian Friedrich, Bildhauer, Bruder des vorigen, geb. 14. Aug. 1776 zu Berlin, hatte hier Schadow, dann in Paris David zum Lehrer und ward seit 1801 zu Weimar bei der Ausschmückung des Neuen Schlosses beschäftigt. Unter anderm modellierte er Goethes Büste, die er später auch in Marmor für die Walhalla ausführte. 1805 ging er mit seinem Bruder Ludwig nach Italien, wo er mehrere treffliche Büsten, wie die Alexanders v. Humboldt, und ein Reliefporträt Neckers für dessen Grabmal in Coppet ausführte. Von 1809 bis 1812 hielt er sich in der Schweiz und in München auf, wo er die Büsten des damaligen Kronprinzen Ludwig, Schellings, F. Jacobis und L. Tiecks fertigte. In Carrara, wo er dann längere Zeit verweilte, entstanden die Büsten Lessings, Erasmus' von Rotterdam, Hugo Grotius', Herders, Bürgers, Wallensteins u. a. 1820 wurde er Profefsor der Akademie zu Berlin, wo er die 1829 in Erz gegossenen Gruppen von Rossebändigern für den Überbau des königlichen Museums, Niobe und ihre Kinder, ein Relief lm Giebelfeld des Schauspielhauses, Ifflands Statue im Schauspielhaus, das Standbild König Friedrich Wilhelms II. für Neuruppin, eine Statue Schinkels für die Vorhalle des Museums und zahlreiche durch sorgfältige Durchführung ausgezeichnete Büsten schuf (darunter eine dritte Goethebüste 1820 gleichzeitig mit Rauch). T. starb 14. Mai 1851 in Berlin.

Tiedemann, 1) Dietrich, philosoph. Schriftsteller, geb. 3. April 1748 zu Bremervörde bei Bremen, 1776 Lehrer am Carolinum zu Kassel, 1786 Professor der Philosophie an der Universität Marburg, wo er 24. Sept. 1803 starb. Er war ein Gegner der Kantschen Philosophie und schrieb unter anderm ein "System der stoischen Philosophie" (Leipz. 1776, 3 Bde.) und in skeptischer Haltung eine Geschichte der Philosophie unter dem Titel: "Geist der spekulativen Philosophie" (Marb. 1791-96, 6 Bde,).

2) Friedrich, Mediziner, geb. 23. Aug. 1781 zu Kassel, studierte seit 1798 in Marburg, Würzburg und Paris und ward 1806 Professor der Anatomie und Zoologie zu Landshut. Seine "Anatomie des Fischherzens" (Landsh. 1809) und seine Untersuchung des Baues der Strahltiere gehörten wie die "Anatomie der kopflosen Mißgeburten" (das. 1813) und die "Anatomie der Bildungsgeschichte des Gehirns" (Nürnb. 1816) zu den bedeutendsten Leistungen jener Zeit. 1816 ging T. als Professor der Anatomie und Physiologie nach Heidelberg, wo er eine anatomische und zoologische Sammlung anlegte. 1849 zog er sich vom Lehramt zurück und lebte dann in Frankfurt und München, wo er 22. Jan. 1861 starb. Er schrieb noch. "Zoologie" (Landsh. u. Heidelb. 1808-14, 3 Bde.); "Die Verdauung nach Versuchen" (gemeinschaftlich mit Gmelin, Heidelb. 1826-27, 2 Bde.); "Physiologie des Menschen" (Bd. 1 und 3, Darmst. 1830 und 1836); "Das Hirn des Negers, mit dem des Europäers verglichen" (Heidelb. 1837); "Von den Duverneyschen und Bartholinischen Drüsen des Weibes" (das. 1840) ; "Von der Verengung und Schließung der Pulsadern in Krankheiten" (das. 1843); "Von lebenden Würmern und Insekten in den Geruchsorganen des Menschen" (Mannh. 1844); "Geschichte des Tabaks" (Frankf. 1854). Mit Reinhold und Treviranus gab er die "Zeitschrift für Physiologie" heraus, von welcher 5 Bände (Darmst. 1825-32) erschienen sind. Vgl. Bischoff, Gedächtnisrede (Münch. 1861).

Tiedge, Christoph August, Dichter, geb. 14. Dez. 1752 zu Gardelegen, übernahm 1776 eine Hauslehrerstelle zu Ellrich in der Grafschaft Hohenstein, trat von dort aus in Verkehr mit Göckingk, Gleim, der Gräfin Elisa von der Recke u. a., ging 1782, von Gleim aufgefordert, nach Halberstadt, wo er 1792 Sekretär des Domherrn v. Stedern wurde und dessen Töchter unterrichtete, und zog nach Stederns Tod mit dessen Familie in die Nähe von Quedlinburg. Nach dem Tode der Frau v. Stedern lebte er abwechselnd auf Reisen, in Halle und Berlin, begleitete 1805-1808 Frau von der Recke durch Deutschland, die Schweiz und Italien und blieb dann bei derselben als Gesellschafter und zwar seit 1819 in Dresden.

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Tiedm. - Tiefenmessung von Gewässern.

Hier starb er 8. März 1841. Tiedges Dichterruf wurde begründet durch das Lehrgedicht "Urania" (Halle 1800, 18. Aufl. 1862), welches auf Kantscher und rationalistischer Grundlage den Unsterblichkeitsglauben mit allem Feuer und aller Trivialität einer durchaus wohlmeinenden, aber mittelmäßigen Natur in leichtflüssigen Versen vortrug und daher von der Masse der Halbgebildeten mit Enthusiasmus aufgenommen ward. Unter seinen sonstigen Poesien haben die "Elegien und vermischten Gedichte" (Halle 1803) am meisten Erfolg gehabt. Tiedges "Werke" gab A. G. Eberhardt heraus (4. Aufl., Leipz. 1841, 10 Bde.). Vgl. Falkenstein, Tiedges Leben und poetischer Nachlaß (Leipz. 1841, 4 Bde.); Eberhardt, Blicke in Tiedges und Elisas Leben (Berl. 1844). Zu Ehren Tiedges erhielt eine der Unterstützung von Dichtern und Künstlern gewidmete Stiftung in Dresden den Namen Tiedge-Stiftung (1842 gegründet, Vermögen Ende 1888: 657,000 Mk.).

Tiedm., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Friedr. Tiedemann (s. d. 2).

Tiefbau, Gesamtbezeichnung für die Anlage und Unterhaltung der Schleusen, Wasser- und Gasleitungen, Straßen etc. im Gegensatz zum Hochbau (s.d.); im Bergbau Abbau mit Hilfe künstlicher Wasserhaltung; sonst jeder unter dem Stollen getriebene oder ein in der größten Tiefe unter dem Stollen stehender Bau.

Tiefbohrungen, von der preußischen Regierung seit etwa 25 Jahren unternommene Erdbohrungen zu wissenschaftlichen und technischen Zwecken. Die T. haben zur Kenntnis derjenigen geologischen Bildungen geführt, welche die Grundlage der zu Tage tretenden oder durch Straßen- und Bergbau erschlossenen Formationen bilden, sie haben über das Vorkommen und die Verbreitung abbauwürdiger Mineralien Aufschluß gegeben und manche Thatsachen, welche für die Physik der Erde von Wichtigkeit sind, geliefert. Während noch vor 30 Jahren das 548 m tiefe Bohrloch von Grenelle bei Paris und das 671 m tiefe bei Luxemburg niedergebrachte als die tiefsten galten, wurden dieselben bald übertroffen durch das Bohrloch von Neusalzwerk (Öynhausen), welches 696 m in das Erdinnere drang. Die vom preußischen Bergfiskus ausgeführten Bohrlöcher erreichten aber doppelt so große Tiefen, und das tiefste Bohrloch der Erde wurde bei Schladebach (Provinz Sachsen, unweit Kötschau) niedergestoßen. Es erreichte in 6 Jahren eine Tiefe von 1748,4 m, beginnt mit 280 mm Weite in Dammerde und endet mit 31 mm Weite im Oberdevon. Die Kosten für diese Bohrarbeit beziffern sich auf 210,000 Mk., wovon allein 100,000 Mk. auf verbrauchte Diamanten zu rechnen sind.

Tiefenfurth, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Liegnitz, Kreis Bunzlau, hat eine evang. Kirche, Fabrikation von Schlesischem Porzellan und Steingut und (1885) 882 Einw.

Tiefenhafen, Hafenort, s. Dagö.

Tiefenmessung von Gewässern (Bathometrie) wird bei geringer Tiefe mit dem Peilstab, bei größerer mit dem Tiefenlot ausgeführt. Während die Alten sich hinsichtlich des Meers mit Schätzungen von dessen Tiefe begnügten und annahmen, daß die größten Meerestiefen den höchsten Erhebungen der Gebirge entsprechen, fing man im Mittelalter an, geringere Tiefen mit der Sonde oder dem Senkblei zu messen. Die Lotleinen der Entdecker sollen nur 400 m Länge besessen haben, 1818 aber erreichte John Roß in der Baffinsbai mit einer Tiefseezange von 6 Ztr. Gewicht den Meeresboden bei 1970 m. In eine neue Phase trat die T. mit den unterseeischen Telegraphenkabeln, für welche es von großem praktischen Interesse war, die Tiefen der betreffenden Meeresteile kennen zu lernen. Die großartigsten Unternehmungen dieser Art wurden von der nordamerikanischen, besonders aber von der englischen Marine (Lightning-, Porcupine-, Challenger-Expedition) ins Werk gesetzt, denen sich die deutsche Gazelle und die nordamerikanische Tuscarora anschlossen. Die Messung größerer Tiefen erfordert besondere Apparate. Für 200-300 m genügt ein gewöhnliches Handlot, bis etwa 2000 m ein Lot von 70-80 kg, welches mittels eines 25 mm dicken Taues herabgelassen u. wieder aufgewunden wird. Für größere Tiefen versagen diese Apparate, es ist nicht mehr möglich, den Moment zu bestimmen, in welchem das Lot den Meeresboden erreicht, und indem das Tau noch beständig abrollt, gelangt man zu ganz abenteuerlichen Resultaten. Größere Sicherheit gewährte zuerst Brookes Bathometer (Fig.1), dessen sich Maury bediente. Dasselbe besteht aus einer durchbohrten Kanonenkugel A, durch welche ein Stab B mit zwei beweglichen Armen C an seinem obern Ende gesteckt ist. Die Arme sind, wenn das Instrument hängt, nach oben gerichtet und so mit der Leine a verbunden. An zwei Haken dieser Arme hängt ein Band b, welches um die Kugel herumgeht und sie trägt. Stößt der Stab nun auf den Meeresboden, so klappen die beweglichen Arme zurück, und infolgedessen gleitet das Band von den Haken, und die Kugel löst sich los. Der Stab enthält eine kleine mit Talg ausgeschmierte Höhlung und bringt daher beim Heraufziehen Grundproben mit. Zur Erlangung größerer Grundproben besitzt der Bulldogapparat ein aus zwei klaffenden und beim Aufziehen zusammenklappenden Halbkugeln gebildetes Maul; bei Fitzgeralds Apparat schaufelt ein durch eine Klappe sich verschließendes Kästchen die Bodenprobe auf, und bei dem Hydrobathometer besitzt der Stab, auf welchen das durchbohrte und später sich ablösende Gewicht geschoben wird, vier durch Ventile sich öffnende und schließende Kammern. Es sind auch Bathometer konstruiert worden, welche die erreichte Tiefe selbstthätig registrieren, das von Massey angegebene enthält z. B. ein Schaufelrad, welches beim Sinken des Instruments in Rotation gerät und dabei auf ein gewöhnliches Zählwerk wirkt. Eine sehr wesentliche Verbesserung der Bathometer rührt von Thomson her, nämlich die Anwendung eines dünnen Stahldrahts an Stelle der bisher gebräuchlichen dickern Leine, welcher im Wasser eine geringere Reibung erleidet und deshalb schneller und sicherer fungiert. In neuerer Zeit hat man sich aber bemüht, die Lotleine ganz zu vermeiden, was auch in vielen Fällen vortrefflich gelungen ist. Rousset hat ein Bathometer konstruiert (Fig. 2, S. 696), welches aus einer weiten, starkwandigen Röhre besteht, in der sich ein Uhrwerk befindet zur Registrierung der Anzahl Um-

Fig. 1. Brookes Bathometer.

696

Tieffenbrucker - Tiefsinn.

drehungen einer unter dem Apparat befindlichen mehrflügeligen Schraube. Ein großer Schwimmer am obern Ende des Rohrs treibt den Apparat im Wasser aufwärts, nachdem durch Aufstoßen auf dem Grund ein Ballastgewicht abgefallen und damit zugleich die vorher arretierte Schraube ausgelöst ist. Durch die angegebene Anzahl der Umdrehungen dieser Schraube beim Aufwärtssteigen wird dann der zurückgelegte Weg bestimmt. Auf ganz andern Prinzipien beruhen das Siemenssche Bathometer u. die Lote von Hopfgartner-Arzberger und von William Thomson. Siemens ging von dem Satz aus, daß die gesamte Gravitation der Erde, wie sie auf ihrer normalen Oberfläche gemessen wird, aus den einzelnen Anziehungen aller ihrer Teile sich zusammensetzt, und daß die Anziehung eines jeden gleichen Volumens sich direkt mit der Dichtigkeit und umgekehrt wie das Quadrat seiner Entfernung vom gemessenen Punkt ändert. Da nun die Dichtigkeit des Seewassers von der des Gesteins bedeutend abweicht, so folgt, daß eine bestimmte Tiefe des Meerwassers einen merklichen Einfluß auf die Gesamtgravitation haben wird, die an der Oberfläche des Meers gemessen wird. Das hierauf gegründete Bathometer besteht im wesentlichen aus einer senkrechten Quecksilbersäule in einer Stahlröhre, die an beiden Enden tellerartig erweitert ist. Die untere Erweiterung schließt mit einem wellig gebogenen dünnen Stahlblech, und das Gewicht des Quecksilbers wird balanciert durch die Elastizität von zwei Spiralfedern, welche auf den Mittelpunkt des Bleches aufsetzen und so lang sind wie die Quecksilbersäule. Das Instrument ist so aufgehängt, daß es stets in vertikaler Lage verharrt. Die Ablesung erfolgt durch einen elektrischen Kontakt, der zwischen dem Ende einer Mikrometerschraube und dem Mittelpunkt der elastischen Scheibe angebracht ist. Mit der Anziehungskraft ändert sich das Gewicht des Quecksilbers, und die Schwankungen des Instruments sind so bemessen, daß die durch einen Faden Tiefe hervorgebrachte Verminderung der Schwere je einem Grade der Skala entspricht. Vgl. Siemens, Der Bathometer (Berl. 1877). Das Bathometer von Hopfgartner (Fig. 3) lehrt die Meerestiefe finden durch den Druck, den die ganze über ihm ruhende Wassersäule auf Metalldosen ausübt, welcher durch Verschiebung eines Index registriert wird. In dem untern Bügel eines starken Messingrahmens R befindet sich ein Schrauben- gewinde, in welches ein Zapfen Z paßt, der in beliebiger Stellung durch eine Kontermutter M festgeklemmt werden kann. Auf diesem Zapfen befinden sich übereinander drei luftdicht verlötete Metalldosen D, welche unter sich durch massive Verbindungsstücke V vereinigt sind. Die oberste dieser Dosen trägt einen doppelten Arm A, welcher sich oben ringförmig um einen graduierten Cylinder C schließt, der an dem obern Bügel des Rahmens R festsitzt und zwar so, daß die Umgreifung des Arms um den Cylinder C auf allen Seiten etwas Spielraum hat. An demselben Cylinder ist innerhalb des fensterförmigen Armes A ein Nonius mit großer Reibung verschiebbar, der vor Benutzung des Apparats auf Null einzustellen ist. Darauf muß man den obern Teil des Armes A mit der obern Kante des Nonius genau in Kontakt bringen. Wird nun der Apparat in das Wasser versenkt, so übt dasselbe einen mit zunehmender Tiefe wachsenden Druck auf die Dosen aus, diese werden zusammengepreßt und um so mehr, je tiefer der Apparat eintaucht; dadurch aber bewegen sie den Arm A und mit ihm den Nonius nach unten, der an seiner tiefsten Stelle stehen bleibt, wenn der Druck wieder nachläßt. Man kann also aus dem zurückgelegten Weg des Nonius den belastenden Wasserdruck und aus diesem die Höhe der Wassersäule ermitteln. Selbstredend ist dieser Mechanismus durch Umgebung mit einem starken Metallcylinder vor dem leichten Zerbrechen geschützt. Bei Thomsons Apparat hat die Lotleine (Stahldraht) nur den Zweck, das Bathometer ins Meer herabzulassen und wieder heraufzuholen; gemessen wird mit der Leine nicht. Der Lotkörper, nahezu 1 m lang und 11 kg schwer, ist ein unten offenes Metallrohr, in welches ein Glasrohr eingeschoben ist, dessen innere Wandung mit chromsaurem Silber belegt ist. Mit zunehmender Tiefe wird das Seewasser mehr und mehr im Innern des Rohrs aussteigen und dadurch die rote Farbe in eine gelblichweiße verwandeln. Aus der Höhe dieses andersfarbigen Streifens kann man empirisch die gelotete Tiefe bestimmen. Ist indes das Seewasser wenig salzig, wie z. B. das der Ostsee, so wird die Bestimmung der Höhe dieses Streifens unsicher, und man läßt dann durch den erhöhten Wasserdruck eine Lösung von Eisenvitriol in die mit rotem Blutlaugensalz an den Innenwänden bestrichene Glasröhre eintreten, welche durch Bildung von Berliner Blau anzeigt, wie weit die Lösung in der Röhre gestiegen ist. Bei Tiefen von mehr als 500 m werden die Angaben dieses Apparats sehr unsicher.

Tieffenbrucker (Duiffopruggar), Kaspar, der älteste bekannte Verfertiger von Violinen, der daher für den Erfinder der Violine angesehen wird, stammte aus Tirol und ließ sich 1510 in Bologna nieder. Nach Wasielewski existieren einige unzweifelhaft echte Violinen von T. aus den Jahren 1511-19. Auf Einladung Franz' I. von Frankreich ging T. 1515 nach Paris, später siedelte er nach Lyon über, wo er gestorben ist.

Tiefländer, s. Niederungen.

Tieflot, s. Senkblei.

Tiefsinn, im Gegensatz zum Witz (s. d.) als der Fähigkeit, verborgene Ähnlichkeiten zwischen Verschiedenem, und dem Scharfsinn (s. d.) als der Fähigkeit, verborgene Verschiedenheiten des Ähnlichen zu entdecken, die Gabe, die tiefliegende innere Zusammengehörigkeit scheinbar weit voneinander getrennter und einander fern stehender Gedanken zu ergründen, daher er vor allem der Vernunft, wie der Witz der Phantasie und der Scharfsinn dem Verstand beigelegt wird. - Auch s. v. w. Melancholie (s. d.).

[Fig. 2. Roussets Bathometer.]

[Fig. 3 Hopfgartners Bathometer.]

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Tiefstes - Tier.

Tiefstes, der tiefste Teil eines Grubenbaues.

Tiefurt, Dorf im Großherzogtum Sachsen-Weimar, an der Ilm, 3 km östlich von Weimar, hat eine evang. Kirche, ein Lustschloß (einst Landsitz der Herzogin Anna Amalia) und 400 Einw.

Tiege, Hauptabfluß des großen Marienburger Werders (zwischen Weichsel und Nogat), entsteht aus zwei Flüssen mit Namen Schwente, die unterhalb Neuteich zusammenfließen und schiffbar werden. Unterhalb Tiegenhof geht der 7 km lange Weichsel-Haffkanal in die T. und in ihrem Bett bis zur Mündung ins Frische Haff; schiffbare Strecke der T. 22 km.

Tiegel, s. Schmelztiegel.

Tiegeldruckpresse findet in der Buchdruckerei in neuerer Zeit viel Verwendung zum Drucken von Accidenzarbeiten. Die Konstruktion derselben beruht im Prinzip auf der der Flachdruckmaschinen (s. Schnellpresse, S. 582).

Tiegelofen, s. Gießerei.

Tiegenhof, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Danzig, Kreis Marienburg, am Eintritt des Weichselhaffkanals in die schiffbare Tiege und an der Linie Simonsdorf-T. der Preußischen Staatsbahn, 2 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eine Zuckerfabrik, Bierbrauerei, Gerberei, Dampfmahl- und Sägemühle, Holzhandel, Schiffahrt und (1885) 2749 Einw.

Tiel, Stadt in der niederländ. Provinz Gelderland, an der Waal, in der sogen. Betuwe, an der Eisenbahn Elst-Geldermalsen, Sitz eines Bezirksgerichts, hat 2 reformierte, eine lutherische und eine römisch-kath. Kirche, ein Gymnasium, eine höhere Bürgerschule, Fabrikation von Garancin und Krapp, Essig etc., Schiffahrt, noch immer beträchtlichen Handel und (1887) 9341 Einw. T. ist Sitz eines deutschen Konsuls.

Tienschan, Gebirge, s. Thianschan.

Tientje, s. Wilhelmdor.

Tiëntsin, Traktatshafen in der chines. Provinz Petschili, am Ausfluß des Großen Kanals in den Peiho, 45 km vom Meer gelegen, mit 950,000 Einw., gilt als Eingangsthor Pekings von der Seeseite, ist Sitz verschiedener Konsuln (darunter auch eines deutschen Berufskonsuls), Standort eines von Europäern geschulten chinesischen Armeekorps und nicht bloß für den westeuropäischen Handel (der Wert der Ein- und Ausfuhr betrug 1887: 7,652,000 Taels), sondern insbesondere auch für den russisch-chinesischen Landhandel der wichtigste Stapelplatz. Die Zahl der im Hafen von T. 1888 ein- und ausgegangenen Schiffe belief sich auf 1140 mit 864,098 Ton. Die Handelsniederlassung der Europäer liegt am Nordufer des Peiho, 3 km von der chinesischen Stadt, und enthält großartige Warenmagazine und schöne Wohnhäuser. Die an der Peihomündung liegenden Takuforts wurden 23. Mai 1858 und wieder 21. Aug. 1860 von den Franzosen und Engländern erobert, worauf die Einnahme von Peking und 24. und 25. Okt. die Bestätigung der Verträge von T. vom 26. und 27. Juni 1858 (s. China, S. 20) erfolgte. Seither wurden neue Forts errichtet, ältere umgebaut, ein ausgedehntes befestigtes Lager angelegt, Kruppsche Riesenkanonen aufgestellt, zwei Minensperren vorbereitet und bei T. eine Torpedoflottille stationiert, so daß die französische Flotte 1885 einen Angriff auf T. nicht wagte, sich vielmehr auf die Blockierung der Peihomündung beschränkte. Hier wurde auch 9. Juni 1885 der Friede unterzeichnet, wodurch China seine Rechte auf Tongking an Frankreich abtrat.

Tiepolo, Giovanni Battista, italien. Maler, geb. 5. März 1692 (oder 1693) zu Venedig, Schüler von Greg. Lazzarini, bildete sich dann nach Piazzetta, zumeist aber nach P. Veronese, welcher vornehmlich das Vorbild für seine zahlreichen Wand- und Deckengemälde in Fresko wurde. Nachdem er in der Ausschmückung von Kirchen und Palästen in Venedig und auf dem benachbarten Festland eine umfangreiche Thätigkeit entfaltet, wurde er 1750 nach Würzburg berufen, wo er während dreier Jahre das erzbischöfliche Schloß (im Treppenhaus der Olymp und die vier Weltteile und im Kaisersaal das Leben Friedrich Barbarossas) mit großen Fresken schmückte. 1760 oder 1761 begab er sich an den königlichen Hof von Spanien, und auch hier entwickelte er eine äußerst fruchtbare Thätigkeit. Er starb 27. März 1769 (oder 1770) in Madrid. T. war der letzte Großmeister der venezianischen Malerei; seine Gewandtheit im Malen war erstaunlich, die Farbe hell und glänzend, die Form mannigfaltig, aber inkorrekt. Sein Vorbild P. Veronese erreichte er an Tiefe und Durchbildung nicht. Von monumentalen Malereien Tiepolos sind außer den genannten das Deckenbild in der Kirche der Scalzi (Überführung der Santa Casa nach Loreto), die Geschichte des Antonius und der Kleopatra im Palast Labia, seine glänzendste Schöpfung, die Darstellungen aus dem Alten Testament im erzbischöflichen Palast zu Udine und die Fresken im Madrider Schloß die bedeutendsten. Seine Ölgemälde zeichnen sich durch geistvolle Charakteristik und ein prächtiges, fein zusammengestimmtes Kolorit aus. Nicht minder geistvoll sind seine Radierungen. Auch seine Söhne Lorenzo und Domenico (letzterer der Gehilfe des Vaters bei dessen dekorativen Malereien) sind zumeist als geschickte Radierer bekannt. Vgl. Molmenti, Il Carpaccio e il T. (Turin 1885).

Tier, ein meist frei und willkürlich beweglicher, mit Empfindung begabter Organismus, der organischer Nahrung bedarf, Sauerstoff einatmet, unter dem Einfluß der Oxydationsvorgänge im Stoffwechsel Spannkräfte in lebendige Kräfte umsetzt und Kohlensäure nebst stickstoffhaltigen Zersetzungsprodukten ausscheidet. Während zwischen leblosen und belebten Körpern (Organismen) eine scharfe Grenze leicht zu ziehen ist, während ferner höhere Tiere und Pflanzen (z. B. Löwe und Eichbaum) als solche sofort erkannt werden, zeigen die einfachsten Organismen Eigenschaften, die eine sichere Entscheidung über die Zugehörigkeit unmöglich machen und daher auch wohl zur Aufstellung eines Zwischenreichs der Protozoen (s. d.) oder Protisten geführt haben. Alle irgendwie zweifelhafte Formen sind hiernach ausgeschlossen, und mit dieser Einschränkung ist die oben gegebene Erklärung des Wortes T. haltbar. Sie trifft auch auf den Menschen zu, den als echtes T. zu bezeichnen erst die letzten Jahrzehnte angefangen haben. Jedes für sich eine abgeschlossene Einheit darstellende T. bezeichnet man als Individuum, hat aber deren von verschiedener Ordnung. So sind bei manchen niedern Tieren, z. B. den Korallen, eine Anzahl von Einzeltieren (Personen genannt) zu einem sogen. Stock (Kolonie) vereinigt, ähnlich wie an einem Baum die Zweige. Ein solcher Tierstock ist ein Individuum höherer Ordnung. Bei jeder "Person" unterscheidet man als niedere Individuen die Organe, d. h. Körperteile, die zwar bis zu einem gewissen Grad selbständig sind, aber bestimmte Leistungen für den Gesamtorganismus zu verrichten haben. Die Organe finden sich in einfacher oder mehrfacher Anzahl vor (z. B. jede "Person" hat nur einen Darm, kann aber viele Beine besitzen) und

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Tier (Physiologisches).

zeigen im letztern Fall eine bestimmte Anordnung, je nachdem das T. strahlig, zweiseitig oder gegliedert ist. Im Körper der höhern Tiere liegen nämlich die mehrfach vorhandenen Organe in der Regel so, daß man nur durch Einen Längsschnitt zwei einander gleiche Hälften, die rechte und linke, gewinnen kann, während jeder andre Längsschnitt (also z. B. der, welcher Bauch- und Rückenteil sondern würde) ungleiche Teile ergibt. Ein solches zweiseitiges (bilateralsymmetrisches) T. besitzt also nur zwei gleiche (genauer: spiegelbildlich gleiche) Teile (Gegenstücke, Antimeren); ein strahlig gebautes, wie die meisten Quallen etc., hat dagegen einen solchen Bau, daß man durch mehrere Schnittebenen je zwei gleiche Teile gewinnen kann, und zerfällt so in mehrere Antimeren. Ist ein T. gegliedert (segmentiert), so wiederholen sich die Organe in der queren, d. h. der auf die Längsachse senkrechten, Richtung derart, daß man durch bestimmte Querschnitte eine Anzahl völlig oder annähernd gleicher Stücke (Folgestücke, Metameren) erhalten kann. So besteht z. B. ein Bandwurm oder ein Regenwurm sowohl aus zwei Antimeren als aus vielen unter sich gleichen (homonomen) Metameren, ein Insekt ebenfalls aus zwei Antimeren, aber nur wenigen, noch dazu ungleichen (heteronomen) Metameren; letztere sind entweder auch äußerlich als Segmente (Ringe, Glieder) erkennbar oder treten nur im innern Bau hervor. Man unterscheidet dann meist, aber durchaus nicht immer, einen aus verschmolzenen Segmenten bestehenden Kopf, eine Brust (Thorax, deutlich gegliedert bei Insekten, äußerlich nicht gegliedert bei Wirbeltieren) und einen Hinterleib (Abdomen; bei den Spinnen z. B. während des Eilebens noch deutlich gegliedert, später scheinbar einfach), faßt jedoch die genannten drei Teile als Stamm im Gegensatz zu den Gliedmaßen (s. unten) zusammen.

Individuen von noch niederer Ordnung als die Organe sind die Zellen, d. h. die einfachsten Einheiten, aus denen der Körper der Tiere (und auch der Pflanzen; die Protisten sind fast alle einzellig) sich aufbaut. Jedes T., auch das größte und komplizierteste, geht aus Einer Zelle, dem Ei, hervor; letzteres teilt sich im Lauf der Entwickelung in eine Anzahl Zellen, die eine Zeitlang noch gleichartig sein können, bald jedoch ungleich werden (sich differenzieren) und in der verschiedensten Weise zu Geweben zusammentreten (vgl. Zelle, Gewebe, Keimblätter), aus denen wiederum die Organe sich gestalten. Bis zu einem gewissen Grad führen die Zellen noch ein selbständiges Leben, sind jedoch, je höher ein T. steht, um so abhängiger von ihren Nachbarn; für den Gesamtorganismus haben sie, obwohl in andrer Weise als die Organe, gewisse Leistungen (Funktionen) zu verrichten. Man vergleicht so in passender Weise das T. mit einem Staat, in welchem die einzelnen Bürger durch die Zellen dargestellt sind, während als Organe bestimmte Gruppen von Bürgern (Handwerker, Soldaten etc.) bestimmte Funktionen auszuüben haben und ihre verschiedene Verteilung in den Städten und auf dem Land einigermaßen die Gewebebildung veranschaulicht. Die einzelnen Organe und Funktionen beim T. lassen sich in zwei Hauptgruppen vereinigen: sogen. pflanzliche (vegetative) und tierische (animale); erstere beziehen sich auf Ernährung und Erhaltung des Körpers, letztere auf Empfindung und Bewegung.

Bei vielen niedern Tieren besteht der ganze Körper nur aus zwei Zellschichten, einer äußern, der Hautschicht (Ektoderm), und einer innern, der Darmwandung (Entoderm). Von letzterer wird ein zur Nahrungsaufnahme und Verdauung dienender Hohlraum, der Magen oder die Darmhöhle, umschlossen, welche durch nur eine Öffnung, den Mund, mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen braucht. Auch bei sehr vielen höhern Tieren tritt während der Entwickelung im Ei ein Stadium auf, in welchem der ganze Embryo nur diese einfache Form besitzt (sogen. Gastrula). Zwischen den beiden genannten Schichten bildet sich jedoch bei weitaus den meisten Tieren eine dritte Schicht, das Zwischengewebe (Mesoderm), aus und liefert sowohl die verschiedenen Formen des Skeletts (Bindegewebe, Knorpel, Knochen) als auch die Muskeln u. a. m. Ein innerhalb dieser Schicht auftretender Hohlraum, die Leibeshöhle, veranlaßt, daß ihr äußerer Teil als sogen. Hautfaserschicht in nähere Beziehung zur Haut tritt, während der innere als sogen. Darmfaserschicht sich dem Darm eng anlegt. Die Leibeshöhle ist mit Flüssigkeit (Blut) gefüllt und enthält meist besondere, darin schwimmende Zellen, die Blutkörperchen, welche gleichfalls vom Mesoderm abstammen. Die einzelnen Organe nun verteilen sich auf die genannten Schichten in folgender Weise.

Die vegetativen Organe umfassen im weitesten Sinn die Vorgänge der Ernährung; die durch den Mund aufgenommenen Nahrungsstoffe werden verdaut, und die durch diesen Prozeß gebildeten löslichen Stoffe werden zu einer ernährenden, den Körper durchdringenden Flüssigkeit, welche in mehr oder minder bestimmten Bahnen zu sämtlichen Organen gelangt und an dieselben Bestandteile abgibt, aber auch von ihnen die unbrauchbar gewordenen Zersetzungsstoffe aufnimmt und bis zu ihrer Unschädlichmachung (s. unten) weiterführt. Die ungelösten Nahrungsbestandteile werden durch den Mund oder meist durch eine besondere Öffnung, den After, ausgestoßen. Gewöhnlich zerfällt dann die Verdauungshöhle, auch Darmkanal genannt, in drei Abschnitte: Vorder- oder Munddarm (Speiseröhre), Mittel- oder Magendarm (Magen) und Hinter- oder Afterdarm (Darm im engern Sinn). Von diesen Abschnitten gehört nur der mittlere zum Entoderm, während Vorder - und Hinterdarm Einstülpungen der Hautschicht sind und bei manchen Tieren sich auch der äußern Haut gleich verhalten. Bei einigen niedern Tieren hat jedoch der Magen keine selbständige Wandung, vielmehr wird die Nahrung aus der Speiseröhre in das weiche Körperinnere gedrückt und dort verdaut; bei den höhern Tieren gestaltet sich dagegen der Verdauungsapparat sehr kompliziert, indem Kauorgane (Kiefer mit Zähnen oder als Abschnitt der Speiseröhre ein besonderer Kaumagen) sowie Drüsen zur Absonderung verdauender Säfte (Speicheldrüsen, Leber) entstehen. Je nachdem übrigens die Nahrung rein pflanzlicher oder rein tierischer oder gemischter Natur ist, unterscheidet man Herbivoren (Phytophagen), Karnivoren (Zoophagen) und Omnivoren (Pantophagen). Die von der Darmwandung aus den Speisen aufgenommene Ernährungsflüssigkeit tritt nur durch sie hindurch in die Leibeshöhle und erfüllt als Blut (oft schon mit zelligen Elementen, den Blutkörperchen) die Lücken und Gänge zwischen den verschiedenen Organen und Geweben. Auf einer weitern Stufe umkleiden sich Abschnitte der Blutbahn mit einer besondern Muskelwandung und unterhalten als pulsierende Herzen eine rhythmische und regelmäßige Strömung des Bluts. Von dem Herzen, als dem Zentralorgan des Blutkreislaufs, aus entwickeln sich dann bestimmt umgrenzte Kanäle zu Blutgefäßen, welche bei den Wirbellosen meist noch mit wandungslosen Lücken wech-

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Tier (Entwickelungsgeschichtliches, geographische Verbreitung).

seln, bei den Wirbeltieren aber als abgeschlossenes Gefäßsystem die Leibesräume durchsetzen. In diesem System unterscheidet man vom Herzen abführende Arterien und zum Herzen zurückführende Venen, zu welchen noch das System von Chylus- oder Lymphgefäßen hinzutritt. Alle genannten Organe gehören dem Mesoderm an. Die Atmung, welche im wesentlichen in der Aufnahme von Sauerstoff und der Abgabe von Kohlensäure durch das Blut besteht, wird im einfachsten Fall durch die gesamte äußere Körperbedeckung ausgeführt; auch können innere Flächen, besonders diejenige des Darmkanals, bei diesem Gasaustausch beteiligt sein. Weiterhin aber treten, und zwar als Teile der Haut- oder der Darmschicht, besondere Atmungsorgane auf, bei der Wasseratmung äußere, möglichst flächenhaft entwickelte Anhänge (Kiemen), bei der Luftatmung Lungen oder Luftröhren (Tracheen). Die Intensität der Atmung steht in geradem Verhältnis zur Energie des Stoffwechsels. Tiere mit geringer Sauerstoffaufnahme (Kiemenatmung) verbrennen nur geringe Mengen organischer Substanz, setzen nur ein kleines Quantum von Spannkräften in lebendige Kraft um und produzieren wenig Wärme, so daß die Temperatur ihres Körpers von der der Umgebung abhängig bleibt. Dies gilt auch für kleine luftatmende Tiere, welche, wie Insekten, eine bedeutende wärmeausstrahlende Oberfläche besitzen (Kaltblüter). Die höhern Tiere mit energischem Stoffwechsel produzieren dagegen viel Wärme, sind durch ihre Körperbedeckung vor rascher Ausstrahlung derselben geschützt und erhalten sich einen Teil der erzeugten Wärme unabhängig von der Temperatur des umgebenden Mediums als konstante Eigenwärme (Warmblüter). Die von den Atmungsorganen ausgestoßene Kohlensäure zählt zu den Auswurfstoffen des Organismus; andre derartige schädliche Stoffe werden durch besondere Exkretionsorgane abgeschieden, von denen die Nieren u. nierenähnlichen Bildungen die wichtigsten sind.

Unter den animalen Verrichtungen fällt zunächst am meisten die Ortsbewegung in die Augen. Manche Protozoen gelangen ohne besondere Organe lediglich durch Zusammenziehung und Ausdehnung ihres ganzen Körpers von der Stelle, andre sind mit Wimpern, d. h. feinen, hin und her schlagenden Härchen, besetzt und bedienen sich nur dieser als Bewegungsorgane. Wo bei den eigentlichen Tieren Muskeln, d. h. kontraktile Gewebsteile, vorhanden sind, legen sich diese im einfachsten Fall dicht unter die Haut und bilden mit ihr einen sogen. Hautmuskelschlauch, dessen abwechselnde Verkürzung und Verlängerung den Körper weiterschiebt. Wenn ferner vom Körper ungegliederte oder gegliederte Anhänge (Gliedmaßen) ausgehen, so zweigen sich besondere Muskeln zu diesen hin ab und befestigen sich entweder an deren Haut oder an ein inneres, dem Mesoderm angehöriges und mehr oder minder starres Skelett. Der ursprünglich rings geschlossene Hautmuskelschlauch reduziert sich alsdann zuweilen so sehr, daß er für die Bewegung kaum noch in Betracht kommt. Die Gliedmaßen selber sind zuweilen ungegliederte, meist jedoch gegliederte, d. h. in bewegliche Abschnitte zerfallende, Anhänge des Kopfes oder Rumpfes. Je nach Bau und Thätigkeit werden sie als Fühler (Antennen), Kieser (Kauwerkzeuge), Geh- und Schwimmbeine sowie als Flügel bezeichnet und sind in den einzelnen Tiergruppen äußerst verschieden gebaut. Es kann zwar an jedem Segment eines gegliederten Tiers auch ein Paar Gliedmaßen vorhanden sein, doch ist das bei weitem nicht immer der Fall. Als Empfindungsorgane sind Nervensystem und Sinneswerkzeuge anzusehen. Ersteres ist entweder strahlig oder zweiseitig gebaut, geht aus der Hautschicht hervor, liegt jedoch meist in seinem größern Teil tiefer im Innern des Körpers an möglichst geschützter Stelle und besteht aus einem oder mehreren Zentralorganen (Ganglien, Nervenknoten) nebst den davon ausstrahlenden Nerven. Gewöhnlich unterscheidet man ein im Vorderende des Körpers befindliches, aus mehreren Ganglien verschmolzenes sogen. Gehirn (wegen seiner Lage dicht über dem Schlund auch Oberschlundganglion genannt) u. eine sich daran knüpfende Ganglienkette, die je nach ihrem Verlauf als Bauch- oder als Rückenmark bezeichnet wird. Die Eindrücke von der Außenwelt werden von den Sinnesorganen (Auge, Ohr etc.) aufgenommen und mittels der Nerven den Zentralorganen zugeführt; andre Nerven stehen mit den Muskeln in Verbindung und vermögen deren Zusammenziehung zu bewirken. Die Fortpflanzung läßt sich überall auf die Absonderung eines körperlichen Teils, welcher sich zu einem dem elterlichen Körper ähnlichen Individuum umgestaltet, zurückführen. Indessen ist die Art und Weise dieser Neubildung ungemein verschieden (Teilung, Sprossung, Keimbildung und geschlechtliche Fortpflanzung). Als Ausgangspunkt des sich entwickelnden Organismus hat man die einfache Zelle zu betrachten; der Inhalt derselben erleidet eine Reihe von Veränderungen, deren Endresultat die Anlage und Ausbildung des Embryonalleibes ist. Diese Vorgänge sind durch große Mannigfaltigkeit ausgezeichnet und schließen nicht immer die Entwickelung des Individuums ab, sondern liefern vielfach zunächst eine Larve, welche erst durch Metamorphose dem geschlechtsreifen T. ähnlich wird.

Die entwickelungsgeschichtlichen Arbeiten der neuern Zeit haben die zuerst von Cuvier aufgestellte Lehre, nach der es im Tierreich mehrere Hauptzweige oder Typen gebe, gewissermaßen allgemeine "Baupläne", nach denen die zugehörigen Tiere modelliert zu sein scheinen, im allgemeinen bestätigt. Während aber Cuvier vier Typen (Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere, Radiärtiere) annahm, ist die Zahl derselben jetzt auf sieben oder noch mehr erhöht (s. Tierreich), auch hat man die Vorstellung von der Isolierung eines jeden "Bauplans" aufgegeben, da sich Verbindungsglieder und Verknüpfungen verschiedener Typen nach mehrfachen Richtungen hin nachweisen ließen. Überhaupt ist man auf Grund der darwinistischen Prinzipien über die Inkonstanz der Art und ihre allmähliche Abänderung zur Ansicht gekommen, daß die sämtlichen Typen oder, wie sie jetzt richtiger heißen, Tierstämme gemeinsamen Ursprungs sind.

[Geographische Verbreitung.] Wie hiernach das Tierreich als ein sich allmählich entwickelndes erscheint, so liegt auch bei einem überblick über die geographische Verbreitung der Tiere auf der Erde derselbe Gedanke nahe. Danach ist die heutige Verteilung der Tiere (auch des Menschen) auf der Oberfläche unsers Planeten nicht von jeher dieselbe gewesen, sondern hat sich durch das Zusammentreffen von vielen Umständen gerade so und nicht anders gestaltet. Zu berücksichtigen sind, wenn man zu einem Verständnis derselben gelangen will, die geologischen Veränderungen (Senkungen und Hebungen von Land, so daß Halbinseln zu Inseln werden oder Inseln mit dem Festland in Verbindung treten etc.) und die paläontologischen Funde, um aus der frühern Verteilung die jetzige erklären zu können, und um in besonders klaren Fällen auch wohl Rückschlüsse auf die

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Tier - Tierdienst.

frühere Beschaffenheit der Erdrinde, auf die Anordnung von Wasser und Land u. a. m. wagen zu dürfen. Die gegenwärtige Verbreitung der Tiere bietet viele Sonderbarkeiten dar, die nur durch Zurückführung auf frühere Zustände erklärt werden; z. B. läßt sich die Ähnlichkeit der Fauna (Tierwelt) auf hohen Bergen mit derjenigen der nordischen Gegenden leicht durch die auch sonst begründete Annahme der sogen. Eiszeit begreiflich machen, deren über ganz Europa verbreitete Vertreter in der wärmern Gegenwart nur noch an den genannten kältern Orten zu finden, sonst aber ausgestorben sind. Im übrigen sind noch folgende Thatsachen bemerkenswert. Von den Wendekreisen zu den Polen hin nimmt im allgemeinen die Anzahl der Arten ab, diejenige der Individuen zu. Die sämtlichen um den Nordpol gelegenen Länder haben, was bei der Gleichmäßigkeit der Lebensbedingungen nicht auffallen kann, eine ziemlich eintönige Fauna , während weiter nach dem Äquator zu die einzelnen Kontinente in Bezug hierauf meist große Verschiedenheiten aufweisen. Doch gilt dies nur von solchen Land- und Wassertieren, deren Mittel zur aktiven oder passiven Wanderung in andere Gegenden gering sind; bei Seetieren hingegen spielen meist Entfernungen keine Rolle, während eingeschobene Länderstrecken leicht als Barrieren gegen die Verbreitung wirken (vgl. Wanderung). Bei dem Versuch einer Einteilung der Erdoberfläche nach dem allgemeinen Gepräge ihrer Land- und Süßwasserbewohner gelangt man zu 6-8 Regionen, welche aber nur einen relativen Ausdruck für natürliche große Verbreitungsbezirke geben, weil sie sich nicht auf alle Tiergruppen in gleicherweise anwenden lassen. Auch stößt man auf intermediäre Gebiete, welche Eigenschaften der benachbarten Regionen mit einzelnen Besonderheiten verbinden. Diese Regionen sind: 1) die paläarktische Region: Europa, das gemäßigte Asien und Nordafrika bis zum Atlas; 2) die nearktische Region: Grönland und Nordamerika bis Nordmexiko; 3) die äthiopische Region: Afrika südlich vom Atlas, Madagaskar und die Maskarenen mit Südarabien; 4) die indische Region: Indien südlich vom Himalaja bis Südchina und bis Borneo und Java; 5) die australische Region: Celebes und Lombok, nach Osten bis Australien, und die Südseeinseln; 6) die neotropische Region: Südamerika, die Antillen und Südmexiko. - Die vier ersten Regionen haben miteinander eine weit größere Ähnlichkeit als irgend eine derselben mit der von Australien oder Südamerika; auch hat man Neuseeland als selbständige Region unterschieden und von der palä- und nearktischen Region eine Zirkumpolarprovinz von gleichem Rang abgegrenzt; einzelne Forscher unterscheiden auch noch eine Mittelmeerprovinz. Bezüglich des relativen Reichtums der einzelnen Regionen gab Wallace folgende Tabelle:

Region Wirbeltiere Säugetiere Vögel

Familie der Region eigentüml. Gattungen der Region eigentüml. Prozentverhältnis Gattungen der Region eigentüml. Prozentverhältnis

Familien Gattungen Gattungen

Paläarktische ... 136 3 100 35 35 174 57 33

Äthiopische ..... 174 22 140 90 64 294 179 60

Indische ........ 164 12 118 55 46 340 165 48

Australische .... 141 30 72 44 61 298 189 64

Neotropische .... 168 44 130 103 79 683 575 86

Nearktische .... 122 12 74 24 32 169 52 31

Jedoch sind wegen der Unsicherheit im Begriff der Gattung und Familie die angegebenen Zahlen mit Vorsicht aufzunehmen. Die Grenzen der einzelnen Regionen sind ausgedehnte Meere, hohe Gebirgsketten oder große Sandwüsten; diese Grenzen haben aber nicht tür alle Tiere gleichen Wert, denn für einzelne Gruppen bilden sie absolute Hindernisse, während sie andern immer noch Übergänge aus einem Gebiet in das andre gestatten. Für ziemlich abgeschlossene Verbreitungsbezirke braucht man den Ausdruck Verbreitungszentren (Schöpfungszentren), indem man damit der Ansicht Raum gibt, daß dort bestimmte Artengruppen sich ausgebildet und langsam auch in andre Gebiete verbreitet haben. Vgl. Häckel, Generelle Morphologie (Berl. 1866, 2 Bde.); Gegenbaur, Grundriß der vergleichenden Anatomie (2. Aufl., Leipz. 1878); Rütimeyer, Herkunft unsrer Tierwelt (Basel 1867); Schmarda, Geographische Verbreitung der Tiere (Wien 1853); Wallace, The Geographical distribution of animals (Lond. 1876, 2 Bde.; deutsch, Dresd. 1876); Sclater, Über den gegenwärtigen Stand unsrer Kenntnisse der geographischen Zoologie (deutsch, Erlang. 1876); Semper, Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere (Leip. 1879, 2 Bde.); Marshall, Atlas der Tierverbreitung (Gotha 1888, 9 Karten).

Tier, in der Jägersprache der weibliche Hirsch.

Tierarzt, s. Veterinärwesen.

Tierbäder, animalische Bäder, s. Bad, S. 221.

Tierce (spr. tihrs oder ters), engl. Flüssigkeitsmaß, = ½ Puncheon (s. d.).

Tierchemie, s. Chemie, S. 980.

Tierçon (franz., spr. tjerssóng), Flüssigkeitsmaß auf Haïti, = 60 Gallons (s. d.).

Tierdienst (Zoolatrie), die Verehrung bestimmter nützlicher oder schädlicher Tiere bei niedriger und höher stehenden Völkern. Man muß hierbei indessen verschiedene Vorstellungskreise unterscheiden. Die niedersten Naturvölker betrachten das Tier als ein mit ihnen auf gleicher Stufe stehendes, ja oft als ein sie an Macht überragendes Wesen, dem man Verehrung bezeigen müsse, wie denn von einigen nordischen Völkern erzählt wird, daß sie den Bären um Verzeihung gebeten hätten, wenn sie ihn getötet hatten. In diesem Sinn konnten sie auch ein bestimmtes Tier zu ihrem Schutzgeist erwählen (vgl. Fetischismus und Totem), an ein Fortleben der Ahnen in Tierleibern und an eine Verwandlung von Menschen in Tiere (Werwolfssage, s. d.) glauben. Im besondern wurden wegen ihrer Kraft und Wildheit gefürchtete Tiere, wie Löwe, Wolf und Bär, oder solche, die wegen ihres unheimlichen Wesens gemieden werden, wie Molche, Eidechsen (Drachen) und Schlangen (s. Schlangendienst), häufiger zum Gegenstand einer abergläubischen Verehrung. Einem andern Vorstellungskreis, obwohl er aus dem vorigen entstanden sein mag, gehört der T. der alten Ägypter, Semiten und Inder an, welche an göttliche Inkarnationen in Tiergestalt und an eine Wanderung der menschlichen Seele durch Tierleiber glaubten (s. Seelenwanderung). Diese Völker stellten ihre Gottheiten daher in Tiergestalt oder wenigstens