Title: Meyers Konversationslexikon Band 15
Author: Various
Release Date: November 1, 2003 [EBook #10223]
Language: German
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Steril - Stern.
Steril (lat.), unfruchtbar, dürr; Sterilität, Unfruchtbarkeit; sterilisieren, unfruchtbar machen, in der Bakteriologie von entwicklungsfähigen Keimen befreien ; s. Bakterioskopische Untersuchungen.
Sterkoral (lat.), kotig.
Sterkrade, Dorf im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Kreis Ruhrort, Knotenpunkt der Linien Oberhausen-Emmerich und Ruhrort-Wanne (Emscherthalbahn) der Preußischen Staatsbahn, 41 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein großes Eisenhüttenwerk, Maschinenfabrikation, Kettenschmiederei und (1885) 7164 meist kath. Einwohner.
Sterkuliaceen, dikotyle, etwa 500 Arten umfassende, der Tropenzone eigentümliche Familie aus der Ordnung der Kolumniferen, meist Bäume, deren grüne Teile mit sternförmigen Haaren bekleidet sind. Die
Blätter sind wechselständig, meist an der Basis des Blattstiels mit abfallenden Nebenblättern versehen. Die regelmäßigen, meist zwitterigen, fünfzähligen
Blüten haben einen verwachsenblätterigen, in der Knospe klappigen Kelch, eine gedrehte, selten verkümmerte, fünfblätterige Blumenkrone, einen doppelten Staubblattkreis mit mehr oder weniger verwachsenen, zum Teil durch Spaltung vermehrten oder auch zu Staminodien verkümmerten Gliedern und einen
oberständigen, aus meist fünf Fruchtblättern gebildeten Fruchtknoten. Die Frucht ist entweder eine fünffächerige Kapsel und springt meist fachspaltig mit fünf Klappen auf, welche auf ihrer Mitte die von der Mittelsäule sich lösenden Scheidewände tragen, oder sie ist eine Steinbeere oder Beere mit 5, 3, 2 oder einem Fach, oder sie besteht aus mehreren freien, holzigen, krustigen oder häutigen Balgfrüchten, welche an der Bauchnaht aufgehen und innen häufig dicht wollig behaart sind. Die Samen haben ein fleischiges oder kein Endosperm und einen geraden oder gekrümmten Keimling mit faltigen, blattartigen oder fleischigen Kotyledonen. Die mit den Malvaceen verwandte Familie, zu welcher man auch die Bombaceen und Büttneriaceen (s. d.) rechnet, waren schon in der Tertiärzeit durch eine Anzahl von Arten aus den Gattungen Sterculia L. und Bombax L. vertreten.
Sterlett, s. Stör.
Sterling, im Mittelalter engl. Silbermünze, welche
um 1190 aufkam, jetzt englische Währung, die seit
1816 in dem in Gold ausgeprägten Sovereign ihre
Einheit findet. Ein Pfund S. in Gold wiegt gesetzlich 7,9881 g, enthält 7,3224 g fein Gold, ist 11/12 fein und hat einen Wert von 20,4295 deutschen Goldmark.
Das Pfund S. (meist geschrieben L oder l.) zerfällt
in 20 Schillinge (s.) à 12 Pence (d.). Der Ursprung des Namens S. ist von den Osterlingen (Easterlings) abzuleiten, worunter die Normannen diejenigen deutschen Stämme verstanden, die den Dänen nahe wohnten. Ein damaliger Penny Easterling wog 24 Gran, 240 machten 1 Pound Easterling (= 12 Unzen) aus, aus dem das neuere Pfund S. entstand.
Sterling, Stadt im nordamerikan. Staat Illinois, am Rock River, 170 km westlich von Chicago, hat lebhaften Handel und (1880) 5087 Einw.
Sterling, John, engl. Dichter und Schriftsteller, geb. 20. Juli 1806 zu Kaimes-Castle auf der Insel Bute, Sohn des Kapitäns Edward S. (geb. 1773, gest. 1847), eines eifrigen und angesehenen Mitarbeiters an der "Times" (genannt "the thunderer of the Times"), studierte in Glasgow und Cambridge, ging dann nach London, wo er für Zeitschriften thätig war und den Roman "Arthur Coningsby" (1833) veröffentlichte, ließ sich 1834 zum Geistlichen ordinieren und erhielt das Pfarrverweseramt zu Hurstmonceaux, das er indessen bald wieder aufgab. Er lebte nun wieder litterarischen Beschäftigungen meist
im Süden Englands und starb 18. Sept. 1844 in
Ventor auf der Insel Wight. Seine übrigen Werke sind: "Poems" (1839); "The election", ein satirisches Gedicht in 7 Büchern (1841), und das Trauer-
spiel "Stafford" (1843). Seine gesammelten Prosawerke: "Essays and tales" gab Hare (1848, 2 Bde.) heraus; aus seinem Nachlaß erschienen: "Twelve letters by John S." (1851) und "The onyx ring"
(hrsg. von Hale, Boston 1856). Seine Biographie schrieb sein Freund Carlyle (Lond. 1851).
Sterlitamak, Kreisstadt im russ. Gouvernement Ufa, am Flüßchen Sterleja, das in die Bjelaja mündet, hat 2 Kirchen, eine Moschee, bedeutende Gerbereien und (1886) 9447 Einw.
Stern, leuchtender Himmelskörper, s. Fixsterne, Planeten, Kometen; heraldische Figur, Symbol des Glücks und des Ruhms; in der Nautik (unrich-
tig) das Hinterteil des Schiffs (vgl. Heck); als kriti-
sches Zeichen, s. Asteriskos.
Stern, 1) Julius, Komponist und Dirigent, geb.
8. Aug. 1820 zu Breslau, trat schon mit zwölf Jahren als Violinspieler öffentlich auf, ward 1834 auf
der Akademie der Künste zu Berlin Rungenhagens und Bachs Schüler in der Komposition und empfing 1843 auf zwei Jahre ein Staatsstipendium, das er zunächst zu einem längern Aufenthalt in Dresden benutzte, um bei Mieksch gründliche Studien im Gesang zu machen. Von hier begab er sich nach Paris, wo er als Dirigent des Deutschen Männergesangvereins glänzende Erfolge hatte. 1847 nach Berlin
zurückgekehrt, gründete er hier seinen später berühmt gewordenen Chorgesangverein, dessen Direktion 1873
Stockhausen, 1878 M. Bruch, 1880 E. Rudorff übernahm. 1850 begründete er gemeinschaftlich mit Kullak und Marx das Konservatorium der Musik, welches er, nachdem 1855 Kullak und zwei Jahre später auch Marx ausgeschieden waren, allein übernahm und bis an seinen Tod mit ungewöhnlichem Geschick geleitet hat. Geringern Erfolg hatte seine Wirksamkeit als Orchesterdirigent 1869-71 an der Spitze der Berliner Symphoniekapelle sowie 1873-75 an der von ihm organisierten Kapelle der Reichshallen, wiewohl seine Leistungen auch auf diesem Gebiet hervorragend waren. Er starb 27. Febr. 1883. Von seinen Kompositionen haben namentlich die Lieder und Gesangunterrichtswerke vielen Beifall gefunden. Vgl. R. Stern, Erinnerungsblätter an J. S. (Leipz. 1886).
2) Adolf, Dichter und Literarhistoriker, geb. 14. Juni 1835 zu Leipzig, trat, nachdem er seine Bildung in bedrängten Jugendjahren auf selbständigem Wege gewonnen, sehr früh in die Litteratur ein, indem er
mit "Sangkönig Hiarne" (Leipz. 1853, 2. Aufl. 1857),
einer nordischen Sage, debütierte, der die Dichtungen: "Zwei Frauenbilder" (das. 1856) und "Jerusalem"
(das. 1858, 2. Aufl. 1866) folgten. Nachdem S. 1852
bis 1853 in Leipzig philosophischen und historischen Studien obgelegen, lebte er in den folgenden Iahren teils in Weimar, teils in Chemnitz und Zittau litterarischen Studien und ging 1859, nachdem er die
philosophische Doktorwürde erworben, als Lehrer der Geschichte und deutschen Litteratur nach Dresden, wo der Roman "Bis zum Abgrund" (Leipz. 1861, 2 Bde.) und das Lustspiel "Brouwer und Rubens" (das. 1861) entstanden. Im Herbst 1861 siedelte er dann zu erneuten sprachwissenschaftlichen und historischen Studien nach Jena über, ließ sich 1863 in
Schandau nieder und kehrte 1865 nach Dresden zurück, wo er 1868 zum außerordentlichen, 1869 zum
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Sterna - Sternberg.
ordentlichen Professor der Litteratur und Kulturgeschichte am Polytechnikum ernannt ward. Als Resultate dieser Jahre traten seine "Gedichte" (Leipz. 1860, 3. Aufl. 1882), die Novellen: "Am Königssee" (das. 1863) und "Historische Novellen" (das. 1866) hervor, welche einen bedeutenden Fortschritt bekundeten. Als Litterarhistoriker veröffentlichte er die Anthologie: "Fünfzig Jahre deutscher Dichtung" (Leipz. 1871, 2. Aufl. 1877); "Katechismus der allgemeinen Litteraturgeschichte" (das. 1874, 2. Aufl. 1876); "Aus dem 18. Jahrhundert", Essays (das. 1874); "Zur Litteratur der Gegenwart", Studien und Bilder (das. 1880); "Lexikon der deutschen Nationallitteratur" (das. 1882); "Geschichte der neuern Litteratur" (das. 1883-85, 7 Bde.); "Geschichte der Weltlitteratur" (Stuttg. 1887-88) sowie mehrere litterar-historische Monographien in Riehls "Historischem Taschenbuch", Arbeiten, von denen namentlich der "Geschichte der neuern Litteratur" umfassendes Wissen, Sicherheit des Urteils, Geschmack in der Darstellung und Größe der historischen Auffassung zugestanden werden. Spätere poetische Werke sind: "Das Fräulein von Augsburg", Roman (Leipz. 1867); "Neue Novellen" (das. 1875); die Tragödie "Die Deutschherren" (Dresd. 1878); die epische Dichtung "Johannes Gutenberg" (Leipz. 1873, 2. Aufl. 1889); das Novellenbuch "Ans dunklen Tagen" (das. 1879, 2. Aufl. 1880); die Romane: "Die letzten Humanisten" (3. Aufl., das. 1889), "Ohne Ideale" (das. 1881, .2 Bde.) und "Camoens" (das. 1887); "Drei venezianische Novellen" (das. 1886), Werke, welche uns S. als einen Dichter von reicher Phantasie und künstlerischer Darstellung erkennen lassen. Er schrieb noch: "Wanderbuch", Bilder und Skizzen (Leipz. 1877, 2. Aufl. 1886), "Hermann Hettner", Lebensbild (das. 1885), "Die Musik in der deutschen Dichtung" (das. 1888) und gab "W. Hauffs sämtliche Werke" (Berl. 1879, 4 Bde.), "Herders ausgewählte Schriften" (Leipz. 1881, 3 Bde.), "Chr. Gottfr. Körners gesammelte Schriften" (das. 1882) und die 22. Auflage von Vilmars "Geschichte der deutschen Nationallitteratur" mit Fortsetzung (1887, 23. Aufl. 1889) heraus. - Seine Gattin Margarete, geborne Herr, geb. 25. Nov. 1857 zu Dresden, Schülerin Liszts, ist eine namhafte, durch echt musikalische Natur und Poesie der Auffassung hervorragende Klavierspielerin.
3) Alfred, Historiker, geb. 22. Nov. 1846 zu Göttingen, studierte in Heidelberg, Göttingen und Berlin, erhielt darauf eine Anstellung im badischen Generallandesarchiv zu Karlsruhe, habilitierte sich, nachdem er 1871 eine Studienreise nach England unternommen, 1872 für Geschichte in Göttingen und wurde 1873 Professor der Geschichte in Bern, 1888 am Polytechnikum in Zürich. Er schrieb: "Über die zwölf Artikel der Bauern und einige andre Aktenstücke aus der Bewegung von 1525" (Leipz. 1868), wozu sich Ergänzungen in den "Forschungen zur deutschen Geschichte" (Bd. 12, 1872) befinden; "Milton und seine Zeit" (das. 1877-79, 2 Bde.); "Geschichte der Revolution in England" (in Onckens Geschichtswerk, Berl. 1881); "Briefe englischer Flüchtlinge in der Schweiz", herausgegeben und erläutert (Götting. 1874); "Abhandlungen und Aktenstücke zur Geschichte der preußischen Reformzeit 1807-15" (Leipz. 1885). Gemeinsam mit W. Vischer gab er den 1. Band der "Baseler Chroniken" (Leipz. 1872) heraus.
4) Daniel, Pseudonym, s. Agoult.
Sterna, Seeschwalbe.
Sternanis, Pflanzengattung, s. Illicium.
Sternapfel, s. Chrysophyllum.
Sternb., bei naturwissenschaftl. Namen Abkürzung für Kaspar Maria v. Sternberg (s. d. 1).
Sternbedeckugen, s. Bedeckung.
Sternberg, alte Landschaft im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, im O. von der Oder und im Süden von der Warthe, bildet jetzt die beiden Kreise Oststernberg (Landratsamt in Zielenzig) und Weststernberg mit der Hauptstadt Drossen. Vgl. Freier, Geschichte des Landes S. (Zielenzig 1887).
Sternberg, 1) Stadt in Mähren, an der Ferdinands-Nordbahn (Linie Olmütz-S.) und der Mährischen Grenzbahn (S.-Grulich), Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat 9 Vorstädte, eine Landes-Unterrealschule, eine Webschule, Tabaksfabrik, sehr starke Leinen- und Baumwollwarenfabrikation, Obstbau (besonders Kirschen), Handel mit diesen Erzeugnissen und (1880) 14,243 Einw. S. ist im 13. Jahrh. von Jaroslaw von Sternberg gegründet worden, der hier 1241 die Mongolen geschlagen hatte. Seit Ende des 17. Jahrh. bildet S. eine Domäne des Hauses Liechtenstein. -
2) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Frankfurt, Kreis Oststernberg, an der Linie Frankfurt-Posen der Preußischen Staatsbahn, 91 m ü. M., hat eine evang. Kirche und (1885) 1568 Einw. -
3) Stadt im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Kreis Mecklenburg, an einem See, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Forstinspektion, (1885) 2646 Einw. und ist abwechselnd mit Malchin Sitz der mecklenburgischen Stände. Nach S. benannt sind die sogen. Sternberger Kuchen, Reste der Tertiärformation innerhalb der Diluvialschichten.
Sternberg, 1) altes freiherrliches, später reichsgräfliches Geschlecht aus Franken, das in Österreich, Böhmen und Mähren begütert ist, in Böhmen seit dem 13. Jahrh. urkundlich auftaucht und 1663 von Kaiser Leopold I. in den Reichsgrafenstand erhoben ward. Die böhmische Linie teilte sich Anfang des 18. Jahrh. in eine ältere und jüngere. Jene erwarb durch Heirat 1762 die reichsunmittelbaren, in der Eifel gelegenen Herrschaften der Grafen Manderscheid mit Sitz und Stimme im westfälischen Grafenkollegium, nannte sich seitdem S.-Manderscheid und ward für den Verlust jener Besitzungen im Lüneviller Frieden mit den vormaligen Abteien Schussenried und Weißenau entschädigt, die jetzt eine Standesherrschaft unter württembergischer Oberhoheit bilden. Die Linie starb 1843 im Mannesstamm aus. Die jüngere Linie, S.-Serowitz, in Böhmen begütert, hat zum Haupte den Reichsgrafen Leopold von S., geb. 22. Dez. 1811, erbliches Mitglied des Herrenhauses des Reichsrats. Aus dieser Linie stammte auch Kaspar Maria von S., geb. 6. Jan. 1761 zu Prag, anfänglich für den geistlichen Stand bestimmt, sonders dem Studium der Kunst ergeben, 1748 im Regensburger, 1788 im Freisinger Kapitel, seit 1795 der Botanik und den Naturwissenschaften überhaupt ergeben und seit 1809 für Böhmens geistige Kultur rastlos thätig; gest. 20. Dez. 1838 zu Brzesina als Präsident des böhmischen Nationalmuseums in Prag, dem er seine sämtlichen reichen naturwissenschaftlichen Sammlungen, darunter eine nach geognostische Zeitperioden geordnete Petrefaktensammlung, vermachte. Man verdankt ihm die ersten tüchtigen Arbeiten über gewisse Gruppen vorweltlicher Pflanzen; sein Hauptwerk ist der "Versuch einer geognostisch-botanischen Darstellung der Flora der Vorwelt" (Prag 1820-32, 2 Bde. mit 160 Tafeln). Auch lieferte S. eine Monographie über die Saxifrageen und mehrere Arbeiten über die böhmische Flora etc. Seinen Briefwechfel mit Goethe aus den Jahren 1820-32 gab Bratranek
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Sternberger Kuchen - Sternkarten.
(Leipz. 1866) heraus. Vgl. Palacky, Leben des Grafen Kaspar S. (Prag 1868).
2) Alexander von, Schriftsteller, s. Ungern-Sternberg.
Sternberger Kuchen, s. Tertiärformation.
Sternbilder (Konstellationen), Gruppen von Fixsternen zu leichterer Übersicht und Bezeichnung, wurden schon von den alten Ägyptern aufgestellt und mit zum Teil noch jetzt gültigen Namen belegt; die Griechen führten viele mythologische Bezeichnungen ein. Nähere Angaben sowie ein Verzeichnis der S. enthält das Textblatt der Karte "Fixsterne".
Sternblume, s. Aster und Narcissus.
Sterndeutekunst, s. Astrologie.
Sterndienst (Sternanbetung), s. Sabäismus.
Sterndolde, s. Astrantia.
Sterne, 1) (spr. stern) Lawrence, berühmter engl. Humorist, geb. 24. Nov. 1713 zu Clonmel in Irland, widmete sich zu Cambridge theologischen Studien und wurde 1720 Pfarrer in Sutton, siedelte 1760 nach London über, bereiste dann Frankreich und Italien und starb 18. März 1768 in London. Sein Hauptwerk ist : "The life and opinions of Tristram Shandy" (Lond. 1759-67, 9 Bde., oft aufgelegt; deutsch von Gelbke, Hildburgh. 1869), von dem die beiden ersten Bände ihn bereits auf den Gipfel der Popularität erhoben. Die Neuheit und Seltsamkeit seines Stils erregte allgemeines Aufsehen; er wurde der verzogene Liebling der feinen Gesellschaft Londons. "Tristram Shandy" ist eine Erzählung, die aus einer Reihe von Skizzen besteht und teils unter der Maske des Yorick (S. selbst), eines Geistlichen und Humoristen, teils unter derjenigen des phantastischen Tristram vorgetragen wird. Das Ganze ist, ähnlich wie bei unserm Jean Paul, mit wunderlicher Gelehrsamkeit verquickt und mehr ein buntes Durcheinander als ein planvolles Kunstwerk. Viel lesbarer als "Tristram Shandy" ist Sternes "Sentimental journey through France and Italy" (Lond. 1768 u. öfter; deutsch von Böttger, Berl. 1856; von Eitner, Hildburgh. 1868) geblieben. Der geistvolle, scharf beobachtende, tief empfindende Reisende, hinter dessen leicht hingeworfenen Liebesabenteuern man übrigens kaum einen Geistlichen vermutet, ist eins der frischesten und unvergänglichsten Charakterbilder des 18. Jahrh. Außer den genannten Schriften erschienen von S. mehrere Bände "Sermons" (1760 ff.), die nicht minder den Humoristen verraten, sowie nach seinem Tod "Letters to his most intimate friends" (1775, 3 Bde.) und sein Briefwechsel mit Elisa (Elizabeth Draper), einer indischen Lady, zu der er eine Zeitlang in einem Liebesverhältnis stand (1775). Von den vielen Gesamtausgaben der Sterneschen Werke ist die neueste, mit Sternes Selbstbiographie, von Browne besorgt (1884, 2 Bde.). Vgl. Ferriax, Illustrations of S. (Lond. 1798); Traill, L. S. (das. 1882); Fitzgerald, Life of L. S. (das. 1864, 2 Bde.), worin auch Sternes merkwürdiges Schicksal nach dem Tod mitgeteilt ist, indem sein Leichnam von den Wiederauferstehungsmännern nach Cambridge auf die Anatomie verkauft wurde.
2) Carus, Pseudonym, s. Krause 5).
Sterneichuugen, das von William Herschel angewandte Verfahren, um die Verteilung der Sterne im Weltraum zu ermitteln: ein Fernrohr wird nach und nach auf verschiedene Punkte des Himmels eingestellt und die Zahl der gleichzeitig im Gesichtsfeld erscheinenden Sterne abgezählt, worauf aus mehreren benachbarten Zählungen unter Berücksichtigung der Größe des Gesichtsfeldes ein Schluß auf die Dichte der Sterne an der betreffenden Stelle des Himmels gemacht werden kann. Herschel kam 1785 auf dieses Verfahren und durchmusterte nach demselben mit seinem 20füßigen Spiegelteleskop, dessen Gesichtsfeld ungefähr 1/833000 des ganzen Himmels betrug, die Zone vom 45.° nördl. bis 15.° südl. Deklination, in welcher er 3400 Felder abzählte.
Sterngewölbe, s. Gewölbe, S. 312 (mit Abbild.).
Sterngucker, s. Dummkoller.
Sternhaufen, s. Fixsterne, S. 322, und Nebel (Nebelflecke).
Sternhaufen, s. Stör.
Sternjahr, s. Jahr.
Sternkammer (lat. Camera stellata, engl. Star Chamber), engl. Gerichtshof, von König Heinrich VII. eingesetzt, welcher, aus dem Lord-Kanzler und aus königlichen Räten bestehend, über Staats- und Majestätsverbrechen urteilte und unter den letzten Stuarts durch Härte und Willkür sich sehr verhaßt machte. Sterne zierten die Decke des Sitzungssaals, daher der Name. Sie ward 1641 aufgehoben (s. Großbritannien, S. 797).
Sternkarten, Darstellung der Himmelskugel mit den Sternen auf einer ebenen Fläche, gewöhnlich in stereographischer oder zentraler Projektton (vgl. Landkarten). Die älteste bemerkenswerte Sammlung von S. ist Bayers "Uranometria" (Augsb. 1603), 51 Blätter nebst einem Katalog von 1706 Sternen; gleichfalls aus dem 17. Jahrh. ist Schillers "Coelum stellatum christianum" (das. 1627) in 55 Blättern, worin an die Stelle der alten Sternbilder die Apostel, Propheten und Heiligen gesetzt waren, sowie Hevels "Firmamentum Sobiescianum" (Danz. 1690), 54 Blätter mit 1900 Sternen. Verdrängt wurden diese Atlanten durch Flamsteeds "Atlas coelestis britannicus" (Lond. 1729, 28 Bl.; kleinere Ausg. von Fortin, Par. 1776, und neu aufgelegt 1796), welcher 2919 Sterne enthält und von Bode in Berlin 1782 verbessert in 34 Blättern herausgegeben wurde. 1782 erschien Bodes "Représentation des astres" (Stralsund), auf 34 Blättern gegen 5000 Sterne enthaltend, worauf seine 20 großen Himmelskarten in der "Uranographia" (Berl. 1802; 2. Aufl., das. 1819) mit 17,240 Sternen folgten. Diese ältern Karten, auf denen überdies die ausführliche Zeichnung der Sternbilder sehr störend wirkt, konnten dem Bedürfnis der Astronomen nicht mehr genügen, seitdem man das Kreismikrometer zur Beobachtung der Kometen anwandte; es kam jetzt darauf an, möglichst viel Sterne, auch schwächere, in der Karte zu haben. Hardings "Atlas novus coelestis" (Götting. 1822; neue Ausg., Halle 1856), der auf 27 Tafeln 120,000 Sterne enthält, war in dieser Hinsicht epochemachend. Aus späterer Zeit sind zu nennen: Argelanders "Neue Uranometrie" (Berl. 1843), welche ein getreues Bild des gestirnten Himmels gibt, wie er sich im mittlern Europa dem bloßen Auge darstellt; dessen "Atlas des nördlichen gestirnten Himmels" (Bonn 1857-63, 40 Karten) und Schwincks "Mappa coelestis" (Leipz. 1843), welche in 5 Blättern den nördlichen gestirnten Himmel bis zu 30° südl. Deklination darstellt. Eine bis dahin unbekannte Ausführlichkeit zeigen die "Akademischen S.", welche auf Bessels Anregung und auf Kosten der Berliner Akademie der Wissenschaften 1830-59 von Argelander, Bremiker, Harding, Göbel, Hussey, Inghirami, d'Arrest, Boguslawski, Fellecker, Hencke, Knorre, Morstadt, Bluffen, Steinheil und Wolfers veröffentlicht worden sind und alle Sterne zwischen 15° nördlicher und südl. Deklination bis herab zur neunten und teilweise bis zur zehnten Größe enthalten. Diese
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Sternkataloge - Sternschnuppen.
Karten haben bei der ersten Aufsuchung des Planeten Neptun und bei der Entdeckung der Planetoiden wesentliche Dienste geleistet. Für derartige Zwecke genügt es aber, alle Fixsterne in der Nähe der Ekliptik genau zu verzeichnen, da jeder Planet zweimal bei seinem Umlauf die Ekliptik schneidet; dies gab den Anlaß zur Entwerfung der "Ekliptischen Atlanten" von Hind und Chacornac, welcher letztere von der Pariser Sternwarte vollendet wird und die Sterne bis herab zur 13. Größe und bis auf 2 1/2° Abstand von der Ekliptik auf mehr als 72 Karten darstellen wird. Für Laien sind geeignet: Littrow, Atlas des gestirnten Himmels (3. Aufl., Stuttg. 1866); Dieu, Atlas celeste (Par. 1865); Proctor, A star atlas showing all the stars visible to the naked eye and 1500 objects of interest in 12 circular maps (Lond. 1870); Heis, Neuer Himmelsatlas (Köln 1872), welcher auf 12 Karten alle im mittlern Europa am Himmel sichtbaren Objekte darstellt und namentlich auch durch sehr genaue Zeichnung der Milchstraße sich auszeichnet; etwas Ähnliches leistet für den südlichen Himmel Gould, Uranometria Argentina (1879), und für beide Hemisphären Houzeau, Uranométrie générale (Brüssel 1878); Klein, Sternatlas (Köln 1887); Schurig, Himmelsatlas (Leipz. 1886); Messer, Sternatlas für Himmelsbeobachtungen (Petersb. 1888).
Sternkataloge, Verzeichnisse der Örter von Fixsternen für einen bestimmten Zeitpunkt mit Angabe derjenigen Größen, welche notwendig sind, um die Örter zu andern Zeiten zu berechnen. Der älteste, von Hipparch entworfene enthielt 1080 Sternpositionen für das Jahr 128 v. Chr.; ihm ist wahrscheinlich der im "Almagest" des Ptolemäos enthaltene mit 1025 Sternen nachgebildet. Aus dem Mittelalter sind zu nennen die S. des Abd al Rahmân al Sûfi (903-986): "Description des étoiles fixes, composée au milieu du X. siècle de notre ère par l'astronome persan Abd al Rahmân al Sûfi, par Schjellerup" (Petersb. 1874) und der des Herrschers von Samarkand, Ulugh Beigh, mit 1019 Sternpositionen für 1437: "Ulugh Beigh, tabulae astronomicae, ed. Th. Hyde" (Oxf. 1665) und das Sammelwerk von Baily: "The catalogues of Ptolemy, Ulugh Beigh. Tycho Brahe, Halley, Hevelius" (Lond. 1843). Im christlichen Abendland entwarf zuerst Tycho Brahe (1600) ein Verzeichnis von 777 Sternen, sodann (1660) Hevel eins von 1564 Sternen. Leider konnte der letztere sich nicht zum Gebrauch des Fernrohrs bei seinen Beobachtungen entschließen, weshalb auch sein Katalog rasch verdrängt wurde durch den von Flamsteed in der "Historia coelestis britannica" (Lond. 1712; 2. Ausg. von Halley, 1725) veröffentlichten, welcher 2866 Sterne zählt. Lalandes "Histoire celeste" (Par. 1801) enthält die Örter von 47,390 Sternen, die später von Baily mit Hilfe der von Schumacher gegebenen Reduktionstafeln auf die Epoche 1800 reduziert wurden (Lond. 1847), und Piazzi veröffentlichte (1803) ein Verzeichnis von 6748 Sternen, welche Zahl in der spätern Ausgabe ("Praecipuarum stellarum inerrantium positiones mediae ineuntesaeculo XIX., ed. altera", Pal. 1814) auf 7646 vermehrt ist. Epochemachend sind Bessels "Fundamentaastronomiae" (Königsb. 1818), welche auf den Beobachtungen Bradleys fußen; daran reiht sich Argelanders "Bonner Durchmusterung" ("Bonner Beobachtungen", Bd. 3-5, 1859-62), welche 324,198 am nördlichen Himmel bis zu 2° südl. Br. sichtbare Sterne aufzählt (von Schönfeld bis 10° südl. Br. fortgesetzt). Ferner sind zu nennen: Baily, "The catalogue of stars of the British Association" (Lond. 1845, 8377 Sternpositionen für 1850); von Airy eine Reihe von Katalogen nach Greenwicher Beobachtungen von 1836-41 (das. 1843), 1836-47 (das. 1849), 1848-53 (das. 1856), 1854-60 (das. 1862), 1861-67 (das. 1868); von Groombridge "Catalogue of circumpolar stars"; Weißes "Positiones mediae stellarum tixarum in zonis Regiomontanis a Besselio observatarum" (Petersb. 1846 u. 1863, gegen 70,000 Sterne); Argelanders "Zonenbeobachtungen" (geordnet von W. Öltzen, Wien 1851, 1852, 1857); Lamonts in den Annalen der Münchener Sternwarte erschienene Verzeichnisse von Sternen zwischen 15° nördlicher und südlicher Deklination (34,634 Sterne, darunter an 12,000 zum erstenmal bestimmte); das Verzeichnis von Sternen in der Nähe der Ekliptik, die Cooper und Graham zu Markree Castle in Irland beobachteten, u. a. Von der südlichen Halbkugel hat zuerst Halley einen Sternkatalog geliefert, ferner im vorigen Jahrhundert Lacaille ("Coelum australe stelliferum", Par. 1763; neue engl. Ausg., Lond. 1847); in unserm Jahrhundert haben Henderson, Fallows, Brisbane, Maclear u. a. solche S. geliefert, der neueste ist Ellerys "Melbourne catalogue". Kataloge von Doppelsternen haben hauptsächlich W. Herschel, W. Struve und I. Herschel geliefert; den des letztern (mit 10,300 Doppel- und vielfachen Sternen) haben Main und Pritchard im 40. Bande der "Memoiren der Londoner Astronomischen Gesellschaft" (Lond. 1874) veröffentlicht. Kataloge der veränderlichen Sterne haben Schönfeld (1866 u. 1874), Dreyer (1888) und Chandler (1889) geliefert.
Sternkegel, s. Globus, S. 436.
Sternkrant, s. Stellaria.
Sternkreuzorden, österreich. Frauenorden, 18. Sept. 1668 von der Kaiserin Eleonore, zur Erinnerung an ein verlornes und wiedergefundenes Reliquienkreuz, für adlige Damen zur Förderung der Andacht zum heiligen Kreuz, des tugendhaften Lebens und wohlthätiger Handlungen gestiftet. Die Zahl der Damen ist unbeschränkt, alter Adel unbedingt erforderlich. Die Ernennungen gehen von der Großmeisterin des Ordens, "der höchsten Ordensschutzfrau", immer einer österreichischen Erzherzogin, aus. Die Dekoration, welche viermal geändert wurde, besteht jetzt in einem kaiserlichen Adler, auf welchem ein achteckiges rotes Kreuz auf einem blauen liegt; das Ganze ist medaillonartig gefaßt, und an dem obern Rand zieht sich ein weiß emailliertes Band mit der Devise: "Salus et gloria" hin. Das Band ist schwarz. Ordensfesttage sind der 3. Mai und 14. September.
Sternkunde, s. Astronomie.
Sternmiere, s. Stellaria.
Sternocleidomastoideus (Musculus s.), Kopfnickermuskel.
Sternsaphir, s. Korund.
Sternschanze, Schanze mit sternförmigem Grundriß.
Sternschnuppen, Lichtpunkte, die in heitern Nächten plötzlich am Himmel aufleuchten, rasch eine meist scheinbar geradlinige, mehr oder minder ausgedehnte Bahn beschreiben und dann erlöschen, öfters einen leuchtenden Schweif hinterlassend. Größere derartige Erscheinungen nennt man Feuerkugeln (s. d.). Während man sie früher für entzündete, von der Erde aufgestiegene Gase hielt, hat sich seit Chladni die Überzeugung Bahn gebrochen, daß diese Erscheinungen herrühren von Körpern, die aus dem Weltraum zu uns kommen und in den obern Schichten unsrer Atmosphäre zum Leuchten erhitzt werden. Die
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Sternschnuppen.
Helligkeit der S. ist sehr verschieden, im Mittel gleich derjenigen von Fixsternen 4. Größe. Die Farbe ist meist weiß, ins Gelbe oder Blaue spielend. Nach Schmidt steht dieselbe im Zusammenhang mit der mittlern Dauer der sichtbaren Bewegung; er findet dieselbe nämlich für weiße S. 0,75 Sekunden (886 Beobachtungen), für gelbe 0,98 Sek. (400 Beob.), für rote 1,63 Sek. (188 Beob.) und für grüne 1,97 Sek. (125 Beob.). Beim Erlöschen mancher S. beobachtet man, wie bei den Feuerkugeln, Funkensprühen, auch bisweilen ein erneutes Aufleuchten. Der leuchtende Schweif, den viele hinterlassen, dauert häufig mehrere Minuten lang. Diese Schweife zeigen oft merkwürdige Formverändernngen, namentlich sieht man bei teleskopischer Beobachtung in den ersten Sekunden starke wellenförmige Krümmungen; auch haben sie nach Heis eine seitliche Bewegung. Das Spektrum der S. hat Konkoly kontinuierlich von vorherrschend gelber oder grüner Farbe, je nach der Färbung der S., gefunden; Indigo wurde selten, Rot nur bei roten S., Violett nie beobachtet. Im Spektrum des Schweifs wurde bei gelben S. Natrium, bei grünen Magnesium, bei roten Strontium gefunden ; bei einem 156 Sekunden nachleuchtenden Schweif einer Sternschnuppe, welche die Venus an Helligkeit übertraf, zeigten sich außer den Natrium- und Magnesiumlinien noch helle Banden in Grün und Blau. Coulvier-Gravier hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der S., die ein Beobachter stündlich zählt, im allgemeinen im Lauf der Nacht von den Abendstunden an zunimmt, und Schiaparelli hat dies dadurch erklärt, daß ein Beobachter um so mehr S. sehen werde, je höher über dem Horizont der Punkt des Himmels steht, nach welchem hin die Bewegung der Erde gerichtet ist. Dieser Punkt, der sogen. Apex, ist aber um einen Vierteltreis nach W. von der Sonne aus ; er hat also seinen höchsten Stand um Sonnenaufgang. Nach Schmidt fällt die größte stündliche Zahl auf die Stunde von früh 2 1/2-3 1/2 Uhr. Die stündliche Häufigkeit der S. ist auch nicht das ganze Jahr hindurch gleich; nach Schmidt fällt der kleinste Wert auf den Februar, der größte auf den August, wenn man absieht von den gleich zu erwähnenden großen Novemberströmen. Durch außerordentliche Häufigkeit der S. sind nämlich die Nächte um den 12. Nov. ausgezeichnet; insonderheit beobachtete man 12. Nov. 1799, 1833, 1866 und 1867 förmliche Sternschnuppenregen. Es erreicht dieses Phänomen, wie H. A. Newton bis 902 zurück dargethan hat, alle 33 Jahre seinen Höhepunkt. Weniger dicht, aber gleichmäßiger wiederkehrend sind die Sternschnuppenregen in den Nächten um den 10. Aug. (Laurentiustag). deren schon in altenglischen Kirchenkalendern unter dem Namen der "feurigen Thränen des heil. Laurentius" gedacht wird. Außerdem sind auch die Nächte des 18.-20. April, 26.-30. Juni, 9.-12. Dez. u. a. durch größere Häufigkeit der S. ausgezeichnet. Bei den Sternschnuppenfällen in diesen Nächten bewegt sich die Mehrzahl der S. in parallelen Bahnen; sie scheinen von einem und demselben Punkte des Himmels ausgestreut zu werden, wie es sein muß, wenn diese Körper in größern Schwärmen Bahnen um die Sonne beschreiben. Dieser Ausstreuungspunkt oder Radiant liegt für die Novembersternschnuppen im Sternbild des Löwen (10 Stund. Rektaszension und 23° nördl. Deklination) , für die Laurentius-S. im Perseus (2,9 Stund. Rektaszension und 56° nördl. Deklination), weshalb man jene auch Leoniden, diese Perseiden nennt. Doch gibt es in diesen Nächten nicht bloß einen, sondern immer mehrere Radianten, so beim Novemberphänomen nach Heis 5; derselbe Beobachter hat am nördlichen Himmel über 80 Radianten bestimmt. Im allgemeinen unterscheidet man die in bestimmten Nächten in größerer Häufigkeit fallenden S. als periodische von den sporadischen, die unregelmäßig aus den verschiedensten Gegenden des Himmels kommen. Die Höhe, in welcher die S. aufleuchten und verlöschen, läßt sich aus korrespondierenden Beobachtungen von verschiedenen Punkten aus ermitteln. Sie ist sehr verschieden; so fand Heis beim Augustphänomen 1867 Höhen zwischen 20 1/2 und 4 geogr. Meilen (im Mittel 13 1/2 Meilen) für das Aufblitzen, solche zwischen 11 1/2 und 3 Meilen (im Mittel 7 1/2) für das Verlöschen; doch sind auch noch größere Höhen bis zu 40 Meilen und darüber beobachtet worden. Die Geschwindigkeiten, mit welchen sich die S. bewegen, sind solche, wie wir sie nur bei selbständig um die Sonne laufenden Weltkörpern antreffen, 3 und mehr, selbst 10-20 Meilen in der Sekunde. Die kosmische Natur dieser Erscheinungen ist namentlich seit dem bereits erwähnen glänzenden Sternschnuppenfall im November 1866 außer Zweifel gestellt; derselbe hat uns auch noch weitere Aufschlüsse über dieselben gegeben. Schon früher hat man einen Zusammenhang zwischen den Sternschnuppenschwärmen und den Kometen geahnt, und namentlich hat Chladni bereits 1819 sich für einen solchen ausgesprochen. Aber erst 1866 wurde es durch Schiaparelli fast außer Zweifel gesetzt, daß manche Kometen, wenn auch nicht alle, zu den Erscheinungen der periodischen Sternschnuppenfälle beitragen. Insbesondere glaubte Schiaparelli aus der großen Ähnlichkeit der Bahn des August- oder Laurentiusstroms mit derjenigen des Kometen III des Jahrs 1862 auf eine Identität beider Erscheinungen schließen zu müssen. Diese Meinung fand rasch eine Bestätigung durch die von Leverrier ausgeführte Berechnung der Bahn des großen Novemberschwarms von 1866. Es machte nämlich sehr bald Peters in Altona auf die auffallende Übereinstimmung dieser Bahn mit derjenigen des Tempelschen Kometen I von 1866 aufmerksam. Seitdem hat die Idee, daß die periodisch erscheinenden Sternschnuppenschwärme Teile von Kometen seien, die, durch die Anziehung der Erde aus ihrer Bahn abgelenkt, durch die obern Regionen unsrer Atmosphäre schießen und hier infolge ihrer raschen Bewegung durch die Luft ins Glühen geraten, immer mehr Anklang gefunden. Insbesondere führt man auch die glänzenden Sternschnuppenregen vom 27. Nov. 1872 und 1885 auf kleine kosmische Körper zurück, die der zerfallende Bielasche Komet längs seiner Bahn ausgestreut hat. Während aus den größern Feuerkugeln nicht selten Meteorsteine zur Erde niederfallen, ist bei den S. bis jetzt noch nichts Ähnliches nachgewiesen. Ob die eisenhaltigen Staubmassen, welche Nordenskjöld auf den Schneeflächen Skandinaviens, Gaston Tissandier in Paris und Umgegend gesammelt und untersucht haben, wirklich von den Schweifen der S. und Feuerkugeln herrühren, wie letzterer glaubt, ist noch zweifelhaft. Die gallertigen, frischem Eiweiß oder Stärkekleister ähnlichen, oft tellergroßen Massen, die man hin und wieder am Boden findet, und welche die Volksmeinung in Europa und Nordamerika als Sternschnuppensubstanz bezeichnet, sind nach Cohn aufgequollene Frosch-Eileiter, welche wahrscheinlich von Nachtvögeln ausgeleert werden. Vgl. Schiaparelli, Entwurf einer astronomischen Theorie der S. (deutsch, Stett. 1871); Boguslawski, Die S. und ihre Beziehungen zu den Kometen (Berl 1874).
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Sternschnuppengallerte - Sternwarte.
Steruschnuppengallerte, s. Nostoc.
Sterusingen, der in der Weihnachtszeit bis zum Dreikönigsabend ehedem weit und breit übliche Brauch, mit einem an einer Stange befestigten goldpapiernen Stern herumzuziehen und Weihnachts- oder Dreikönigslieder zu singen, um dafür eine Gabe zu erhalten. Bald sind es Erwachsene, bald Kinder, welche, meist als die drei Könige aus dem Morgenland verkleidet, von Haus zu Haus ziehen, um ihre Lieder vorzutragen und den Stern oder statt dessen auch einen Kasten mit Puppen zu zeigen.
Sterustein, s. Korund.
Sterntag, s. Tag.
Sterntypen, s. Fixsterne, S. 325.
Sternum (lat.), Brustbein.
Sternutatio (lat.), das Niesen (s. d.).
Stern von Indien, großbrit. Orden, gestiftet 26. Juni 1861 von der Königin Viktoria für das indische Reich. Der Orden besteht aus dem Souverän, dem Großmeister, welcher der Vizekönig von Indien ist, und 246 ordentlichen Genossen sowie einer unbegrenzten Zahl Ehrenmitglieder. Die Genossen teilen sich in drei Klassen: Großkommandeure (30), Kommandeure (72) und Genossen (144). Die Dekoration besteht in einer Kette aus Lotus, Palmzweigen und roten und weißen Rosen, in der Mitte die königliche Krone, an welcher das Ordenszeichen hängt, ein kameenartig in Onyx geschnittenes Brustbild der Königin in einem durchbrochenen Oval, mit der Devise: "Heaven's light our guide", überragt von einem Stern aus Diamanten. Der Ordensstern besteht in einem Mittelschild mit Diamantstern, von welchem Goldstrahlen ausgehen, und der auf einem blau und weiß geränderten Band ruht, welches die Devise in Diamanten zeigt.
Stern von Rumänien, fürstlich rumän. Zivil- und Militärverdienstorden, gestiftet 10. Mai 1877 vom Fürsten Karl I. Der Orden hat fünf Klassen: Großkreuze, Großoffiziere, Kommandeure, Offiziere und Ritter, deren Zahl festgestellt ist. Die Dekoration besteht in einem blau emaillierten Kreuz, das, mit Strahlen verziert, die goldene Fürstenkrone trägt. Militärverdienst wird durch gekreuzte Schwerter gekennzeichnet. Der Mittelschild des Kreuzes zeigt in rotem Email vorn einen Adler mit der Devise: "In fide salus" in grünem Randreif, hinten die fürstliche Chiffer. Die Ritter tragen das Kreuz in Silber, die andern von Gold; die Großkreuze und Großoffiziere außerdem einen diamantierten Silberstern mit darauf liegendem Kreuz. Das Band ist rot mit dunkel-blauen Randstreifen.
Sternwarte (Observatorium, hierzu Taf. "Sternwarte"), ein zu astronomischen Beobachtungen und Messungen bestimmtes Gebäude. Während man früher die Sternwarten der bessern Umsicht halber gern auf Türmen einrichtete, hat man, namentlich im vorigen Jahrhundert, eingesehen, daß so hohe Gebäude einen für Erschütterungen sehr empfindlichen und infolge der ungleichen Erwärmung durch die Sonne sehr schwankenden Standort gewähren, weshalb sich auf ihnen genaue, der gegenwärtigen Vollendung der Instrumente und der Ausbildung der Beobachtungskunst entsprechende Beobachtungen gar nicht ausführen lassen. Man baut daher die Sternwarten heutzutage niedrig und stellt die größern Instrumente auf steinerne Pfeiler, die mit den übrigen Fundamenten außer Zusammenhang stehen. Im Meridian, auch im ersten Vertikal (s. d.), müssen Einschnitte für das Passageinstrument vorhanden sein. Ferner baut man für die größern Äquatoriale Türme mit drehbarem Dach, die Beobachtungen nach den verschiedensten Richtungen gestatten; auch sorgt man für eine Terrasse od. dgl. zu Beobachtungen im Freien. Die ganzen Baulichkeiten, mit den Wohnräumen für das Personal, sollen an einem ruhigen, nicht zu nahe an frequenten Straßen gelegenen Platz, nicht im Innern größerer Städte, gelegen sein; die freie Umsicht am Horizont ist nicht nötig, wenn nur in größerer Höhe der Himmel frei ist, denn Beobachtungen dicht am Horizont sind wenig zuverlässig. Zur Ausstattung einer S. gehören: Meridiankreis, Mittagsrohr, Äquatorial, Vertikalkreis, Heliometer, kleinere Fernrohre, gute Uhren, elektrische Registrierapparate und meteorologische Instrumente, zunächst zur Reduktion der astronomischen Beobachtungen. Neuerdings sind aber viele Sternwarten auch zugleich meteorologische Beobachtungsstationen. Die erste nach neuern Grundsätzen erbaute S. ist die von Greenwich, 1672 errichtet; die noch ältere, 1664-72 erbaute Pariser S. ist den Ansprüchen der Gegenwart nicht mehr ganz entsprechend. Ein großartiges Institut ist die 1833-39 auf dem Pulkowaberg bei Petersburg errichtete Nikolai-Zentralsternwarte. Auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen eine Anzahl sehr gut eingerichteter Sternwarten, unter denen namentlich die Marinesternwarte in Washington sich durch ihre Leistungen hervorgethan hat und das Lick-Observatorium auf dem 1400 m hohen Mount Hamilton in Kalifornien durch seine Lage und Ausstattung außerordentlich begünstigt ist. Ebenso sind in Südamerika, Südafrika, Ostindien und Australien einzelne Sternwarten thätig. Die Gesamtzahl aller Observatorien übersteigt jetzt 200, während sie Ende des vorigen Jahrhunderts nur 130 betrug. Auf dem Kontinent von Europa sind die meisten Sternwarten Staatsanstalten, in Großbritannien aber haben sich viele Privatsternwarten durch ihre Leistungen einen Namen erworben. Als Beispiel einer allen Anforderungen der Neuzeit, sowohl für die Zwecke des Unterrichts als der wissenschaftlichen Forschung, entsprechenden S. dient uns die auf beifolgender Tafel dargestellte neue S. zu Straßburg (die Beschreibung derselben siehe auf der Textbeilage zur Tafel, wo sich auch eine Übersicht der bedeutendsten Sternwarten befindet). Seitdem in den letzten Jahrzehnten Physik und Chemie insbesondere in der Photographie und Spektralanalyse neue Hilfsmittel dargeboten haben, welche den Untersuchungen über die physische Beschaffenheit der Himmelskörper einen früher ungeahnten Grad von Genauigkeit und Zuverlässigkeit verleihen, bilden derartige, ehemals nur einzelnen Liebhabern überlassene Forschungen eine wesentliche Aufgabe des Astronomen von Fach. Indessen sind die ältern Sternwarten neben ihren sonstigen, vorzugsweise auf Erforschung der Bewegung der Himmelskörper gerichteten Arbeiten nur unvollkommen im stande, sich dieser Aufgabe zu widmen; denn dieselbe stellt nicht nur an die Ausbildung und Arbeitskraft der Beobachter Forderungen besonderer Art, sondern sie verlangt auch bedeutende instrumentelle Hilfsmittel und macht physikalische und chemische Arbeiten nötig, für welche die ältern Sternwarten nicht eingerichtet sind. So wie man daher früher einzelne Sternwarten speziell zur Beobachtung der Erscheinungen auf der Sonne eingerichtet hat, so ist man in der neuesten Zeit an die Errichtung von Observatorien gegangen, welche der Pflege der verschiedensten Zweige der Astrophysik dienen sollen, so in Frankreich das Observatorium zu Meudon und in Deutschland das astrophysikalische Observatorium auf dem Telegraphenberg bei Potsdam, das 1879 seiner Bestimmung übergeben wurde.
STERNWARTE DER KAISER WILHELMS-UNIVERSITÄT ZU STRASSBURG.
Grosser Refraktorbau. (Ansicht.)
Grosser Refraktorbau. (Durchschnitt von A nach B.)
Grosser Refraktorbau.
a. Grosser Refraktor,
b. Raum für konstante Temperatur,
c. Halle.
d. Boden.
e. Gang.
f. Hörsaal.
g. Keller.
h. Vestibül.
i. Bibliothek
k. Direktionszimmer
Gemeinschaftliches Observatoriengebäude.
a. Treppenhaus.
b. Rechenzimmer.
c. Treppengang zum Instrument
d. Instrumente.
e. Eingang zum Meridiansaal.
f. Passageninstrument.
g. Meridiankreis.
Beamtenwohnhaus.
Situationsplan der Sternwarte
Gemeinschaftliches Observatoriengebäude. (Meridianbau.) (Durchschnitt von A nach B.)
Turm des Altazimuth
Turm des Bahnsuchers.
[Zu Artikel und Tafel Sternwarte.]
Die Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg.
Die im Sommer 1881 ihrer Bestimmung übergebene Sternwarte der Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg besteht aus drei Gebäuden, von denen das eine Wohnungen, die andern beiden die zur Aufstellung der Instrumente nötigen Räume enthalten. Der Refraktorbau für das Hauptinstrument der Sternwarte (s. Tafel) ist ein von einer mächtigen Kuppel gekrönter Turm, der sich 24 m über den Boden erhebt. Die Mitte des aus Sandstein aufgeführten Unterbaues, dessen Querschnitt die Form eines gleicharmigen Kreuzes zeigt, nimmt eine Halle ein, um welche sich eine Anzahl verschiedenen Zwecken dienender Räume gruppieren. Die diese Halle einschließenden sehr starken Mauerpfeiler tragen ein mehrfaches Gewölbe, auf welchem die den großen Refraktor tragende Säule ruht. Dieses Gewölbe ist von der obern, die Kuppel tragenden Umfassungswand des Turms und von dem Fußboden des Kuppelraums isoliert, so daß sich Erschütterungen dieser Teile nicht direkt auf das Instrument übertragen können; es umschließt einen Hohlraum, der im Innern des ganzen Mauerwerks zu allen Tages- und Jahreszeiten sehr nahe dieselbe Temperatur behält, und in welchem daher die Normaluhren des Observatoriums ihre Aufstellung gefunden haben. Ein zweiter Raum mit konstanter Temperatur ist noch inmitten des Kellergeschosses gelegen. Die halbkugelförmige Kuppel des Turms (vgl. den Durchschnitt auf der Tafel) von 11 m Durchmesser ist aus eisernen Bogenträgern konstruiert, die eine außen mit Zink verkleidete Holzverschalung tragen, und an der Innenfläche zum Schutz gegen die sich hier leicht ansetzende Feuchtigkeit mit Tuch ausgeschlagen. Ein Spalt von 2 m Breite, vom Horizont durch den Scheitel bis wieder zum Horizont gehend, ermöglicht den Ausblick auf den Himmel; bei ungünstigem Wetter wird derselbe durch zwei halbcylindrische Stücke geschlossen, die sich beim Öffnen symmetrisch voneinander entfernen. Die Kuppel ist drehbar und läuft auf dem obern Rande der Turmwand vermittelst an ihr befestigter Räder von 1 m Durchmesser. Sie ist mit einem Zahnkranz versehen, in den eine Transmission eingreift, welche durch ca. 1000 kg schwere, in tiefen, zu diesem Zweck im Mauerwerk ausgesparten Schächten niedersteigende Gewichte getrieben wird. Durch Umschaltung einer Welle in dieser Transmission kann man die Drehung rechts- oder linksherum vor sich gehen lassen, und dieses Umschalten ebenso wie das Auslösen der Gewichte erfolgt, indem man durch Schluß eines am Okularende des Fernrohrs angebrachten Kontakts einen Elektromagnet wirken läßt, so daß also der Beobachter, ohne seinen Platz zu verlassen und ohne alle Mühe den Spalt der ca. 34,000 kg schweren Kuppel auf die gerade zu beobachtende Himmelsgegend richten kann. Eine breite Terrasse um die Kuppel ist bestimmt für die mit bloßem Auge oder mit kleinem transportabeln Instrumenten anzustellenden Beobachtungen. Auf ihr befindet sich auch ein großer Kometensucher von 16,2 cm Öffnung und 1,3 m Brennweite, welchen der auf einem Drehstuhl sitzende Beobachter auf jede Gegend des Himmels richten kann, ohne dabei die Lage seines Kopfes verändern zu müssen. Derselbe dient außerdem zur fortlaufenden Beobachtung des Lichtwechsels der in ihrem Glanz veränderlichen Fixsterne. Unter der Kuppel ruht auf einer 4 m hohen gußeisernen Säule der große parallaktisch montierte Refraktor, dessen Objektiv einen freien Durchmesser von 48,7 cm und 7 m Brennweite hat (vgl. Äquatorial). Bemerkenswert sind noch die an der großen Drehkuppel angebrachten Vorrichtungen, um dieselbe auf ihrer Außenfläche vollständig mit Wasser zu berieseln und so im heißen Sommer vor Beginn der Beobachtungen eine raschere Abkühlung derselben zu bewirken. In den ersten Abendstunden würden sonst die das Instrument zunächst umgebenden Luftschichten eine bedeutend höhere Temperatur als die äußere Luft zeigen, was eine Störung der durchgehenden Lichtstrahlen und ein verwaschenes und zitterndes Ausheben der im Fernrohr beobachteten Gestirne zur Folge haben müßte. Der Meridianbau (s. Tafel) enthält in seinem Ostflügel den Meridiansaal, dessen Längsachse in der Richtung OW. liegt; er wird in nordsüdlicher Richtung von zwei je 1 m breiten, durch Klappen verschließbaren Spalten durchschnitten, unter denen der Meridiankreis von 16,2 cm Öffnung und 1,9 m Brennweite und das Passageinstrument aufgestellt sind. Diese Instrumente ruhen, um ihnen eine feste und unveränderliche Aufstellung zu geben, auf starken Pfeilern, die frei aus dem Boden aufsteigen und vom ganzen übrigen Gebäude isoliert sind. Die äußern Grundmauern des Gebäudes sind gleichfalls sehr stark und mit zwischenliegenden Luftschichten aufgeführt, um die Instrumentenpfeiler möglichst vor Temperaturschwankungen, welche Verziehungen derselben zur Folge haben könnten, zu sichern; sie tragen ein flaches Bogengewölbe, durch das jene Pfeiler frei hindurchgehen. Der Fußboden ist in der verhältnismäßig beträchtlichen Höhe von fast 5 m über der Erde angelegt, um die Gesichtslinien der Instrumente auch bei nahezu horizontaler Stellung des Fernrohrs aus dem Bereich der an der Erdoberfläche stattfindenden unregelmäßigen Strahlungen zu bringen. Der Oberbau des Meridiansaals ist aus Eisen konstruiert; Wandung und Dach sind aus verzinntem Wellenblech hergestellt und außen mit einer jalousieartigen Holzverkleidung versehen, um die Innentemperatur des Raums möglichst gleich der äußern Schattentemperatur zu machen und auf diese Weise sowohl alle störenden Luftströmungen durch die geöffneten Spalten zu vermeiden als auch namentlich die Bildung von nach oben wärmer werdenden Luftschichten zu verhindern, wodurch auch die obern und untern Teile der Instrumente sich ungleich erwärmen und infolgedessen ihre genaue Gestalt verlieren würden. Der Westflügel des Meridianbaues wird im N. und S. von zwei mit Drehkuppeln versehenen Türmen begrenzt, die sich bis zur Höhe von 20 m erheben. In dem südlichen Turm ist aufgestellt der Bahnsucher, in dem nördlichen das Altazimut mit einem Fernrohr von 13,6 cm Öffnung und 1,5 m Brennweite, welche Instrumente auf sehr starken, vom übrigen Gebäude völlig getrennten Pfeilern ruhen. Diese verjüngen sich nach oben, sind im Innern bis auf radiale Versteifungen hohl und werden zum Schutz gegen Wärmeänderungen, welche leicht merkliche Schwankungen der 16 m hohen Pfeiler verursachen könnten, von einem Hohlcylinder aus Backsteinen eingeschlossen. Um diesen windet sich dann die Wendeltreppe, die von der äußern Turmwand getragen wird. Die beiden drehbaren Kuppeln haben einen Durchmesser von 5,5 m; die südliche ist ganz ähnlich der des Refraktorbaues, die nördliche dagegen ist, weil das unter ihr befindliche Altazimut eine besonders große Öffnung derselben bei der Beobachtung erforderte, durch einen senkrecht durch ihren Scheitel gelegten Schnitt in zwei gleiche Hälften geteilt, die sich durch einen Bewegungsmechanismus bis zum Abstand von 2,5 m voneinander entfernen lassen. Die Galerien und Terrassen, welche die beiden Kuppeln umgeben, können ebenfalls mit Wasser berieselt werden. Außer den erwähnten Meßwerkzeugen besitzt die Sternwarte noch eine Anzahl kleinerer Instrumente, ein Heliometer, ein transportables Passageinstrument, welche im Freien unter Bedachung ihre Aufstellung gefunden haben, etc.
Übersicht der bedeutendsten Sternwarten.
Sternwarte Länge in Bogen von Greenwich Breite
Deutschland.
Berlin ö. 13° 23' 43" +52° 30' 16,7"
Bonn ö. 7 5 58 +50 43 45,0
Bothkamp b. Kiel (Priv.) ö. 10 7 42 +54 12 9,6
Breslau ö. 17 2 16 +51 6 56,5
Danzig ö. 18 39 51 +54 21 18,0
Düsseldorf (Bilk) ö. 6 46 13 +51 12 25,0
Gotha ö. 10 42 37 +50 56 37,5
Göttingen ö. 9 56 33 +51 31 47,9
Hamburg ö. 9 58 25 +53 33 7,0
Kiel ö. 10 8 52 +54 20 29,7
Königsberg ö. 20 29 43 +54 42 50,6
Leipzig ö. 12 23 30 +51 20 6,3
Lübeck ö. 10 41 24 +53 51 31,2
Mannheim ö. 8 27 41 +49 29 11,0
Marburg ö. 8 46 15 +50 48 46,9
München (Bogenhausen) ö. 11 36 28 +48 8 45,5
Straßburg ö. 7 45 35 +48 34 55,0
Wilhelmshaven ö. 8 8 48 +53 31 57,0
Österreich.
Krakau ö. 19 57 37 +50 3 50,0
Kremsmünster ö. 14 8 3 +48 3 23,7
Pola ö. 13 50 52 +44 51 49,0
Prag ö. 14 25 19 +50 5 18,5
Wien ö. 16 22 55 +48 12 35,5
Wien (Josephstadt) ö. 16 21 19 +48 12 53,8
Schweiz.
Bern ö. 7 26 24 +46 57 6,0
Genf ö. 6 9 16 +46 11 58,8
Neuchâtel ö. 6 57 31 +47 0 1,2
Zürich ö. 8 32 58 +47 22 42,1
Niederlande u. Belgien.
Leiden ö. 4 29 3 +52 9 20,3
Utrecht ö. 5 8 1 +52 5 10,5
Brüssel ö. 4 22 8 +50 51 10,7
Großbritannien.
Armagh w. 6 38 53 +54 21 12,7
Birr Castle w. 7 55 14 +53 5 47,0
Cambridge ö. 0 5 40 +52 12 51,6
Dublin w. 6 20 31 +53 23 13,0
Durham w. 1 34 57 +54 46 6,2
Edinburg w. 3 10 54 +55 57 23,2
Glasgow w. 4 17 39 +55 52 42,6
Greenwich 0 0 0 +51 28 38,4
Liverpool w. 3 4 17 +53 24 3,8
Markree w. 8 27 2 +54 10 31,8
Oxford w. 1 15 39 +51 45 36,0
Portsmouth w. 1 5 55 +50 48 3,0
Tulse Hill w. 0 6 56 +51 26 47,0
Rußland.
Abo (aufgelöst) ö. 22 17 2 +60 26 56,8
Charkow ö. 36 13 40 +50 0 10,2
Dorpat ö. 26 43 22 +58 22 47,1
Helsingfors ö. 24 57 16 +60 9 42,3
Kasan ö. 49 7 13 +55 47 24,2
Kiew ö. 30 30 16 +50 27 12,5
Moskau ö. 37 34 13 +55 45 19,8
Nikolajew ö. 31 58 31 +46 58 20,6
Odessa ö. 30 45 35 +46 28 36,2
Petersburg ö. 30 18 22 +59 56 29,7
Pulkowa ö. 30 19 38 +59 46 18,7
Warschau ö. 21 1 50 +52 13 5,7
Wilna ö. 25 17 58 +54 41 0,0
Schweden u. Norwegen.
Lund ö. 13° 11' 15" +55° 41' 54,0"
Stockholm ö. 18 3 32 +59 20 34,0
Upsala ö. 17 37 30 +59 51 31,5
Christiania ö. 10 43 32 +59 54 43,7
Dänemark.
Kopenhagen ö. 12 34 47 +55 41 13,6
Italien.
Bologna ö. 11 21 9 +44 29 47,0
Florenz ö. 11 15 22 +43 46 4,1
Mailand ö. 9 11 31 +45 28 0,7
Modena ö. 10 55 42 +44 38 52,8
Neapel ö. 14 14 42 +40 51 45,4
Padua ö. 11 52 14 +45 24 2,5
Palermo ö. 13 21 1 +38 6 44,0
Rom ö. 12 28 50 +41 53 53,7
Turin ö. 7 42 5 +45 4 6,0
Venedig ö. 12 21 11 +45 25 49,5
Frankreich.
Marseille ö. 5 23 50 +43 18 19,1
Paris ö. 2 20 13 +48 50 11,2
Toulouse ö. 1 27 44 +43 36 47,0
Spanien.
Madrid w. 3 41 18 +40 24 29,7
San Fernande w. 6 12 33 +36 27 40,4
Portugal.
Lissabon w. 9 6 15 +38 42 15,2
Griechenland.
Athen ö. 23 43 55 +37 58 20,0
Vereinigte Staaten von Nordamerika.
Albany w. 73 44 35 +42 39 49,6
Alfred Centre w. 77 46 46 +42 15 19,8
Alleghany-City w. 80 0 49 +40 27 36,0
Ann Arbor w. 83 43 44 +42 16 48,0
Cambridge w. 71 7 41 +42 22 48,0
Chicago w. 87 36 38 +41 50 1,0
Cincinnatiw. 84 29 41 +39 6 26,5
Clinton w. 75 24 18 +43 3 16,5
Georgetown w. 77 4 30 +38 54 26,1
Licks Sternwarte w. 98 54 34 +19 25 17,0
Mew York w. 73 59 12 +40 43 48,5
Philadelphia w. 75 9 37 +39 57 7,5
Washington w. 77 3 2 +38 53 38,8
Südamerika
Cordova w. 64 11 15 -31 25 15,0
Rio de Janeiro w. 43 8 56 -22 53 51,0
Santiago de Chile w. 70 40 34 -33 26 42,0
Ostindien.
Madras ö. 80 14 19 +13 4 8,1
Australien.
Melbourne ö. 144 58 34 -37 49 53,4
Sydney ö. 151 11 27 -33 51 41,1
Williamstown ö. 144 54 38 -37 52 7,2
Windsor ö. 150 48 50 -33 36 29,2
Kapland.
Kap der Guten Hoffnung ö. 18 28 44 -33 56 3,0
1 1825—63 unter dem Direktorat von J. F. Encke. — 2 Bonn: Argelander, von 1837—75 Direktor, bearbeitete daselbst seine ausgezeichneten Sternkarten. — 3 Gotha: Encke begann hier seine astronomische Thätigkeit; ihm folgte 1825 im Direktorat P. A Hansen — 4 Göttingen: K F Gauß 1807—55 Direktor. — 6 Königsberg: 1810—46 F. W. Bessel Direktor. — 6 Prag: Tycho Brahe und Kepler haben daselbst gewirkt. - 7 Greenwich: Halley beschloß hierselbst als Direktor der Sternwarte seine ruhmreiche Thätigkeit; ihm folgte 1725 Bradley. — 8 Abo: Argelanders Fixsternbeobachtungen. — 9 Dorpat: W. Struves Untersuchungen über Doppelsterne. 1840—66 J. H. Mädler Direktor. - 10 Pulkowa: 1839 — 65 W. Struve Direktor. — 11 Bologna: Cassinis erste Beobachtungen. — 12 Palermo: Piazzi entdeckte daselbst den ersten kleinen Planeten. — 13 Rom: Pater Secchis (gest. 1878) spektralanalytische Untersuchungen. — 14 Paris: Cassini erster Direktor 1669; spätere: Bouvard, Arago, Leverrier.
307
Sternweite - Stettin.
Sternweite, Entfernung eines Fixsterns von der Sonne, wenn seine jährliche Parallaxe (s. d.) eine Bogensekunde beträgt, gleich 206,264,8 Erdbahnhalbmessern oder ungefähr 30 2/3 Bill. km.
Sternwürmer, s. Gephyreen.
Sternzeit, die durch die scheinbare tägliche Bewegung der Fixsterne bestimmte Zeit; vgl. Sonnenzeit und Tag.
Sterrometall, Legierung aus 55 Kupfer, 41 Zink und 4 Eisen, von großer Festigkeit und Zähigkeit, dient zu Blech- und Gußwaren, Achsenlagern etc.
Stertmorchel, s. Phallus.
Stertor (lat.), das Röcheln (s. d.).
Stertz, ein steir. Nationalgericht, bestehend aus einem aus Buchweizenmehl bereiteten großen Kloß, welcher mit Speckgriefen und Milch genossen wird.
Sterzing, Stadt in Tirol, Bezirkshauptmannschaft Brixen, am Eisack und an der Brennerbahn, 947 m ü. M., altertümlich gebaut, mit gotischer Pfarrkirche, schönem gotischen Rathaus, einem Deutschordenshaus (1263 gestiftet), Kapuzinerkloster, einem Bezirksgericht, Fabrikation von Sensen, Sicheln, Beinlöffeln etc. und (1880) 1528 Einw. Südöstlich das nunmehr ausgetrocknete Sterzinger Moos. S. hieß zur Römerzeit Vipitenum. Gegenwärtig ist es ein beliebtes Standquartier der Touristen. Vgl. Fischnaler S. am Eisack (2. Aufl., Innsbr. 1885).
Stesichoros, der bedeutendste Vertreter der ältern dorischen Lyrik, der "lyrische Homer" genannt, geb. um 630 v. Chr. zu Himera in Sizilien, starb erblindet 556 in Catana. Von ihm rührt die Einteilung der chorischen Lieder in Strophe, Gegenstrophe und Epode her, auch galt er für den Begründer des höhern frischen Stils. Seine von Spätern in 26 Bücher eingeteilten Festgesänge behandelten in prächtiger Darstellung vorwiegend epische Stoffe; ebenso standen die einfachen metrischen Formen der epischen nahe, wie auch der Dialekt der mit wenigen Dorismen gemischte epische war. Wir besitzen von ihm nur Bruchstücke (in Schneidewins "Delectus poesis Graecorum" , Götting. 1839, und Bergks "Poetae lyrici graeci" , Bd. 3, 4. Aufl., Leipz. 1882).
Stethograph (griech.), ein Apparat, welcher die Atmungsbewegungen einzelner Punkte des Brustkorbes in Form von Kurven graphisch darstellt.
Stethoskop (griech.), s. Auskultation.
Stetig, fest, unbeweglich; ununterbrochen, fortdauernd. Eine stetige (kontinuierliche) Größe ist eine solche, deren Teile keine Unterbrechung zeigen, z. B. eine Linie im Gegensatz zu einer Reihe voneinander getrennter (diskreter) Punkte.
Stetigkeit, s. v. w. Kontinuität (s. d.).
Stetten, 1) (S. am Kalten Markt) Flecken im bad. Kreis Konstanz, in rauher Gegend auf der Hardt, hat eine kath. Kirche, Weißstickerei, Korsettnäherei und (1885) 1037 Einw. -
2) Dorf im bad. Kreis Lörrach, im Wiesenthal, an der Linie Basel-Zell i. W. der Badischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, Weinbau, Eisengießerei, Baumwollweberei, Gewehrschäftefabrikation und (1885) 2186 Einw.
Stettenheim, Julius, humorist. Schriftsteller, geb. 2. Nov. 1831 zu Hamburg, Sohn eines Kunsthändlers, verließ 1857 das väterliche Geschäft, in das er eingetreten war, und begab sich nach Berlin, wo er studierte und gleichzeitig als Schriftsteller auftrat. Unter den von ihm um jene Zeit veröffentlichten Humoresken, Singspielen, Possen etc. verdienen der "Almanach zum Lachen" (Berl. 1858-63) und das oft gegebene Liederspiel "Die letzte Fahrt" (das. 1861) besondere Hervorhebung. Nach vollendetem dreijährigen Universitätskurs kehrte er nach Hamburg zurück und gründete hier die bekannte humoristisch-satirische Zeitschrift "Die Wespen", die jedoch erst eigentlichen Erfolg hatte, nachdem er mit derselben Ende 1867 nach Berlin übergesiedelt war, wo im Januar 1868 zuerst die "Berliner Wespen" erschienen, die er noch gegenwärtig redigiert. S. ist einer der glänzendsten Vertreter des satirischen Wortwitzes. Von seinen Veröffentlichungen erwähnen wir noch: "Lohengrin", humoristische Albumblätter (Berl. 1859); "Die Hamburger Wespen auf der internationalen landwirtschaftlichen Ausstellung" (das. 1863); "Die Hamburger Wespen im zoologischen Garten" (das. 1863); "Satirisch-humoristischer Volkskalender" (das. 1863); "Die Berliner Wespen im Aquarium" (das. 1869); "Ungebetene Gäste", Posse (das. 1869); "Berliner Blaubuch aus dem Archiv der Komik" (das. 1869-70, 2 Bde.); "Ein gefälliger Mensch", Posse (das. 1872); "Wippchens sämtliche Berichte" (das. 1878-86, 5 Bde.); "Muckenichs Reden und Thaten" (das. 1885); "Unter vier Augen" (das. 1885) u. a. Seit 1885 gibt er die illustrierte Monatsschrift "Das humoristische Deutschland" (Bresl.) heraus.
Stettin (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt der preuß. Provinz Pommern und des gleichnamigen Regierungsbezirks, Stadtkreis, an der Oder, Knotenpunkt der Linien Berlin-Stargard, Breslau-S. und S.-Mecklenburgische Grenze, 7 m ü. M., besteht aus der eigentlichen Stadt am linken Flußufer mit ausgedehnten neuen Stadtteilen und Vorstädten, welch letztere wegen der bis 1873 vorhandenen Befestigung der innern Stadt zum Teil in großer Entfernung von derselben angelegt sind, und aus der Lastadie und den zugehörigen Anlagen am rechten User. Beide Ufer der Oder sind für den allgemeinen Verkehr durch drei Brücken (Baumbrücke, Lange Brücke und Neue Brücke) verbunden; für den Eisenbahnverkehr sind über die Oder und ihre Nebenströme besondere Überbrückungen hergestellt. Die innere Stadt enthält acht Plätze: den Paradeplatz, den Königsplatz mit den Statuen Friedrichs d. Gr. (von Schadow) und Friedrich Wilhelms III. (von Drake), den Roßmarkt mit monumentaler Fontäne, den Heumarkt und den Neuen Markt, zwischen denen das alte Rathaus steht, den Marktplatz und den Viktoriaplatz, durch das neue Rathaus getrennt, und den mit Anlagen gezierten Kirchplatz. S. hat 6 evang. Kirchen, unter welchen die in ihrer jetzigen Gestalt spätgotische Petrikirche (1124 gegründet) als die erste christliche Kirche in Pommern und die Jakobikirche (aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.) wegen ihrer Größe etc. bemerkenswert sind; außerdem eine kath. Kirche (im Schloß), eine Baptistenkapelle, eine Kirche der Altlutherischen, eine der apostolischen Gemeinde und eine neue Synagoge. Andre hervorragende Gebäude sind: das königliche Schloß (1575 erbaut), jetzt Sitz der Regierung und des Oberlandesgerichts, das Militärkasino, das Schauspielhaus, die Börse, das Vereins- und Konzerthaus, der Zirkus, das neue großartige Krankenhaus (auf einer Anhöhe vor der Stadt, vgl. den Plan bei Art. "Krankenhaus") etc. Bemerkenswert sind ferner zwei von Friedrich Wilhelm I. erbaute monumentale Thorgebäude (Königsthor und Berliner Thor), welche, seit Abtragung der Wälle freigelegt und von der Stadt
Wappen von Stettin.
STETTIN.
Albrecht-Straße
Arndt-Platz
Arndt-Straße
Artillerie-Kaserne
Artillerie-Straße
Artillerie-Zeughaus
Augusta-Straße
Bäckerberg-Straße
Badeanstalt
Bahnhof
Barnim-Straße
Baum-Brücke
Baum-Straße
Bellevue
Bellevue-Straße
Berg-Straße
Berliner Thor, Am
Birken-Allee
Bismarck-Platz
Bismarck-Straße
Bleichholm
Blumen-Straße
Bollwerk
Börse
Breite-Straße
Buggenhagen-Straße
Bürger-Ressource
Burg-Straße
Charlotten-Straße
Deutsche-Straße
Dom Straße, Große
Dom Straße, Kleine
Elisabeth-Straße
Exerzierplatz
Falkenwalder Straße
Fischer-Straße
Fort Preußen
Frauen-Straße
Friedrich-Karl-Straße
Friedrich-Straße
Friedrichs II. Denkmal
Friedrichs Wilhelms III. Denkmal
Fuhr-Straße
Furage-Magazin
Galg-Wiese
Garnison-Lazarett
Garten-Straße
General-Kommando
Gertruden-Kirche
Giesebrecht-Straße
Grabow
Grabower Straße
Grüner Graben
Grüne Schanze
Grünhof
Gastav-Adolf-Straße
Gutenberg- Straße
Güter-Bahnhof
Gymnasium, Kaiser-Wilhelm
Gymnasium, Marienstifts-
Gymnasium, Stadt-
Hauptwache
Heilige Geist-Straße
Heilige Geist-Thor
Heumarkt
Hohenzollern-Platz
Hohenzollern-Straße
Holzmarkt
Holz-Straße
Hühnerbeiner Straße
In den Anlagen
Jageteufel-Straße
Jakobi-Kirche
Johannes-Kirche
Johannis-Kloster
Johannis-Straße
Kaiser-Wilhelm-Platz
Kaiser-Wilhelm-Straße
Karl-Straße
Kirchen-Straße
Kirchplalz
Kohlmarkt
Kommandantur
König-Albert Straße
Königs-Platz
Königs-Straße
Königsthor, Am
Krankenhaus
Krautmarkt
Kronenhof-Straße
Kronprinzen-Straße
Kurfürsten-Straße
Landgericht
Lange Brücke
Lastadie
Linden-Straße
Loge
Logen-Garten.
Löwe-Straße
Luisen-Straße
Lutherischer Kirchhof
Marien-Platz
Marktplatz
Masches Insel
Militär-Kirchhof, Alter
Militär-Kirchhof, Neuer
Mittwoch-Straße
Moltke-Straße
Mönchen-Straße
Münz-Straße
Museum
Neue Brücke
Neuer Markt
Ober-Wick
Oder-Straße, Große
Oder-Straße, Kleine
Offizier-Kasino
Papen-Straße
Parade-Platz
Parnitzer Bollwerk
Passauer Straße
Pelzer Straße
Pölitzer Straße
Polizei-Direktion
Post
Preußische Straße
Prutz-Straße
Rahms Insel
Rathaus
Realschule
Reformierter Kirchhof
Reichsbank
Reifschläger-Straße
Rosengarten-Straße
Roßmarkt
Roßmarkt-Straße
Sankt Petri-Kirche
Sanne-Straße
Schiller-Straße
Schloßkirche
Schloß, Königliches
Schuh-Straße
Schulzen-Straße
Schützengarten
Schwerin-Straße
Schwimm-Anstalt
Sellhaus-Bollwerk
Silberwiese
Speicher-Straße
Synagoge
Tattersall
Theater
Töpfers Park
Töpfers Park-Straße
Turner-Straße
Unter-Wick
Viktoria-Platz
Wall-Straße
Westend
Wilhelm-Straße
Wollweher-Straße, Große
Wrangel-Straße
Zeughaus
Zirkus
Zum. Artikel "Stettin".
308
Stettiner Haff - Steub.
entsprechend ausgebaut, den Mittelpunkt breiter, mit Anlagen versehener Passagen bilden. Die Zahl der Einwohner belief sich 1885 mit der Garnison (ein Grenadierregiment Nr. 2, 2 Füsilierbat. Nr. 34 und 2 Abteilungen Feldartillerie Nr. 2) auf 99,543 Seelen, darunter 2881 Katholiken, 923 sonstige Christen und 2501 Juden. Die Industrie ist bedeutend. S. hat große Eisengießereien und Maschinenfabriken, darunter die große Maschinenfabrik und Schiffbauanstalt "Vulkan" in Bredow (s. d.) mit 4-5000 Arbeitern, Fabrikation von chemischen Produkten (in Pommerensdorf) mit 800-900 Arbeitern, Zementfabriken (in Züllchow, Bredow und Podejuch) mit 300-600 Arbeitern, große Mühlenetablissements (in Züllchow), ferner Fabriken für Zucker, Zichorie, Parfümerien, Seife, Stearin, Öl, feuerfeste Geldschränke, Kartonagen, Dachpappe etc., Gartenbau, Bierbrauerei und Branntweinbrennerei. Für den Handel, der durch eine Handelskammer, eine Börse, eine Reichsbankstelle (Gesamtumsatz 1887: 756 Mill. Mk.) und andre große Geldinstitute unterstützt wird, ist S. der erste Seeplatz des preußischen Staats. Ausgeführt werden vorzüglich: Getreide, Mehl, Sprit, Ölfrüchte, Holz, Chemikalien, Kartoffeln, Heringe, Zichorie, Zucker, Steinkohlen, Zink etc., dagegen werden eingeführt: Eisen und Eisenwaren, Erden und Erze, Getreide, Mehl, Bau- und Nutzholz, Heringe, Reis, Fettwaren, Petroleum, Steine, Schiefer, Steinkohlen etc. Der Wert der 1887 eingeführten Waren betrug 16,760,036 Mk., der ausgeführten Waren 17,019,190 Mk. Die Stettiner Reederei zählte 1887: 193 Schiffe, darunter 58 Seedampfer, mit zusammen 44,259 Registertonnen Raumgehalt. In den Hafen liefen ein 1887: 3826 Schiffe zu 1,116,438 Registertonnen, es liefen aus: 3884 Schiffe zu 1,142,427 Registertonnen. Regelmäßige Dampferverbindungen unterhält S. mit den wichtigsten Häfen der Ostsee, mit London und New York. An Bildungs- und andern ähnlichen Anstalten besitzt S. 3 Gymnasien, 2 Realgymnasien, eine Handelsschule, ein Lehrerinnenseminar, eine Taubstummen- und eine Blindenanstalt, ein Stadt-, ein pommersches und ein antiquarisches Museum, einen Verein für Altertumskunde, einen Kunstverein, mehrere Theater etc.; ferner: eine Hebammenlehranstalt, ein Johanniskloster, Diakonissenanstalten, ein Mädchenrettungshaus u. a. m. S. ist Sitz eines Oberpräsidiums, einer königlichen Regierung, eines Konsistoriums, eines Medizinal- und eines Provinzial-Schulkollegiums und einer Provinzial-Steuerdirektion, der Provinzialverwaltung , der pommerschen Generallandschaftsdirektion, einer Rentenbank für die Provinzen Pommern und Schleswig-Holstein, eines Oberlandes- und eines Landgerichts, einer Oberpostdirektion, eines Seeamtes, eines Landratsamtes (für den Kreis Randow) etc.; ferner: des Generalkommandos des 2. Armeekorps, des Kommandos der 3. Division, der 5. und 6. Infanterie-, der 3. Kavallerie- und der 2. Feldartilleriebrigade. - Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Altdamm, Bahn, Gartz a. O., Greifenhagen, Kammin, Neuwarp, Pasewalk, Penkun, Pölitz, Stepenitz, S., Swinemünde, Ückermünde und Wollin. Geschichte. S. ist schon im 11. Jahrh. gegründet worden, erscheint aber erst im 12. Jahrh., seit der Zerstörung von Jumne durch die Dänen, als der erste Seehandelsplatz an der Oder. Von Herzog Barnim I. erhielt es 1243 Stadtrecht. Seit 1107 war es Sitz eines pommerschen Fürstenhauses und blieb es, den Zeitraum von 1464 bis 1532 abgerechnet, bis zum Aussterben der einheimischen Dynastie. 1360 trat es dem Hansabund bei und nahm 1522 die Reformation an. Hier wurde im Dezember 1570 ein Friede zwischen Schweden und Dänemark unter Vermittelung des Kaisers geschlossen. Am 11. Juli 1630 wurde S. Gustav Adolf eingeräumt, der große Verbesserungen an der Befestigung vornahm. Im Westfälischen Frieden nebst Vorpommern an Schweden abgetreten, ward die Stadt 6. Jan. 1678 von dem Kurfürsten von Brandenburg durch Kapitulation eingenommen, aber schon 1679 an Schweden zurückgegeben. Eine abermalige Belagerung hatte sie 1713 im Nordischen Krieg von den verbündeten Russen und Sachsen auszuhalten, wurde infolge einer Übereinkunft (29. Sept.) von Preußen und Holstein besetzt und erst im Frieden von Stockholm 1720 nebst Vorpommern an Preußen abgetreten. Nach der Katastrophe von 1806 ward die Festung 29. Okt. vom General v. Romberg ohne Widerstand den Franzosen übergeben, die sie bis 5. Dez. 1813 besetzt hielten. Durch das Reichsgesetz über den Umbau der deutschen Festungen (19. Mai 1873) ist die Festung S. aufgehoben. Vgl. Thiede, Chronik von S. (Stett. 1849); Berghaus, Geschichte der Stadt S. (Wriezen 1875-76, 2 Bde.); Th. Schmidt, Zur Geschichte des Handels und der Schiffahrt Stettins 1786-1846 (Stett. 1875); K. F. Meyer, S. zur Schwedenzeit (das. 1886); W. H. Meyer, S. in alter und neuer Zeit (das. 1887). Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 12,074 qkm (219,29 QM.) mit (1885) 728,046 Einw. (darunter 709,671 Evangelische, 8871 Katholiken und 6832 Juden) und 13 Kreise:
Kreise QKilom. QMeil. Einwohner Einw. auf 1 qkm
Anklam 648 11,77 31088 48
Demmin 984 17,87 46464 47
Greifenberg 764 13,88 36257 47
Greifenhagen 964 17,51 52158 54
Kammin 1135 20,63 43626 38
Naugard 1228 22,30 55208 45
Pyritz 1045 18,98 43968 42
Randow 1316 23,90 109462 83
Regenwalde 1190 21,61 46036 40
Saatzig 1220 22,16 66688 55
Stettin (Stadt) 60 1,09 99543 -
Ückermünde 831 15,09 48693 59
Usedom- Wollin 689 12,51 48855 71
Stettiner Haff, s. Pommersches Haff.
Steub, Ludwig, Schriftsteller, geb. 20. Febr. 1812 zu Aichach in Oberbayern, siedelte mit seinen Eltern später nach München über und studierte daselbst erst Philologie, dann aber Rechtswissenschaft. 1834 ging er nach Griechenland, wo er erst eine Stelle im Büreau der Regentschaft zu Nauplia, dann auf dem Staatskanzleramt zu Athen bekleidete und bis 1836 blieb. Nach seiner Rückkehr, die ihn über Rom, Florenz und Venedig führte, ließ er sich in München nieder, wurde hier 1845 zum Anwalt, 1863 zum Notar ernannt und starb 16. März 1888. Steubs Schriften behandeln vorzugsweise die ethnographischen und kulturhistorischen Verhältnisse der Alpenländer; hierher gehören zunächst: "Über die Urbewohner Rätiens und ihren Zufammenhang mit den Etruskern" (Münch. 1843); "Zur rätischen Ethnologie" (Stuttg. 1854); "Die oberdeutschen Familiennamen" (Münch. 1870); "Onomatologische Belustigungen aus Tirol" (Innsbr. 1879); "Zur Namens- und Landeskunde der Deutschen Alpen" (Nord l. 1885) und "Zur Ethnologie der Deutschen Alpen" (Salzb. 1887). Mit vielem Glück hat S. sodann die
309
Steuben - Steuerbewilligung.
Ergebnisse strenger Forschung in das Gewand des gefällig unterhaltenden Reisebildes zu kleiden gewußt, so in: "Drei Sommer in Tirol" (Münch. 1846; 2. Aufl., Stuttg. 1871, 3 Bde.); "Aus dem bayrischen Hochland" (das. 1850); "Das bayrische Hochland" (Münch. 1860); "Wanderungen im bayrischen Gebirge" (das. 1862); "Herbsttage in Tirol" (das. 1867); "Altbayrische Kulturbilder" (Leipz. 1869); "Lyrische Reisen" (Stuttg. 1878) und "Aus Tirol" (das. 1880). Eine Frucht seines Aufenthalts in Griechenland waren die "Bilder aus Griechenland "(Leipz. 1841, 2. Ausg. 1885). Außerdem veröffentlichte er Belletristisches, wie: "Novellen und Schilderungen" (Stuttg. 1853), "Deutsche Träume", Roman (Braunschweig 1858, 3 Bde.), die Erzählungen: "Der schwarze Gast" (Münch. 1863), "Die Rose der Sewi" (Stuttg. 1879), die Lustspiele: "Das Seefräulein" und "D1e Römer in Deutschland" (1873), "Sängerkrieg in Tirol", Erinnerungen aus den Jahren 1842-44 (Stuttg. 1882), u. a. Seine "Kleinern Schriften" erschienen gesammelt Stuttgart 1873-75, 4 Bde.; seine "Gesammelten Novellen" daselbst 1881 (2. Aufl. 1883). In der "Deutschen Bücherei" erschien von ihm: "Mein Leben" (mit Anhang von Felix Dahn: "Über Ludwig S.", Bresl. 1883).
Steuben, 1) Friedrich Wilhelm von, amerikan. General, geb. 15. Nov. 1730 zu Magdeburg, wo sein Vater preußischer Ingenieurhauptmann war, trat 1747 als Fahnenjunker in das preußische Infanterieregiment Lestwitz, ward 1753 Leutnant, machte den Siebenjährigen Krieg meist als Adjutant mit Auszeichnung mit, nahm nach dem Ende desselben als Kapitän seinen Abschied, ward Hofmarschall des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen und trat 1775 als Oberst in badische Dienste. Er begab sich 1777 auf Veranlassung des französischen Ministers Saint-Germain und Beaumarchais' nach Nordamerika, wo er 1778 als Generalmajor und Generalinspektor der Armee in die Dienste der Vereinigten Staaten trat, erwarb sich um die Disziplinierung, die Organisation und die Einübung der Truppen große Verdienste, war auch zeitweilig Generalstabschef Washingtons, der ihn besonders hochschätzte, und beteiligte sich in hervorragender Weise am Entwerfen der Operationspläne. 1780 ward er Greenes Generalquartiermeister in Virginia, wo er auch selbständig operierte und mit kleinen Mitteln bedeutende Erfolge errang. Trotz seiner Verdienste mußte er nach Beendigung des Kriegs sieben Jahre warten, ehe der Kongreß seinen Ansprüchen auf Entschädigung seiner Verluste und eine Pension einigermaßen gerecht wurde; doch machten ihm einige Staaten Landschenkungen. S. lebte nach seiner Verabschiedung teils in New York, teils aus seiner Farm in Oneida County, wo er 28. Nov. 1794 starb. Vgl. F. Kapp, Leben des amerikanischen Generals F. W. v. S. (Berl. 1858).
2) Karl von, franz. Maler, geb. 19. April 1788 zu Bauerbach in Baden, bildete sich in Paris unter David und Gros und malte nach dem Vorbild dieser Meister eine große Zahl von Geschichtsbildern von theatralischer Haltung, darunter Peter d. Gr. in einem Sturm auf dem Ladogasee (1813), der Schwur auf dem Rütli, Tell den Nachen von sich stoßend, Peter d. Gr. als Kind durch seine Mutter vor den aufständischen Strelitzen gerettet, Napoleons I. Rückkehr von Elba und Napoleons I. Tod, die Schlachten von Tours, Poitiers und Waterloo (im Museum zu Versailles) u. a. Er starb 21. Nov. 1856 in Paris.
Steubenville (spr. stuhbenwill), nach Steuben 1) benannte Stadt im nordamerikan. Staat Ohio, am Ohio, hat lebhaften Verkehr, eine höhere Schule, ein sehr geschätztes Seminar für Mädchen und (1880) 12,097 Einw. In der Nähe sind Kohlengruben.
Steud., bei botan. Namen Abkürzung für H. Steudner (s. d.).
Steudner, Hermann, Naturforscher und Afrikareisender, geb. 1832 zu Greiffenberg in Schlesien, studierte in Berlin und Würzburg Botanik und Mineralogie und ließ sich dann durch Barth zur Teilnahme an der deutschen Expedition nach den Nilländern unter Heuglin gewinnen. Er begleitete denselben 1861 über Massaua und Keren (im Lande der Bogos) nach Adoa, Gondar und südlich davon über Magdala hinaus bis zum Kriegslager des Kaisers Theodoros bei Edschebet. Die Rückreise erfolgte vom Tsanasee ab in nordwestlicher Richtung zum Blauen Nil und nach Chartum. 1863 reiste er wieder mit Heuglin und im Anschluß an die Tinnésche Expedition von Chartum nach dem Bahr el Ghasal und zum See Reck; bei seinem weitern Vorgehen aber nach Westen über den Djurfluß erlag er in dem Dorf Wau 1863 einer Krankheit. Seine sorgfältigen Berichte (in der "Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" 1862-64) sind um so wichtiger, als weite von ihm bereiste Strecken vorher von einem Botaniker von Fach noch nicht durchforscht waren.
Steuer, s. Steuerruder.
Steuerabwälzuug, s. Steuer, S. 312.
Steuerbewilliguug und Steuerverweigerung ist als Recht der Volksvertretung nicht erst mit der konstitutionellen Staatsform anerkannt worden. Die Entstehung dieser Befugnis reicht vielmehr viel weiter zurück. Den mittelalterlichen Ständen in den einzelnen deutschen Territorien, welche allerdings nicht die Gesamtheit des Volkes, sondern nur gewisse bevorzugte Klassen desselben vertraten, stand sie unbestritten zu. Aus dem Recht, Steuern zu bewilligen, d. h. ihre Erhebung zuzulassen, entwickelte sich aber auch ein Recht der Mitwirkung bei ihrer Verwendung, und so entstand das parlamentarische Budgetrecht. In England unterscheidet man dabei einen festen und einen beweglichen Teil des Staatshaushalts. Zu dem festen Teil gehören alle diejenigen Einnahmen, welche durch Gesetz auf unbestimmte Zeit, d. h. auf so lange bewilligt sind, bis sie durch ein andres Gesetz aufgehoben werden, und alle diejenigen Ausgaben, welchedem Betrag nach gesetzlich feststehen. Von den Ausgaben für das Heer abgesehen, welche in England alljährlich neu bewilligt werden müssen, gehören die meisten Staatsausgaben dem festen Teil des Budgets an. Dieser feste Teil unterliegt der jährlichen Bewilligung nicht. Das Recht des Unterhauses bei Feststellung des Staatshaushalts besteht nur in folgenden Befugnissen: jeder neuen von der Regierung geforderten Steuer, jeder Verlängerung einer nur periodisch oder auf einen bestimmten Zeitraum eingeführten Steuer, jeder Erhöhung oder Abänderung bestehender Steuern die Zustimmung versagen zu können und in dem beweglichen Teil der Staatsausgaben die von der Regierung geforderten Beträge im einzelnen abzusetzen oder zu streichen. Je nach der Richtung, in welcher diese Befugnisse ausgeübt werden, spricht man von einer Bewilligung oder Verweigerung der Steuern. Diese beiden Rechte sind offenbar Korrelate: man kann nur bewilligen, was man auch verweigern dürfte. Die meisten Verfassungen enthalten gegenwärtig die Bestimmung, daß alle Einnahmen und Ausgaben des Staats jährlich auf den Staatshaushaltsetat gebracht und dort bewilligt werden müssen. Infolgedessen kann ein
310
Steuerbord - Steuern.
Widerspruch zwischen einem Gesetz und einem Geldbewilligungsbeschluß entstehen und damit ein Konflikt, dessen Lösung nicht durch eine Interpretation des geltenden Rechts herbeigeführt, sondern der als eine Machtfrage behandelt wird. Ein solcher Konflikt war der preußische "Militärkonflikt", der von 1862 bis 1866 währte. übrigens bleiben Steuergesetze, welche auf die Dauer erlassen sind, so lange wirksam , bis sie auf verfassungsmäßigem Weg wieder aufgehoben werden; gleichviel ob das Budget zu stande kommt oder nicht. Dies ist z. B. in der preußischen Verfassungsurkunde (Artikel 109) ausdrücklich anerkannt. Um der Volksvertretung ein wirksames Recht der S. u. S. zu geben, ist notwendig, daß wenigstens Eine periodische und bewegliche Steuer vorhanden sei, durch deren Bewilligung oder Verweigerung die Volksvertretung einen Einfluß auf die beweglichen Ausgaben gewinnt. Im Deutschen Reich ersetzen die Matrikularbeiträge diese periodische, bewegliche Steuer, und durch sie übt der Reichstag ein Recht der S. u. S. Vgl. Gneist, Budget und Gesetz (Berl. 1867); Laband, Das Budgetrecht (das. 1871).
Steuerbord, die rechte Seite des Schiffs, wenn man in der Richtung von hinten nach vorn sieht. Der Ausdruck stammt daher, daß der Steuermann eines mit einem Riemen oder losen Ruder gesteuerten Fahrzeugs seinen Platz an dessen hinterm Ende auf dieser Seite hatte. Vgl. Bord.
Steuerbuch, s. v. w. Kataster (s. d.).
Steuereinheit, die Maßeinheit der Gegenstände, für welche die Steuer ausgeworfen ist; dieselbe kann, wie bei spezifischen Zöllen, in Stückzahl, Maß oder Gewicht (100 kg) oder, wie bei Wertzöllen und den meisten Steuern, in einer Geldsumme angegeben sein. Auch ist S. s. v. w. einfacher Steuersatz oder Simplum, d. h. gleich der Summe, welche als normale Steuerhöhe für die Einheit der Steuerbemessungsgrundlage angegeben ist und je nach Bedarf des Staats in einem mehrfachen Betrag zur Erhebung gelangt. Das Steuersimplum hat besonders seine Bedeutung für die Fälle, in welchen ein eignes Steuerkapital (s. d.) berechnet oder überhaupt eine Steuer als bewegliche in der Art benutzt wird, daß dieselbe eine Ergänzung der übrigen Steuern bildet. Letzteres ist der Fall bei der englischen Einkommensteuer, welche vorzüglich zur Deckung von etwanigem Mehrbedarf bestimmt ist, während die preußische Einkommensteuer in einem festen Prozentsatz vom Einkommen erhoben wird.
Steuerfundation, Steuerdeckung, die Sicherung, welche gegen Entwertung von Staatspapiergeld dadurch geboten wird, daß dasselbe an öffentlichen Kassen an Zahlungs Statt angenommen wird, allenfalls in Verbindung mit dem Zwang, daß bei Meidung eines Strafagios wenigstens ein Teil der Steuern in Papiergeld (s. d.) entrichtet werden muß.
Steuerfuß, das Verhältnis der Steuer zu derjenigen Summe, von welcher sie erhoben wird. So ist, wenn von einem Einkommen von 4-5000 Mk. 100 Mk. entrichtet werden, der S. gleich 0,020-0,025 oder, auf 100 als Einheit bezogen, gleich 2-2,5 Proz. Auch wird die Summe, welche von der Einheit der Bemessungsgrundlage, mag dieselbe in einer Geldsumme bestehen oder nicht, als S. bezeichnet. Insofern wird auch von einem S. bei dem Dimensionsstempel (s. Stempel) oder bei Zöllen gesprochen, welche nach Maß, Gewicht oder Stückzahl erhoben werden.
Steuergemeinschaft nennt man zum Zweck einer gleichmäßigen Besteuerung geschlossene Staatenverbindungen. So bilden die norddeutschen Gliederstaaten mit Elsaß-Lothringen eine S. für Erhebung wichtiger Verbrauchssteuern.
Steuerkapital, bei verschiedenen direkten Steuern die Summe, für welche die Steuer als ein Bruchteil in der Art ausgeworfen ist, daß die relative Steuerhöhe (Steuerfuß) für alle steuerpflichtigen Personen oder Gegenstände als gleich erscheint. Ein S. wird vorzüglich zu dem Zweck berechnet, um in Fällen, in welchen es an einem Vergleichsmaßstab für verschiedene Steuern fehlt, eine Einheit zu schaffen und dann nach Bedarf für alle gleichmäßig die Steuer in einem Ansatz erhöhen oder herabsetzen zu können. Die Einkommensteuer kann in der Art ausgeworfen werden, daß in einer Tabelle die Summen (Prozente) angegeben sind, welche von den verschiedenen Einkommenshöhen erhoben werden. Nach Bedarf könnte ein Mehrfaches aller Prozente einverlangt werden. Zahlt man z. B. von 6000 Mk. 3 Proz., von 1000 Mk. 1 Proz., und muß die Einnahme auf das Doppelte gesteigert werden, so erhebt man einfach im einen Fall 6, im andern 2 Proz. Statt dessen kann aber auch der Prozentsatz scheinbar gleich gemacht werden. So könnte, wenn 1000 Mk. das niedrigste noch zu besteuernde Einkommen ist, die Summe als Einheit angenommen werden, von welcher 10 Mk. als Steuersimplum (1 Proz.) zu erheben sind. Von 6000 Mk. wären für gewöhnlich 3 Simpeln zu bezahlen. Um aber auch hier auf 1 Simpel zu kommen, beziffert man das S. für ein Einkommen von 6000 Mk. auf 18,000 Mk., von welchen ein Simplum sich auf 180 Mk. stellt. Seine eigentliche Bedeutung gewinnt aber die Aufstellung eines Steuerkapitals für diejenigen Steuern, welche nach äußern Merkmalen gemessen werden; so insbesondere für die Gewerbesteuer, zumal wenn diese Steuern mit progressivem Steuerfuß angelegt sind. Man bestimmt dann Steuerkapitalien für gewerbliche Unternehmungen, Grund und Boden, Gebäude, ferner für andre Einkommensquellen mit genau bestimmbaren Erträgen und erhält eine Gesamtsumme für das ganze Staatsgebiet, von welcher der Normalbedarf das Simplum (berechnet für 100 oder 1000) ausmacht. Ist der Bedarf m-mal so groß, so werden m Simpla ausgeschrieben und erhoben.
Steuerkontingent, der bestimmte von einer Gesamtheit von Pflichtigen und auf die letztern zu verteilende Steuerbetrag, s. Kontingentierung der Steuern.
Steuerkredit, s.Steuern, S. 313, vgl. auch Zölle.
Steuermann, auf Kriegsschiffen der Deckoffizier, welcher unter Verantwortlichkeit des wachthabenden Offiziers die Navigierung des Schiffs leitet, das Steuern beaufsichtigt, loggt und den Wachthabenden bei Beobachtungen unterstützt. Auf Handelsschiffen steht der S. zunächst unter dem Kapitän, beaufsichtigt das Steuern, die Takelung, das Ankergerät etc. Er muß im Stande sein, alle Instrumente und die Seekarten richtig zu benutzen und das Schiff bei jedem Wetter zu manövrieren; im Notfall vertritt er den Kapitän. Er erwirbt seine Qualifikation durch eine reichsgesetzlich geregelte Prüfung für große oder kleine Fahrt. Vgl. Marine, S. 252.
Steuern im weitern Sinn sind alle nicht auf privatrechtlichem Titel beruhenden Abgaben, welche die Angehörigen einer öffentlich-rechtlichen Gemeinschaft an die letztere entrichten. Sie umfassen somit auch Gebühren, Strafgelder etc. sowie solche Abgaben, deren Zweck keineswegs eine Einnahmebeschaffung ist (sogen. Polizeisteuern, echte Luxussteuern, welche den Luxus hindern sollen, etc.). Heute versteht man unter denselben Beiträge, welche zum Zweck allgemeiner Ko-
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Steuern (Allgemeines, Steuerpolitik).
stendeckung der Staats- oder Gemeindewirtschaft von Staats- oder Gemeinde- (Kreis- etc.) Angehörigen sowie von im Staatsgebiet sich aufhaltenden Ausländern zwangsweise erhoben werden. Dadurch, daß die S. nicht zur Vergütung eines durch den Zahlenden veranlaßten Aufwandes dienen sollen, unterscheiden sich dieselben von den Gebühren. Bisweilen wird verlangt, die Besteuerung solle auch als Mittel benutzt werden, um eine für die untern Klassen günstigere Verteilung des Einkommens zu bewirken (sogen. sozialpolitische Seite der S.). Während heute der Zwang ein Merkmal der Steuerbegriffs bildet, war derselbe dem letztern früher in Deutschland so fremd, daß V. L. v. Seckendorff in seinem "Deutschen Fürstenstaat" von 1656 die S. als "Extraordinar Anlagen" bezeichnete, welche "freywillig und als guthertzige Beysteuern gereichet, und dahero auch in etlichen Orten Bethen (nach andrer Schreibweise Beden oder Beeden), das ist erbetene Einkünffte, anderswo auch Hülffen und Praesente genennet werden". Diese Beden (petitiones, precariae, Heischungen) wurden in Geld oder Naturalien entrichtet. Ritter und Geistliche waren davon meist befreit. In außerordentlichen Fällen wurden sogen. Notbeden gefordert. Auch Städte zahlten oft Beden (Orbede) an den Landesherrn.
Auferlegte S. (Auflagen) wurden von den Germanen früher als ein Zeichen der Unfreiheit betrachtet; noch in den ersten Zeiten des Mittelalters durften die auf dem Reichstag bewilligten S. nur von denen erhoben werden, die sie bewilligt hatten. Übrigens waren die S. auch in der ältern germanischen Zeit durch die Sitte mehr oder weniger gebotene Beiträge, welche in der Zeit, als der Staatsgedanke mehr von privatrechtlichen Elementen durchsetzt war, vertragsmäßig geregelt wurden (Ordinarsteuern). Bei außerordentlichen Beihilfen (Extraordinarsteuern) ließen sich die Landstände landesfürstliche Reversbriefe ausstellen, "daß solche Bewilligungen künfftig zu keiner ordentlichen Beschwerung oder Aufflage gereichen sollten". Die Einnahmen aus S. flossen in die der Aufsicht und Kontrolle der Landstände unterstellte Steuerkasse, während die von den Landständen unabhängige Kammerkasse die Einnahmen aus Domänen und Regalien aufnahm. In den modernen Kulturstaaten unterliegt die Besteuerung und die Verwendung der S. verfassungsmäßiger Regelung und Bewilligung. Die durch Geburt, Ernennung und Wahl bestimmten gesetzgebenden Gewalten ordnen die S. an, während der einzelne Staatsangehörige sich solcher Anordnung zu fügen hat (Steuerrecht des Staats, Steuerpflicht des Staatsangehörigen). Vertritt hierbei die Regierung mit ihren Anforderungen das Interesse der Verwaltung, so wahrt die Volksvertretung mit ihrem Steuerbewilligungsrecht dasjenige der Steuerzahler. Dem Steuerbewilligungsrecht entspricht das nicht dem einzelnen Steuerzahler, sondern der Volksvertretung zustehende Recht der Steuerverweigerung. Doch wird dies Recht nicht allein durch die gesetzlich feststehenden Ausgaben, sondern überhaupt durch die Notwendigkeit der Staatserhaltung praktisch beschränkt. Die Praxis (in England) und das formale Recht (in Deutschland) fassen das Steuerbewilligungsrecht auch nur in diesem Sinn auf. Darum bleiben Steuergesetze, welche nicht für einen bestimmten Zeitraum erlassen werden, so lange bestehen, als sie nicht auf verfassungsmäßigem Weg (Übereinstimmung der gesetzgebenden Gewalten) aufgehoben werden, während für Einführung neuer S. die Bewilligung der Volksvertretung erforderlich ist (vgl. Budget).
Steuerpolitik
Eine gute Steuerpolitik stellt folgende Anforderungen: I. Im Interesse einer geordneten, echt staatswirtschaftlichen Bedarfsdeckung soll 1) die Steuer sich als ausreichend erweisen. 2) Ihr Ertrag soll genügend genau voraus bestimmbar sein und auch pünktlich und sicher eingehen. 3) Die S. müssen fähig sein, sich dem wechselnden Bedarf des Staats anzupassen, ohne daß ihre Erhöhung oder Erniedrigung anderweite Nachteile (z. B. Störungen der Verkehrs- und Erwerbsordnung) im Gefolge hat.
II. Im Interesse der Steuerzahler liegt es, daß 1) die Gesamtlast der Steuer richtig verteilt ist. Es soll demgemäß sein a) die Steuerpflicht eine allgemeine und zwar als subjektive, indem sie alle steuerpflichtigen Personen, als objektive, indem sie alle pflichtigen Gegenstände erfaßt. Steuerfreiheiten (Exemtionen, Steuerprivilegien) widersprechen dem herrschenden Gerechtigkeitsgefühl. Früher vielfach von privilegierten Ständen nicht allein für ihren Grundbesitz, sondern auch für indirekte Abgaben in Anspruch genommen, sind die Steuerfreiheiten in der neuern Zeit meist (bei Grundsteuern in der Regel gegen Gewährung von Entschädigung) aufgehoben worden. Dauernde Freiheiten von direkten S. (allen, bez. einzelnen) genießen heute meist das Staatsoberhaupt (in Preußen auch die 1866 depossedierten Fürstenhäuser), ehemals reichsunmittelbare Standesherren (in Preußen nur für ihre Domanialgrundstücke), Gesandte fremder Mächte, Offiziere für den Fall der Mobilmachung, Beamte für einen Teil der Gemeindesteuer. Dann wird freigelassen nicht allein der Arme, sondern auch von der Einkommensteuer das sogen. Existenzminimum in England bis zu 150 Pfd. Sterl., in Preußen bis zu 900 Mk. Vorübergehende Befreiungen, insbesondere von Ertragssteuern, treten oft ein, wo sie durch die persönliche Lage (thatsächlich mangelnde Steuerfähigkeit), Elementarereignisse, Meliorationen mit zeitweiliger Ertragslosigkeit auch wirklich geboten ist. Aber auch Doppelbesteuerungen sind zu meiden. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich bei Beachtung eines gegebenen Steuersystems, wer als pflichtiges Steuersubjekt (Inländer gegenüber Ausländern, die Frage des abgeleiteten Einkommens, der Besteuerung von Gesellschaften, Stiftungen, Gemeinden etc.) durch die Steuer zu erfassen ist. b) Die Steuer soll gleichmäßig verteilt und gerecht sein. Die ältere Vergeltungstheorie betrachtete die Besteuerung als eine gerechte, wenn sie dem Vorteil entspreche, den der Steuerzahler von der Staatsverbindung habe (Leistung gleich der Gegenleistung). Dabei nahm man meist an, daß der Staat dem Reichen nach Maßgabe seines Reichtums mehr Vorteile biete als dem Armen. So gelangen wir praktisch zu dem meist vertretenen Steuerprinzip, welches die Steuerfähigkeit als richtigen Maßstab für die Steuerverteilung betrachtet. Meist wird jetzt verlangt, daß der Unkräftige freibleibe (Freilassung des Existenzminimums, die nicht bei allen S. möglich, bei Aufwandssteuern durch Wahl der Objekte angestrebt werden kann). Dann sollen die Steuerkräftigen verhältnismäßig stärker belastet werden, indem, wenigstens bei kleinem und mittlerm Einkommen, individuelle Verhältnisse (Krankheit, Stärke der Familie etc.) berücksichtigt werden, das fundierte Einkommen höher belastet wird. Streitig ist die Frage des Steuerfußes, d. h. hier des Verhältnisses von Gesamtsteuer des Pflichtigen zu dessen Gesamteinkommen. Von der einen Seite wird diejenige Steuer als gerecht bezeichnet, welche vom Einkommen einen gleichbleibenden Prozentsatz wegnehme
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Steuern (Steuersysteme).
(konstanter Steuerfuß), von der andern diejenige, welche das höhere Einkommen auch mit einem höhern Prozentsatz belaste (progressiver Steuerfuß, progressive Steuer). Die Idee der Progression findet mehrfach praktische Anwendung in der Einkommensteuer. Doch kann dieselbe immer nur darin bestehen, daß der Steuerfuß, wenn auch steigend, eine gewisse Höhe nicht überschreitet. weil sonst die bald übermäßig hoch werdende Steuer schädlich wirken würde. Infolgedessen wird sich bei großer Verschiedenheit des Einkommens die Steuer immer nur derart gestalten können, daß der Steuerfuß von unten auf steigend bei einer gewissen Einkommenshöhe einen gleichbleibenden Satz erreicht (degressiver Steuerfuß, degressive Steuer). Bei der Aufwandsteuer läßt sich die Progression durch entsprechende Auswahl der Steuerobjekte, höhere Belastung der bessern Qualitäten anstreben. Ob sie im ganzen verwirklicht wird, hängt von der Gestaltung des Steuersystems ab. c)Die Steuer soll den Pflichtigen richtig erfassen. Viele
S. werden in der Absicht aufgelegt, daß dieselben vom Zahler auf eine dritte Person übergewälzt werden (durch Abzug von Zahlungen, Erhöhung des Kaufpreises). Nicht immer sind solche überwälzungen möglich, auch können sie vorkommen, wo sie der Absicht des Gesetzgebers widersprechen. Die dadurch entstehenden Steuerprägravationen (einseitigen Steuerüberbürdungen), bez. Steuerfreiheiten sind möglichst durch richtige Wahl der S. und zweckmäßige Ausführung der Besteuerung zu mindern. Von der Steuerüberwälzung (als Rückwälzung vom Käufer auf den Verkäufer als Fortwälzung von diesem auf jenen) ist die sogen. Steuerabwälzung zu unterscheiden, welche darin besteht, daß der Steuerzahler die Steuer durch wirtschaftliche Verbesserungen ausgleicht.
2) Die Steuer soll ferner die wirtschaftliche Lage von Steuerzahler und Steuerträger, Erwerb und Verkehr nicht verkümmern. Dem entsprechend sind einseitige Steuerüberlastungen zu meiden und geeignete Besteuerungsformen anzuwenden.
III. Bezüglich der Erhebung ist endlich im Interesse von Verwaltung und Steuerzahler zu fordern: I) Einfachheit und Bestimmtheit der Steuer. Viele Steuervergehen werden unbewußt begangen, weil die S. und die Steuerbestimmungen zu verwickelt und unklar sind. 2) Möglichste Bequemlichkeit in Bezug auf Ort, Zeit und Art der Entrichtung. Der Zahlungsort soll dem Wohnort des Pflichtigen nicht zu entlegen sein. Die Steuer soll möglichst in der Zeit der Zahlungsfähigkeit erhoben werden, darum richtige Einteilung der Steuertermine, Zulassung von Steuerkrediten, wenn ohnedies die frühere Erhebung nur der formellen, nicht der tatsächlichen
Fälligkeit der Steuer entspricht (Rohstoffbesteuerung), ferner von Vorauszahlungen und Teilzahlungen. Die Erhebungsform soll mit ihrer Aufsicht, ihren Kontrollen und Vorschriften möglichst wenig lästig fallen.
3) Die Erhebungskosten sollen möglichst niedrig sein.
4) Die Steuer soll dem Reize zu Umgehungen (Ersatz besteuerter Verbrauchsgegenstände, Handlungen etc. durch unbesteuerte), Hinterziehungen (milder Ausdruck für zu niedrige Steuerfassion), Unterschleif, Schmuggel, Bestechung keinen Spielraum gewähren. Es gibt nun keine Steuer, welche allen diesen Anforderungen gleich vollkommen entspricht. Die gesamte Leistungsfähigkeit läßt sich nicht direkt voll erfassen, weil dieselbe für Dritte nicht genau erforschbar ist, vom Steuerpflichtigen aber richtige Angaben nicht zu erwarten sind. Die Besteuerung von Einkommen, bez. Ertrag würde weder zureichen, den gesamten Staatsbedarf ohne einseitigen Druck zudecken, noch eine gleichmäßige Verteilung der gesamten Steuerlast zu bewirken. Diese Steuer darf demnach eine gewisse Grenze nicht überschreiten und muß eine Ergänzung in der indirekten Steuer finden.
Steuersysteme.
Als indirekte Steuer (Aufschlag, in Österreich auch Steuergefälle genannt) wird meist eine solche verstanden, welche dem Steuerzahler in der Absicht aufgelegt wird, daß derselbe sie auf eine dritte Person, den Steuerträger, überwälze, während bei der direkten Steuer (Schatzungen) Zahler und Träger eine und dieselbe Person ist. Da die Erhebungsform der Aufwandsteuern vorwiegend eine indirekte ist, so bezeichnet man dieselben meist schlechthin als die indirekten S. und rechnet denselben vielfach noch die Gebühren und Verkehrssteuern hinzu, während die Ertragssteuern, die Personal- und Einkommensteuern und die allgemeinen Vermögenssteuern als direkte S. zusammengefaßt werden. Von dieser Auffassung weichen andre wesentlich ab. Hoffmann("Lehre von den S.") bezeichnete als direkte S. solche, die auf den Besitz, als indirekte solche, die auf eine Handlung gelegt werden; Conrad nennt indirekte S. diejenigen, bei denen man von den Ausgaben auf die Einnahmen und somit indirekt auf die Leistungsfähigkeit schließt, während bei direkten S. vom Besitz oder von den Einnahmen unmittelbar die Leistungsfähigkeit geschätzt wird.
Aus dem genannten Grund war man von jeher dazu gezwungen, mehrere S. miteinander zu verbinden, von denen eine die andre zu ergänzen bestimmt ist. Entspricht die Gesamtwirkung derselben den Grundsätzen der Besteuerung, so bilden die S. ein einheitliches organisches Steuersystem. Im praktischen Leben kommen folgende S. nebeneinander vor:
1) S., welche auf Produktions- und Erwerbsquellen gelegt werden, deren Erträge zu treffen bestimmt sind und demgemäß Ertragsteuern (s. d.) genannt werden. Dieselben sind echte Realsteuern, wenn sie auf die persönlichen Beziehungen des Besitzers zur Steuerquelle (Schulden, Möglichkeit einer sehr vorteilhaften Ausnutzung infolge persönlicher Tüchtigkeit, günstiger sozialer Stellung u. dgl., oder Schwierigkeit einer vorteilhaften Benutzung wegen Krankheit, Überbürdung mit andern Aufgaben, große Entfernung vom Wohnsitz etc.) gar keine Rücksicht nehmen. Eine folgerichtig durchgeführte Ertragsbesteuerung würde die gesamten Reinerträge, welche ein Volk zieht, und damit im wesentlichen auch das gesamte Einkommen desselben treffen. In der Praxis freilich kommt eine derartige Besteuerung nicht vor. Werden doch in den meisten Ländern wichtige Produktionsquellen von einer Ertragssteuer nicht belastet. Dann kommen bei Ertragssteuern leicht Doppelbesteuerungen vor, wenn bei denselben nicht scharf zwischen Real- und Personalsteuer unterschieden wird. Erträge werfen nun ab das Kapital und die Arbeitskraft. Bei jeder Unternehmung wären zu treffen alle Bezüge, welche den an der Unternehmung beteiligten Personen zufließen können, also der Unterschied zwischen dem gesamten Rohertrag und denjenigen Aufwendungen, welche für den Zweck der Produktion gemacht werden, ohne jenen Personen einen Genuß zu ermöglichen (Rohstoffe, Heizstoffe, Saatfrucht, Dünger etc.). Dieser Unterschied umfaßt die für die Arbeit gezahlten und berechneten Löhne, die gezahlten und zu berechnenden Kapitalzinsen und den dem Unternehmer verbleibenden Überschuß. Trifft man
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Steuern (Veranlagung und Erhebung).
denselben mit einer Art Unternehmungssteuer voll bei jedem Unternehmer, so brauchen die Löhne und die Zinsen der Leihkapitalien nicht noch besonders belastet zu werden. Kommen dagegen die Löhne in Abzug, so ist die Arbeitskraft als Ertragsquelle noch für sich zu besteuern. Ein vollständiges Ertragssteuersystem müßte alsdann treffen die Erträge: a) aus Grund und Boden (s. Grundsteuer); b) von Häusern (s. Gebäudesteuer); c) aus allen sonstigen gewerblichen und industriellen Unternehmungen (s. Gewerbesteuer); d) aus der Arbeit (s. Lohnsteuer). Wird unter diesem Titel nur die vermietete Arbeitskraft besteuert, so sind die aus der eignen Unternehmung gezogenen Arbeitserträge unter den Titeln von Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer zu treffen. Mehrere Länder besteuern nun noch besonders e) die aus Leihkapitalien fließenden Zinsen (s. Kapitalrentensteuer). Voraussetzung hierfür aber ist, daß bei den Ertragsstenern die Verschuldung berücksichtigt wird. Je mehr nun die S., welche die Reinerträge eines ganzen Erwerbskörpers (Fabrik, Landgut) treffen sollen, auf die einzelnen Personen gelegt werden, auf welche sich jene Erträge verteilen, desto mehr nimmt die Realsteuer den Charakter einer Personalsteuer an. Ganz vorzüglich ist dies der Fall, wenn die Steuer außerdem nicht nach den allgemein möglichen, sondern nach den wirklichen Erträgen bemessen wird.
2) S. auf persönliches Einkommen. Dieselben sind Personalsteuern, weil sie die Leistungsfähigkeit der einzelnen Personen treffen. Ist die Steuer auf das Gesamteinkommen gelegt, so nennt man sie allgemeine Einkommensteuer. (s. d.). Eine Abart derselben ist die Rang- oder Klassensteuer (s. d.), bei welcher nicht direkt das wirkliche Einzeleinkommen ermittelt, sondern aus äußern Merkmalen, welche zu Gruppenbildungen Veranlassung geben, auf die persönliche Leistungsfähigkeit geschlossen wird. Hierher wird auch vielfach die Kopfsteuer (s. d.) gerechnet. Dieselbe haftet allerdings an einer Person, ist jedoch mit der Realsteuer insofern verwandt, als sie einen allgemein möglichen Erwerb voraussetzt, ohne die wirkliche Höhe desselben zu berücksichtigen. Die Einkommensteuer kann jedoch auch in der Art aufgelegt werden, daß man die einzelnen Quellen desselben trifft, wie Einkommensbezüge aus Arbeit (Dienstleistungen, Hilfe bei der Produktion) und aus Besitz (Grundeigentum, Gebäude, flüssiges Kapital) und aus Verbindung von Arbeit mit Besitz (eigne Bewirtschaftung landwirtschaftlichen Geländes, Betrieb industrieller Unternehmungen etc.). Diese "partiellen Einkommensteuern" fallen mit denjenigen Ertragssteuern zusammen, welche die Erträge der Steuerquellen bei ihrer Verteilung auf die einzelnen an denselben bezugsberechtigten Personen erfassen.
3) S., welche nach Maßgabe des Aufwandes erhoben werden, welchen ein Steuerpflichtiger macht. Die wichtigsten derselben sind diejenigen, welche den Verbrauch von Sachgütern, wie Lebens- und Genußmittel (vgl. Zölle und Aufwandsteuern), treffen. Andre werden von Gebrauchsgegenständen erhoben, wie Häusern, Pferden, Hunden etc. Dann gehört hierher die Besteuerung der Ausgaben, welche für persönliche Dienstleistungen und Vergnügungen (Schaustellungen, Tanzvergnügen etc.) gemacht werden.
4) S. vom Vermögen, welche in der Wirklichkeit jedoch meist Aufwand- oder Einkommensteuern sind (vgl. Vermögenssteuern).
5) S., welche bei Gelegenheit von Handlungen und Ereignissen erhoben werden. Hierher gehören die Gebührensteuern (s. Gebühren), die Verkehrssteuern (s. d.), einschließlich der Erbschaftssteuern (s. d.).
6) S., welche ganz oder teilweise die Stelle anderweiter dem Staat schuldiger Leistungen vertreten. Dazu gehört insbesondere die Wehrsteuer (s. d.).
Veranlagung und Erhebung. Die Ausführung der Besteuerung (Veranlagung, Feststellung der Steuergrundlagen und Erhebung) ist bei vielen S., zumal bei denjenigen, bei welchen sich keine bleibenden Merkmale bieten, um Steuerpflicht und Steuerschuldigkeit zu erkennen und zu bemessen, mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Zunächst handelt es sich um Feststellung des Steuersubjekts, bez. des für dasselbe haftpflichtigen Stellvertreters. Dieselbe ist einfach bei den meisten direkten S., bei welchen amtliche Nachforschung, Grundbücher, Meldezwang des Pflichtigen zur Aufstellung von Steuerlisten führen, ebenso bei vielen indirekten Verbrauchssteuern, bei welchen äußere Thatsachen und gewerbepolizeiliche Listen die Ermittelung erleichtern. Bei Zöllen und Accisen ist der Frachtführer, bez. (besonders bei dem Begleitscheinverfahren) der Eigentümer zahlungspflichtig. Bei vielen Verkehrssteuern ist durch Gesetz zu bestimmen, wer von beiden Parteien die Steuer zu entrichten hat. Bei mehreren S. fällt die Ermittelung der Steuersubjekte mit derjenigen der Steuerobjekte zusammen, von welchen S. zu entrichten sind. Großen Schwierigkeiten begegnet meist die Bewertung der Objekte, zumal wo es an äußerlich leicht erkennbaren Merkmalen und an objektiven Maßstäben fehlte. Die Bemessung kann erfolgen durch die Pflichtigen selbst (Fassion, Steuerbekenntnis bei der Einkommensteuer, der Kapitalrentensteuer, Deklaration), durch Steuergesellschaften, d. h. eine Gruppe von Steuerpflichtigen, welche eine ihr auferlegte Gesamtsumme auf die einzelnen Mitglieder verteilt, durch besondere Steuerkommissionen oder Steuerausschüsse, welche auf Grund äußerer Merkmale, von Personal- und Sachkenntnis die Einschätzung vornehmen, durch die Steuerbehörde (Steuerkommissar, Steuerperäquator etc.) selbst, bei einigen S. unter Zuziehung von Sachverständigen etc. (vgl. Kataster). Die Steuereinhebung wurde früher oft verpachtet, so in Rom, wo die Ritter gewerbsmäßig als publicani (Steuerpachter) auftraten, in Frankreich, wo die fermiers généraux (Generalpachter) die S. der Regierung vorstreckten. Doch kommt die Verpachtung heute nur noch selten vor. In manchen Fällen besorgt die Gemeinde die Erhebung, bald als einfaches Erhebungsorgan, bald mit voller Steuerhaftung, indem sie in diesem Fall oft eine Aversalsumme zahlt und diese auf ihre Mitglieder verteilt. Ebenso können dritte Personen, bei welchen sich viele Steuerschuldigkeiten konzentrieren, die Einhebung übernehmen (bei verschiedenen Gebühren und Verkehrssteuern). Meist besorgt heute der Staat die Erhebung in Regie durch eigne Steuerbeamte (Steuereinnehmer, Steuerempfänger, Steuerperzeptor etc.), insbesondere beim Zollwesen, bei verschiedenen direkten Steuern etc. Bisweilen wird hierbei unter Ersparung spezieller Berechnungen und lästiger Einzelkontrollen die Erhebung dadurch vereinfacht, daß der Steuerpflichtige eine vertragsmäßig festgesetzte Summe für eine bestimmte Periode als Steuerabfindung (Fixation) entrichtet. Im Interesse der Pflichtigen und des richtigen Steuereingangs sind nötig die amtliche Benachrichtigung und Steueransage (Zustellung von Steuerzetteln), Festsetzung von Steuerterminen und Steuerfristen, die Gewährung von Steuerkrediten (Gestattung der Zahlung zu späterer Zeit als der gesetzlich bestimmten, wenn letztere
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Steuerrepartition - Steuerung.
eigentlich zu früh angesetzt ist) unter Sicherheitsleistung, die Einräumung des Reklamations-, Beschwerde-, Steuerklagerechts gegenüber der Einschätzung und Erhebung und die Steuerrestitution (Rückersatz, auch als Exportbonifikation) bei Zahlungen, welche über die Grenze der Steuerschuldigkeit hinausgehen. Bei ausbleibender Zahlung tritt Mahnung und Pfändung (Steuerexekution) ein, allenfalls bei augenblicklicher Zahlungsunfähigkeit die Steuerstundung, bei Uneinbringlichkeit die Niederschlagung (Steuererlaß) oder Steuerabschreibung (der Steuerrückstände oder Steuerreste), ohne solche aber auch nach bestimmter Frist die Steuerverjährung. Mittel zur richtigen Durchführung gegenüber Steuerhinterziehungen, Defraudationen etc. sind die Steuerkontrolle, die Steuerstrafe, der Steuereid, die Denunziantengebühr, die Öffentlichkeit des Steuerverfahrens, Begehung von gegensätzlichen Interessenten bei der Einsteuerung etc. Mitte der 80er Jahre waren die Einnahmen
an direkten Steuern Mill. Mk. %
an indirekten Steuern Mill. Mk. %
aus andern Quellen Mill. Mk. %
pro Kopf d. Bevöl-kerung Mark
Deutsches Reich nebst Gliederstaaten 260 13 600 29 1240 59 30 70 19,40
Österr.-Ungarn 280 21 670 49 410 31 30 70 26,00
Rußland 250 19 780 60 270 30 25 75 11,00
Italien 310 25 590 44 410 21 36 64 29,80
Frankreich 340 14 1800 74 290 18 15 85 56,80
Großbritannien. 270 15 1170 67 310 12 21 79 41,00
Vgl. Gebühren, Zölle, Aufwandsteuern sowie die verschiedenen Artikel über die einzelnen S.
[Litteratur.] Außer den unter "Finanzwesen" angegebenen Werken vgl. Hofmann, Die Lehre von den S. (Berl. 1840); v. Hock, Die öffentlichen Abgaben und Schulden (Stuttg. 1863); Förstemann, Die direkten und indirekten S. (Nordh. 1868); Schäffle, Die Grundsätze der Steuerpolitik (Tübing. 1880); Roscher, System der Finanzwissenschaft (Stuttg. 1886); Kaizl, Die Lehre von der Überwälzung der S. (Leipz. 1882); v. Falck, Rückblicke auf die Entwickelung der Lehre von der Steuerüberwälzung (Dorp. 1882); R. Meyer, Die Prinzipien der gerechten Besteuerung (Berl. 1884); Fr. J. Neumann, Die Steuer (Leipz. 1887, Bd. 1); Holzer, Historische Darstellung der indirekten S. (Wien 1888) ; Mangoldt, Das deutsche Zoll- u. Steuerstrafrecht (Leipz. 1886) ; Vocke, Die Abgaben, Auflagen und die Steuer vom Standpunkt der Geschichte etc. (Stuttg. 1887); Rousset, Histoire des impôts indirects (Par. 1883).
Steuerrepartition, s. v. w. Steuerverteilung, Umlegung einer bestimmten Summe auf die einzelnen steuerpflichtigen Personen oder Gegenstände. Vgl. Repartitionssteuern und Kontingentierung der Steuern.
Steuerrollen, s. Heberolle n.
Steuerruder (Ruder), Vorrichtung zum Lenken des Schiffs, bestehend aus einem hölzernen oder eisernen Blatt, welches in vertikaler Ebene, drehbar am Hintersteven des Schiffs, ähnlich wie eine Thür in ihren Angeln, befestigt ist. Man unterscheidet am S. das Ruderblatt, welches sich ganz oder zum größten Teil unter Wasser befindet, und den Ruderhals mit dem Ruderkopf, welche, wenn erforderlich, wasserdicht durch die Schiffswand geführt, in den innern Schiffsraum hineinragen. Am Ruderkopf greift die Ruderpinne an, ein hölzerner oder eiserner einarmiger Hebel, oder das Ruderjoch, ein eiserner zweiarmiger Hebel. Während die Pinne gewöhnlich mit dem Ruderblatt in einer Ebene liegt, steht das Ruderjoch im allgemeinen querschiffs. Durch Drehung der Pinne oder des Jochs wird das Ruder um einen ebenso großen Winkel aus der Symmetrieebene des Schiffs herausgedreht und dadurch die Symmetrie des den Schiffskörper umgebenden Wasserstroms gestört, vorausgesetzt, daß ein solcher infolge der bis dahin geradlinigen Bewegung des Schiffs vorhanden ist. Das Schiff wird dadurch gezwungen, von seiner bisherigen Bahn in der Weise abzuweichen, daß der Mittelpunkt der vom Schwerpunkt des Schiffs beschriebenen Bahnlinie auf derjenigen Seite des Schiffs liegt, nach welcher das Ruderblatt gedreht wurde. In neuerer Zeit ist bei einzelnen größern Schiffen (König Wilhelm) das Balanceruder zur Anwendung gekommen, ein Ruder, dessen Drehachse die Fläche des Ruderblattes ungefähr in dem Verhältnis von 1:2 teilt, so daß ein Drittel des Flächeninhalts des Blattes vor der Drehachse liegt. Ein Balanceruder bedarf einer kleinern Kraft zum Drehen als ein ebenso großes gewöhnliches Ruder und kann infolgedessen schneller gedreht werden. Anderseits kehrt es nicht so schnell in seine neutrale Lage zurück wie dieses. Die Bewegung der Pinne ersolgt bei kleinern Schiffen direkt mit der Hand, bei größern Schiffen durch Flaschenzüge, Zahnradübersetzungen, Schraubenräder, hydraulische Pressen etc. Die Kraft wird am Steuerrad eingeleitet, einem mit Griffen versehenen, um eine horizontale Achse drehbaren Speichenrad, welches eventuell in mehrfacher Ausführung vorhanden sein muß, um eine größere Anzahl von Leuten zum Drehen des Ruders verwenden zu können. Der Widerstand des um einen gewissen Winkel gedrehten Ruders ist unter sonst gleichen Umständen proportional mit dem Quadrat der Schiffsgeschwindigkeit; steigert man diese auf das Doppelte, so wächst dadurch der Widerstand des Ruders auf die vierfache Größe. Es ist daher erklärlich, daß bei den neuesten Schiffen mit Geschwindigkeiten bis zu 20 Knoten und darüber zur Bewegung des Ruders Menschenkraft nicht mehr ausreicht, um das Schiff Bahnlinien von starker Krümmung beschreiben zu lassen. Dies ist die Veranlassung zur Einführung des Dampfsteuerapparats, einer kleinen, zweicylindrischen Dampfmaschine, welche die Achse der bisherigen Steuerräder nach Steuerbord oder Backbord in Rotation versetzt. Die Verrichtung des Mannes am Ruder beschränkt sich alsdann auf das Anlassen dieser Maschine in der einen oder andern Richtung und deren rechtzeitige Arretierung.
Steuerüberwälzuug, s. Steuern, S. 312.
Steuer- und Wirtschaftsreformer, s. Agrarier.
Steuerung, Vorrichtung, mittels deren der Zufluß einer gepreßten Flüssigkeit oder Luftart zu einer Kraftmaschine und der Abfluß derselben nach ihrer Wirksamkeit so geregelt wird, daß der Gang der Maschine zu stande kommt. Die einer solchen S. benötigten Kraftmaschinen, mit Ausnahme der nur ganz vereinzelt vorkommenden sogen. rotierenden Dampfmaschinen, nehmen den Druck der Flüssigkeiten, Gase oder Dämpfe mittels eines Kolbens auf, welcher in einem Cylinder durch ebendiesen Druck hin- und hergetrieben wird. Um dies letztere zu ermöglichen, muß man den arbeitenden Dampf etc. abwechselnd gegen die eine oder andre Seite des Cylinders drücken und den verbrauchten Dampf etc. auf der der jedesmaligen Druckrichtung entgegengesetzten
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Steuerverein - Stewarton.
Seite wieder austreten lassen. Dazu dient die S., welche in der Regel von der Maschine aus selbstthätig bewegt, seltener von Menschenhand bedient wird (z. B. bei Hebemaschinen mit direkt wirkendem hydraulischen oder Dampfcylinder, bei Dampfbremsen etc.). Man unterscheidet bei jeder S. eine innere und eine äußere S.: erstere bestehend aus irgend einer oder mehreren Absperrvorrichtungen (Ventilen, Schiebern, Hähnen, Kolben), letztere aus Exzentriks, Daumen, Wellen, Stangen, Hebeln etc. oder auch aus kleinen Cylindern mit Kolben etc., überhaupt aus Mechanismen, mittels welcher die erstern in passender Weise geöffnet oder geschlossen werden. Schieber-, Ventil- und Hahnsteuerungen werden besonders bei Dampfmaschinen und ähnlichen Umtriebsmaschinen, Kolbensteuerungen namentlich bei den Wassersäulenmaschinen verwendet. Die Einrichtungen der äußern Steuerungen sind außerordentlich mannigfaltig; man unterscheidet Einrichtungen für die eine Rotation hervorbringenden Maschinen, welche ihre Bewegung meist von einer rotierenden Welle (Schwungradwelle) aus erhalten, und solche für die sogen. direkt wirkenden, d. h. ohne Rotation, nur hin- und hergehend arbeitenden Motoren, welche von einem hin und her bewegten Maschinenteil bethätigt werden. Hierher gehören die Steuerungen von Dampfhämmern, Gesteinsbohrmaschinen, direkt wirkenden Dampfpumpen, Wasserhaltungsmaschinen etc. Sehr ausgebildet sind die Steuerungen der Dampfmaschinen und besonders die Expansionssteuerungen mit durch den Regulator verstellbarem Expansionsgrad oder Präzisionssteuerungen (s.Dampfmaschine, S. 464 f.). Umsteuerungen bewirken bei Maschinen mit rotierender Bewegung eine Richtungsänderung der Rotation, z. B. bei Lokomotiven, Dampfschiffen, Fördermaschinen, Walzwerken etc. Hierher gehören die Kulissensteuerungen (erfunden von Stephenson, abgeändert von Gooch, Allan u. a.), bestehend aus einer geschlitzten Schiene (Kulisse), deren Enden von zwei auf der Kurbelwelle der Lokomotive etc. um 180° versetzten Exzentriks so bewegt werden, daß sie abwechselnd vor- und rückwärts gehen. In dem Schlitz der Kulisse läßt sich ein Gleitstück (Stein) auf- und niederschieben, welches mit einer die Bewegung des Schiebers, der Ventile oder Hähne der S. vermittelnden Stange verbunden ist, so daß die betreffenden Absperrungsorgane bald von dem einen, bald von dem andern Exzenter ihre Bewegung erhalten oder in Ruhe bleiben, je nachdem die Maschine vorwärts oder rückwärts gehen oder stillstehen soll. Steuerungen kommen auch bei manchen Arbeitsmaschinen vor, so z. B. bei den Schiebergebläsen und Schieberpumpen zur Bewegung ihrer Schieber. Die S. der Metallhobelmaschine erzeugt selbstthätig den regelmäßigen Wechsel der Bewegungsrichtung der das Arbeitsstück tragenden Platte (Tisch).
Steuerverein, s. Zollverein.
Steuerverweigerung, s. Steuerbewilligung etc.
Steuervorschuß, s. Antizipation.
Steuerzölle, s. Zölle.
Steuerzuschläge, die Abgaben, welche Gemeinden zur Deckung ihres Bedarfs als Zuschläge zu bestehenden (direkten) Staatssteuern erheben. Vgl. Gemeindehaushalt.
Stev., bei botan. Namen Abkürzung für Ch. Steven, geb. 1781 zu Fredriksham, bereiste Taurien und den Kaukasus, gest. 1863 in Simferopol.
Steven, die das Schiff vorn (Vordersteven) und hinten (Achtersteven) begrenzenden, mehr oder weniger senkrecht aufsteigenden Hölzer; s. Schiff, S. 455.
Stevens, Alfred, belg. Maler, geb. 11. Mai 1828 zu Brüssel, besuchte das Atelier von Navez in Brüssel und später das von Roqueplan in Paris und malte anfangs kleine Historienbilder, wandte sich aber bald der Schilderung des eleganten Pariser Lebens der Gegenwart zu. S. schildert mit Vorliebe das Pariser Damenboudoir mit seinen Bewohnerinnen mit außerordentlicher koloristischer Zartheit, seinem Geschmack des Arrangements u. pikanter Charakteristik. Seine sehr zahlreichen Bilder sind meist im Privatbesitz. Das Museum zu Brüssel besitzt : die Allegorie des Frühlings, der Besuch; das zu Marseille: ausgelassene Maskengruppe am Aschermittwochsmorgen; die Ravené-Galerie in Berlin: die Tröstung. Von seinen übrigen Bildern sind hervorzuheben: die Unschuld, das Neujahrsgeschenk, der Morgen auf dem Lande, die japanisierte Pariserin, die Dame im Atelier, der Frühling des Lebens. Für den König der Belgier malte er in Fresko die vier Jahreszeiten als Frauengestalten in moderner Tracht (auch als Ölbilder wiederholt). Er lebt in Paris. Vgl. Lemonnier in der "Gazette des beaux-arts" 1878. -
Sein Bruder Joseph S. (geb. 1822 zu Brüssel) hat sich ebenfalls in der Pariser Schule gebildet und ist als Tiermaler in Brüssel thätig. Seine Hauptwerke sind: der Hund des Gefangenen, eine Episode auf dem Hundemarkt in Paris, und eine Brüsseler Straße am Morgen (beide im Museum zu Brüssel), der naschende Affe und der Hund mit der Fliege.
Stevens Point (spr. stihwens peunt), Stadt im nordamerikan. Staat Wisconsin, am obern Wisconsinfluß, mit Sägemühlen, Holzhandel und (1885) 6510 Einw.
Steward (engl., spr. stjuh-erd), Verwalter, Ordner, Rentmeister; auf Schiffen s. v. w. Oberkellner. Vgl. High Steward.
Stewart (spr. stjuh-ert), 1) Dugald, schott. Philo-soph, geb. 22. Nov. 1753 zu Edinburg, erhielt schon 1775 die Professur der Mathematik an der dortigen Universität als Nachfolger seines Vaters, 1780 die der Moralphilosophie und starb, seit 1810 in den Ruhestand versetzt, 11. Juni 1828 in Edinburg. Von seinen oft ausgelegten Schriften, die ihn als einen der Hauptvertreter der sogen. schottischen Schule kennzeichnen, sind hervorzuheben: "Elements of the philosophy of the human mind" (Edinb. 1792-1827, 3 Bde.); "Outlines of moral philosophy" (das. 1793); "Philosophical essays" (das. 1810); "Philosophy of the active and moral powers" (das. 1828). Eine Gesamtausgabe seiner Werke besorgte Hamilton (Edinb. 1854-58, 10 Bde.).
2) Balfour, Physiker, geb. 1. Nov. 1828 zu Edinburg, studierte daselbst und in St. Andrews, wurde 1859 Direktor des Observatoriums in Kew, 1867 Sekretär des meteorologischen Komitees, 1870 Professor der Physik am Owen's College in Manchester und starb 21. Dez. 1887. Er lieferte mit De la Rue und Loewy sehr bedeutende Untersuchungen über die Physik der Sonne und mit Tait über die Erzeugung von Wärme bei der Rotation der Körper im luftleeren Raum; auch lieferte er mehrere Arbeiten über Magnetismus und Meteorologie und schrieb: "Elementary treatise on heat" (5. Aufl. 1888); "Lessons in elementary physics" (1871; erweiterte Ausg. 1888; deutsch, Braunschw. 1872); "Physics" (7. Aufl. 1878); "The conservation of energy" (4. Aufl. 1878; deutsch, Leipz. 1875); "The unseen universe" (mit Tait, 6. Aufl. 1876); "Lessons in elementary practical physics" (mit Glee, 1885-87, 2 Bde.).
Stewarton (spr. stjúh-ert'n), Binnenstadt im nördlichen Ayrshire (Schottland), mit Woll- und Kappenfabrikation und (1881) 3130 Einw.
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Steyermark - Stickerei.
Steyermark, s. Steiermark.
Steyr, Stadt mit eignem Statut in Oberösterreich, an der Mündung des Flusses S. in die Enns und an der Bahnlinie St. Valentin-Pontafel, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft (für die Umgebung von S.) und eines Kreisgerichts, hat eine 1443 vollendete gotische Stadtpfarrklrche, eine 980 erbaute, jetzt fürstlich Lambergsche Burg, ein Rathaus, eine Oberrealschule, Handelsschule, Fachschule für Eisen- und Stahlindustrie, eine bedeutende Sparkasse (Einlagen 10 Mill. Guld.), eine Pfandleihanstalt und (1880) mit den Vorstädten 17,199 Einw. S. ist ein Hauptsitz der österreichischen Eisenindustrie und des Eisenhandels. Es bestehen daselbst: eine große Waffenfabrik, welche hauptsächlich Armeegewehre verfertigt, außerdem Maschinenfabriken, Unternehmungen für Messerschmiedewaren, Ahlen, Feilen, Nägel, Bohrer, Ring- u. Kettenschmiedewaren; ferner Bierbrauereien, Druckereien und Färbereien, Gerbereien und Papiermühlen. S. war ehemals Hauptort einer Markgrafschaft, welche dem Land Steiermark den Namen gab. Südlich von S. liegt das Dorf Garsten mit Männerstrafanstalt (ehemals Benediktinerstift). Vgl. Widmann, Fremdenführer für S. (Steyr 1884).
Stheino (Stheno), eine der Gorgonen (s. d.).
Sthelenos, nach griech. Mythus Sohn des Kapaneus und der Euadne, war Teilnehmer am Epigonenzug und am Trojanischen Krieg, wo er als treuer Gefährte und Wagenlenker des Diomedes tapfer mitkämpfte. Auch ein Sohn des Perseus und der Andromeda, welcher den König Amphitryon (s. d.) von Tiryns vertrieb, hieß S.; er war Vater des Eurystheus.
Sthenie (griech.), strotzende Kraftfülle (vgl. Asthenie); sthenisch, vollkräftig; sthenisieren, kräftigen, die Wirkung der Lebenskraft erhöhen.
St. Hil., bei botan. Namen Abkürzung für A. F. C. Prouvensal de Saint-Hilaire (s. d.).
Stibine (Antimonbasen), s. Basen.
Stibio-Kali tartaricum, s. v. w. Brechweinstein.
Stibium, Antimon; S. chloratum, muriaticum, Antimonchlorid; S. sulfuratum aurantiacum, s. Antimonsulfide; S. sulfuratum nigrum, Spießglanz, s. Antimonsulfide; S. sulfuratum rubrum, Mineralkermes, s. Antimonsulfide.
Stich, Bertha und Klara, Schauspielerinnen, s. Crelinger.
Stichblatt, an Schwertern und Degen die über dem Griff zum Schutz der Hand angebrachte Platte, welche oft künstlerisch verziert ist. Besonders von Sammlern gesucht sind die in Eisen geschnittenen, mit Bronze, Silber und Gold tauschierten japanischen Schwertstichblätter.
Stiche, s. Seitenstechen und Bruststiche.
Stichel, s. v. w. Grabstichel.
Stichkappe, eine dreieckige gewölbte Fläche, welche an den Stirnseiten eines Tonnengewölbes in die Fläche desselben einschneidet. Vgl. Gewölbe, S. 312.
Stichkoupon, s. Koupon.
Stichling (Gasterosteus Art.), Gattung aus der Ordnung der Stachelflosser und der Familie der Stichlinge (Gasterostoidei), Fische mit spindelförmigem, seitlich zusammengedrücktem Körper, spitziger Schnauze, sehr dünnem Schwanzteil, Bürstenzähnen, freien Rückenstacheln vor der Rückenflosse, bauchständigen, fast nur aus einem Stachelstrahl bestehenden Bauchflossen und bisweilen mit 4-5 Reihen kleiner Schilder an den Seiten. Der gemeine S. (Stechbüttel, G. trachurus L., s. Tafel "Fische II", Fig. 16), 8 cm lang, mit drei Stachelstrahlen vor der Rückenflosse, oberseits grünlichbraun oder schwarzblau, an den Seiten und am Bauch silberfarben, an der Kehle und Brust blaßrot, variiert vielfach in der Färbung, findet sich in ganz Europa, mit Ausnahme des Donaugebiets, und ebenso häufig im süßen Wasser wie im Meer. Er ist lebhaft, räuberisch und streitsüchtig, kämpft tapfer mit seinen Stacheln und ändert in der Erregung seine Färbung; er jagt auf alle Tiere, welche er zu überwältigen vermag, besonders auf Fischbrut, und ist äußerst gefräßig. Er laicht in seichtem Wasser auf kiesigem oder sandigem Grund und baut aus Wurzelfasern, Halmen etc., die er mit einem eigentümlichen Klebstoff verbindet, ein faustgroßes, länglichrundes Nest mit einem seitlichen Eingang, welches er freischwebend zwischen Wasserpflanzen befestigt oder halb im Sand vergräbt. In dieses Nest legt das Weibchen seine Eier und bohrt dann auf der dem Eingang entgegengesetzten Seite ein Loch in das Nest, um sich zu entfernen. Das Männchen schafft noch mehrere Weibchen herbei, befruchtet die Eier, bewacht und verteidigt dann das Nest und sorgt durch Bewegung seiner Flossen für die nötige Strömung in demselben. Auch die Jungen überwacht er und führt entweichende im Maul zum Nest zurück. Auch in der Gefangenschaft baut er Nester und pflanzt sich fort. Der S. soll nur drei Jahre alt werden. In der Teichwirtschaft ist der S. nicht zu dulden; an der Nordsee fängt man ihn oft in großer Menge und benutzt ihn als Dünger, Schweinefutter und zum Thransieden.
Stichomantie (griech.), eine Art Wahrsagung aus Zeilen oder Versen (stichos), welche bei den Römern darin bestand, daß Stellen aus Dichtern (namentlich aus Vergil, auch aus den Sibyllinischen Büchern) auf Zettel geschrieben und diese, nachdem man sie in einer Urne gemischt hatte, gezogen wurden. Aus dem zufällig gezogenen Los weissagte man sich Gutes oder Schlimmes. Außer andern Büchern wurde später besonders die Bibel zu ähnlichem Zweck benutzt.
Stichometrie (griech.), bei den Alten übliches Abmessen oder Zählen der Zeilen (stichos) in den Handschriften, um den ungefähren Umfang einer Schrift bestimmen zu können (vgl. Ritschl, De stichometria veterum, Bonn 1840); in der Rhetorik eine Antithese, welche im Dialog durch Behauptung und Entgegnung entsteht, wie z. B. in der ersten Szene von Schillers "Maria Stuart".
Stichtag, bei Zeitgeschäften der Tag der Erfüllung; s. Börse, S. 236.
Stichwahl, s. Wahl.
Stichwort (Schlag- oder Merkwort), in der Bühnensprache diejenigen Worte eines Darstellers, nach welchen ein andrer aufzutreten oder seine Rede anzufangen hat. Ebenso gibt das S. das Signal zu gewissen in der Handlung des Stücks bedingten szenischen Vorgängen.
Stickerei, eine Kunst, durch welche verzierende Darstellungen auf schmiegsamen, Falten werfenden Stoffen, also auf Geweben, Gewändern, Leder etc., mit der Nadel hergestellt werden. Von den Chinesen von alters her gepflegt, war die S. auch den alten Indern und Ägyptern bekannt. Diese gingen in ihren verzierenden Zeichnungen noch nicht über geometrische Figuren hinaus, wogegen die Assyrer zuerst Tier- und Menschengestalten auf ihren glatt anschließenden Kleidern und Vorhängen zur Darstellung brachten. Von ihnen lernten die Griechen und von diesen die Römer, welche die S. phrygische Arbeit nannten. Im Mittelalter wurde sie in den Klöstern im Dienste des Kultus für geistliche Gewänder und Altarbekleidung (Paramente) gepflegt. Ihre Arbeiten wurden vom 11. Jahrh. an von arabischen Kunstanstalten
317
Stickertressen - Stickmaschine.
übertroffen. Seltene Beispiele, wie ein deutscher Kaiserkrönungsmantel, zeugen noch heute von der Höhe der damaligen S. Mit der geistigen Bildung kam auch die Kunst des Stickens in weltliche Hände. Erst in England, später aber in Burgund erreichte sie im 14. Jahrh. die höchste Ausbildung und ist seitdem langsam bis auf unsre Zeit ganz in Verfall geraten, wo auch sie an der allgemeinen Hebung des Kunstgewerbes ihren Anteil erhielt und jetzt eine verständnisvolle Pflege, zum Teil durch größere Ateliers (Bessert-Nettelbeck in Berlin), findet. Die S. verziert nicht nur, sondern sie bedeckt oft den ihr zu Grunde gelegten Stoff ganz; man könnte danach Weiß- und Buntstickerei unterscheiden, wenngleich auch bei der letztern zuweilen der Grund frei stehen bleibt. Die Buntstickerei kann entweder auf einen dichten Grund, auf Leinwand, Tuch, Seide, Leder, oder auf einen eigens dazu gefertigten, siebartig durchlöcherten Stoff, Kanevas, aus Hanf, Leinen, Baumwolle, auch Seide aufgesetzt sein. Auf Kanevas werden hauptsächlich der gewöhnliche Kreuzstich und seine Abarten (Gobelinstich, Webstich) ausgeführt sowie der sehr feine Petitpoint-Stich, welcher sehr zarte, mosaikartige Bildnerei ermöglicht. Weniger mühsam als der letztere, aber besser als der Kreuzstich zur figürlichen Darstellung geeignet ist der Plattstich, mit dem die mittelalterlichen Arbeiten fast durchgängig auf dichtem Grund gefertigt sind. Während der Petitpoint-Stich nur mit Seidenfäden hergestellt wird, verwendet man für die andern Sticharten gewöhnlich gefärbte Wolle, wenn auch bei ihnen Seide, Goldfäden und sogar zeitweise mit eingenähte Perlen nicht ausgeschlossen sind. Andre Arten der S. sind: der Kettenstich, bei welchem jeder Stich doppelt gemacht wird, indem der Faden von unten nach oben und durch dasselbe Loch wieder zurückgeht, so eine Schleife bildend, durch welche er, nachdem er durch ein neues Loch wieder nach oben gekommen, gezogen wird; der Steppstich, bei welchem auf der untern Seite des Stoffes ein langer Stich gemacht wird, auf der obern Seite um die Hälfte der Ausdehnung desselben wieder zurückgegriffen wird, so daß auf der untern Seite jeder Stich doppelt so lang ist wie oben; in umgekehrter Anwendung entsteht der Stielstich. Noch andre Arten des Stichs (Flechtenstich, Doppelstich, Gitterstich, maurischer, spanischer Stich) sind bei Lipperheide, Muster altitalienischer Leinenstickerei (Berl. 1881-85, 2 Bde.), beschrieben. Die Art der im Mittelalter hochberühmten Goldstickerei, die so wunderbare Wirkung hervorbrachte, wie man sie noch an den in Wien aufbewahrten sogen. burgundischen Gewändern aus dem 15. Jahrh. sieht, ist technisch sehr von der unsrigen verschieden. Während jetzt die Goldfäden wie andre Fäden behandelt werden, legte man sie früher parallel nebeneinander und nähte sie mit Überfangstichen fest. Auf den so erst gebildeten Grund wurde nun mit Plattstich die eigentliche S. gesetzt, durch welche das Gold hindurchschimmerte (Reliefstickerei). Die heutige Gold- und Silber-Kannetillestickerei nähert sich schon der Perlenstickerei. Dieses reihenweise Aufnähen billiger Glasperlen hat dadurch, daß es den Grundstoff schwer und unbiegsam macht, viel zum Verfall der Kunst beigetragen. Für den künstlerischen Wert ist allemal die Vorzeichnung des Musters wichtig, die jetzt selten die Erfindung des Verfertigers einer S. ist. Die Herstellung der Muster ist dagegen zum besondern Industriezweig der Dessinateure oder Musterzeichner geworden. Eine eigne Art der S. ist noch das Tamburieren, das nicht mit der Nähnadel, sondern mit dem Häkelhaken geschieht, wie auf den Handrücken feiner Glaceehandschuhe. Ferner werden jetzt feine Lederwaren, namentlich in Amerika, sehr zart durch auf der Nähmaschine hergestellten Steppstich verziert. Die Weißstickerei, abgesehen von der Namenstickerei, dem Zeichnen der Wäsche, beschränkt sich auf Verzierung der Wäsche und des Tischzeugs in Leinwand oder Baumwolle (deshalb auch Leinenstickerei genannt). In der sogen. französischen Weißstickerei herrscht mehr der Plattstich, in der englischen der durchbrochene Arbeit liefernde Bindlochstich vor; doch kommen bei beiden noch der Languettenstich und verschiedene Phantasiestiche zur Anwendung. Die venezianische Weißstickerei, bei der stellenweise der Grund nach der Arbeit entfernt wird, so daß die durchbrochenen Stellen durch feine Fadenverschlingungen gefüllt werden, streift schon nahe an die Spitzennäherei. Die Weißstickerei ist im westlichen Europa mehr Sache der Industrie; in Deutschland wird sie im sächsischen Vogtland, namentlich in Plauen, und den angrenzenden Gegenden des Erzgebirges und des bayrischen Oberfranken und zwar in ausgedehntester Weise mit Stickmaschinen (s. d.) betrieben. Vgl. die bei den Artikeln Handarbeiten und Spitzen angeführte Litteratur, insbesondere die Musterbücher von H. Sibmacher (dazu noch: Kreuzstichmuster, 36 Tafeln der Ausgabe von 1604, Berl. 1885), und Drahan, Stickmuster (Wien 1873); "Original-Stickmuster der Renaissance" (2. Aufl., daf. 1880); Lessing, Muster altdeutscher Leinenstickerei (3 Sammlungen, Berl.); Teschendorff, Kreuzstichmuster für Leinenstickerei (das. 1878-83, 2 Hefte); Wendler, Stickmuster nach Motiven aus dem 16. Jahrhundert in Farben gesetzt (das. 1881); H. Schulze, Mustersammlung alter Leinenstickerei (Leipz. 1887); Fröhlich: Neue farbige Kreuzstichmuster (Berl. 1888), Neue Borden (das. 1888), Allerlei Gedanken in Vorlagen für das Besticken und Bemalen unsrer Geräte (das. l888).
Stickertressen, s. Bortenweberei.
Stickftuß, s. Lungenödem.
Stickgas, s. v. w. Stickstoff.
Stickhusten, s. Keuchhusten.
Stickmaschine, von Josua Heilmann 1829 erfundene Vorrichtung zur Herstellung von Stickereien auf Geweben. Die Figuren entstehen hierbei dadurch, daß die Fäden an den Figurenrändern mittels Nadeln so durch das Gewebe gesteckt und durchgezogen werden, daß sie nach und nach auf der Fläche das Muster erhaben bilden, z. B. indem (Fig. 1) der Faden den durch die Zahlen 1-10 angedeuteten Verlauf nimmt, 1-2 oben, 2-3 unten, 3-4 oben u. s. f. Die Heilmannsche S., welche bis heute keine wesentliche Abänderung erfahren hat, ahmt die Handarbeit genau nach und besteht in der Hauptsache aus drei Teilen, nämlich einem Rahmen, an welchem das mit Stickerei zu versehende Zeug ausgespannt wird, den Nadeln und einem Apparat, welcher die Nadel ergreift, durchs Zeug sticht und mit dem Faden durchzieht, also die Hand des Arbeiters ersetzt. Bei der S. ist nun aber der Rahmen nicht, wie beim Handsticken, horizontal feststehend, sondern beweglich und zwar so, daß das Zeug immer in einer vertikalen Ebene bleibt, während die Nadeln nur eine horizontale Bewegung machen. Wenn also eine Nadel durch das Zeug an einer Stelle, z. B. Punkt 1 der Fig. 1, durchgegangen ist, so wird der Rahmen so bewegt, daß die Nadel beim Zurückstechen den nächsten Punkt, z. B. Punkt 2 der Fig. 1,
[Fig 1.]
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Stickmaschine.
trifft. Die S. arbeitet mit einer großen Anzahl Nadeln, welche in zwei horizontale Reihen so verteilt sind, daß auf dem Zeuge gleichzeitig zwei kongruente Stickereien an zwei verschiedenen Stellen gebildet werden. Dazu ist es nötig, daß der Rahmen stets parallel verschoben wird. Zu dem Zweck liegt der vertikale Stickrahmen A (Fig. 2) mit zwei runden Schienen a auf Rollen b, welche wieder in einem Rahmen c sitzen, der sich mit Schneiden auf das gegabelte Ende eines Hebels d stützt, welcher in Fig. 2 abgebrochen gezeichnet ist, jedoch sich in Wirklichkeit über den Drehpunkt d' fortsetzt und am Ende ein Gegengewicht trägt. Die Gegengewichte beider Hebel halten dem Rahmen mit den darauf befindlichen Walzen e, e1, e2, e3 und dem aufgespannten Zeug das Gleichgewicht. Da nun außerdem der Rahmen unten an zwei Stellen durch vertikale Schlitze f geführt und oben durch zwei Zapfen g des Gestells, welche zwischen Gleitschienen h des Rahmens stecken, gehalten wird, so läßt sich derselbe in horizontaler und vertikaler Richtung so verschieben, daß er in einer vertikalen Ebene bleibt, und daß auch jede in ihm liegende Linie ihrer ursprünglichen Lage parallel bleibt. An dem Rahmen sind nun vier Walzen e, e1, e2, e3 in Zapfen drehbar angebracht, wovon jede mit einem Sperrrad versehen ist, in welches je eine Sperrklinke (e' e1', e2', e3') eingreift. Je zwei Walzen (e und e1, e2 und e3) dienen zur Aufspannung je eines Zeugstücks kk' parallel zu dem Rahmen, während die Sperrklinken die Rückdrehung verhindern. Ist auf jedem Stück eine horizontale Reihe nebeneinander liegender Figuren fertig gestickt, so zieht man das Zeug von e auf e1 und von e2 auf e3 ein Stück weiter. Die Bewegung zwischen je zwei Nadelstichen wird dem Rahmen nicht direkt, sondern mit Hilfe eines sogen. Storchschnabels (Pantographen) übertragen. Fig. 3 zeigt denselben mit dem Rahmen A in verkleinertem Maßstab. I II III IV ist ein in seinen Ecken in Scharnieren drehbares Parallelogramm. Die Seite II III ist bis zum Punkt V, die Seite III bis zum Punkt VI verlängert, wobei die Dimensionen I VI und III V so gewählt sind, daß die Punkte V, IV und VI auf einer Geraden liegen. Wenn man daher den Punkt V festhält und den Punkt VI die Kontur irgend einer Figur umfahren läßt, so wird dabei Punkt IV eine dieser ähnliche Figur verkleinert beschreiben. Der Punkt V ist nun an dem Gestell der S. drehbar befestigt, während im Punkt IV ein am Rahmen A befindlicher Zapfen angebracht ist. Da sich aber der Rahmen A so verschiebt, daß jede Linie in ihm ihrer ursprunglichen Lage parallel bleibt, so wird, wenn Punkt VI an einer vergrößerten Figur des Stickmusters entlang geführt wird, jeder Punkt des Rahmens, also auch des aufgespannten Zeugs, dieselbe Figur in (gewöhnlich sechsfach) verkleinertem Maßstab beschreiben. An dem Stickmuster sind die einzeln Fadenlagen durch Linien, die Nadelstiche durch Punkte angedeutet, der Arbeiter rückt einen in VI befestigten spitzen Stift zwischen je zwei Nadelstichen von einem Punkt auf den nächstfolgenden, so daß jeder Punkt des Zeugs in derselben Richtung um eine verkleinerte Strebe verschoben wird, die der wirklichen Größe des Musters entspricht. Die Nadeln werden durch jedes der beiden Zeugstücke in je einer horizontalen Reihe von 50-75 Stück hin- und hergestochen. Dazu sind sie mit zwei Spitzen und einem in der Mitte sitzenden Öhr durch das der Faden gezogen ist, versehen und werden auf jeder Seite von Zangen erfaßt, durchgezogen, dann wieder nach Verschiebung des Rahmens rückwärts eingestochen, losgelassen und von der auf der andern Seite dagegen geführten Zange ergriffen und durchgezogen etc. Diese Zangen sitzen auf jeder Seite in zwei horizontalen Reihen an je einem mit Rollen ll' auf Schienen m m des Untergestells C gegen das Zeug zu bewegenden Gestell B B'. Dasselbe besteht aus einem Wagen n n' von der Breite des Zeugs mit Schildern o o', welche oben und unten prismatische Schienen p p' tragen. An diesen sind die Zeuge mit ihren festliegenden Schenkeln q q' befestigt, welche an ihrer dem Zeug zugekehrten Seite eine kleine Platte mit einem konischen Loch zum Einführen der Nadeln haben. Die Nadel wird so weit eingeschoben, daß sie gegen einen kleien Vorsprung stößt. Während sie nun in einer kleinen Rille liegt, wird der bewegliche Backen r r' der Zange dagegen gedrückt. Dies geschieht in folgender Weise: Der Schwanz der beweglichen Zangenschenkel steht fortwährend unter
Fig. 2. Stickmaschine (Querschnitt)
Fig. 3. Storchschnabel
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Sticknähmaschine - Stickstoffoxyd.
dem Druck einer auf Schließung der Zange wirkenden Feder s s'. Gegen die andre Seite des Schwanzes legt sich jedoch eine über sämtliche Zangen einer Reihe fortgehende Welle t t', welche im allgemeinen von rundem Querschnitt und nur von einer Seite abgeflacht ist. Liegt diese Welle mit ihren runden Teilen auf den Zangen, so sind dieselben geöffnet; ist sie dagegen so gedreht, daß sie ihre flache Seite den Zangen zukehrt, so geben die Schwänze dem Druck der Federn nach und schließen sich. Zur Drehung dieser Wellen dient der Zahnsektor u u', in welchen die Zähne einer durch einen besondern Mechanismus bewegten Zahnstange v v' eingreifen. An den Stützen o' sind nun noch kleine durchgehende Wellen w w' gelagert, an deren beiden Enden die Hebelchen x x' und y y' befestigt sind. Die Enden der erstern sind durch je eine parallel zum Zeug liegende dünne Stange z z' verbunden, dieselben legen sich unter der Einwirkung der Gewichte ß ß' auf die von dem Gewebe zu den Nadeln geführten Stickfäden und geben ihnen eine gleichmäßige Spannung, werden aber aufgehoben, sobald sich die Zangen dem Zeug so weit nähern, daß die Hebel y y' gegen kleine am Maschinengestell befestigte Zapfen $\zeta\zeta'$ stoßen. Die Bewegung der Wagen n n' mit den daran befindlichen Zangen erfolgt durch einen Arbeiter von einer Seite der Maschine aus mittels Mechanismen, welche in der Figur fortgelassen sind. Die Maschine arbeitet nun in folgender Weise: Die einen Enden der Fäden mögen im Zeug befestigt sein, während die andern in die Nadeln eingefädelt sind. Ist der linke Wagen eben gegen das Zeug gefahren, und sind dabei die Nadeln mit ihren aus den Zangen herausstehenden Spitzen durchgestochen, dann muß der rechte Wagen mit geöffneten Zangen vor dem Zeug stehen, um die Nadeln zu fassen. Darauf werden zugleich durch Verschiebung der Zahnstangen v und v' unter Vermittelung der Zahnsegmente u u' und der Wellen t t' die linken Zangen geöffnet und die rechten geschlossen, so daß die Nadeln nunmehr in den rechten Zangen festgehalten werden. Während nun der linke Wagen in seiner Stellung verbleibt, entfernt sich der rechte vom Zeug und nimmt dabei die Nadeln mit. Nachdem der Wagen einen kleinen Weg zurückgelegt hat, sind die an w drehbaren kleinen Stangen v an den Zapfen $\zeta$ so weit zurückgeglitten, daß sie sich zugleich mit den Hebeln x und den daran befestigten Querstangen z unter der Einwirkung des Gewichtshebels ß gesenkt haben, so daß die Stangen z sich auf die durch das Zeug hindurchgezogenen Fadenenden legen. Der Wagen wird so weit geführt, bis die Fäden ganz ausgezogen sind, wobei sie durch die aufgelegte Stange z eine gleichmäßige schwache Spannung erhalten, welche genügt, die eben auf der linken Seite des Zeugs entstandene Lage von Fadenschleifen gehörig anzuziehen. Nun wird der Rahmen A mit Hilfe des Storchschnabels verschoben, dann der Wagen B zurückgeführt, damit z gehoben und die Nadeln von rechts nach links durchgesteckt, worauf sich der beschriebene Vorgang abwechselnd von links und rechts wiederholt. In neuester Zeit ist für die S. eine neue Grundlage dadurch gewonnen, daß man, wie bei den Nähmaschinen, Nadeln mit dem Öhr an der Spitze und kleine Schiffchen zum Durchbringen eines zweiten Fadens anwendet, also die Sticknähmaschine nachahmt. Vgl. Jäck, Die rationelle Behandlung der S. (3. Aufl., Leipz. 1886).
Sticknähmaschine, zum Sticken kleiner Muster eingerichtete Nähmaschine, besteht aus einer gewöhnlichen Nähmaschine, auf deren Nähplatte der Stoff, in einen Stickrahmen eingespannt, durch Führung des letztern vermittelst eines Storchschnabels, wie bei den Stickmaschinen, unter der Nadel hin- und hergeschoben wird, so daß die Figuren durch Plattstich entstehen.
Stickoxyd und Stickoxydul, s. v. w. Stickstoffoxyd, resp. Stickstoffoxydul.
Stickseide, s. v. w. Plattseide.
Stickstoff (Stickgas, Azot, Luftgas, Nitrogenium) N, chemisch einfacher Körper, findet sich in der Atmosphäre (79 Volumprozent), mit Sauerstoff und Wasserstoff verbunden als salpetrige Säure und namentlich als Salpetersäure, mit Wasserstoff verbunden als Ammoniak weitverbreitet, mit Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff verbunden in vielen Tier- und Pflanzenstoffen, namentlich in den Proteinkörpern. Zur Darstellung von S. entzieht man der Luft den Sauerstoff durch Eisen- oder Manganhydroxydul, alkalische Pyrogallussäure oder alkalische Kupferchlorürlösung, durch Phosphor, glühende oder mit Salzsäure befeuchtete Kupferdrehspäne etc., oder man erhitzt eine Lösung von salpetrigsaurem Ammoniak (NH4NO2), welches dabei in S. und Wasser (H2O) zerfällt, oder man leitet Chlor in stets überschüssiges Ammoniak, wobei Salmiak (NH4Cl) und S. entstehen; auch kann man saures chromsaures Ammoniak (oder ein Gemisch von saurem chromsaurem Kali mit Salmiak) erhitzen, welches sich zu Wasser, Chromoxyd und S. zersetzt. S. ist ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas, welches unter einem Druck von 200 Atmosphären und bei sehr niedriger Temperatur zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet werden kann. Es besitzt ein spezifisches Gewicht von 0,971 (1 Lit. wiegt bei 0° und 760 mm Barometerstand 1,256 g); das Atomgewicht ist 14,01, 100 Volumen Wasser lösen bei 0°: 2,035, bei 15°: 1,478 Vol. S., Alkohol löst etwas mehr. S. ist sehr indifferent, unterhält weder die Verbrennung noch die Atmung, ist auch selbst nicht brennbar und verbindet sich direkt nur mit wenigen Elementen; aus indirektem Weg aber bildet er eine Reihe von Verbindungen, die meist durch sehr charakteristische Eigenschaften ausgezeichnet sind: manche von ihnen sind sehr beständig, andre höchst wandelbar, zum Teil explosiv, wie der Chlorstickstoff, manche Nitrokörper etc. S. tritt gewöhnlich dreiwertig, in manchen Verbindungen aber auch fünfwertig auf. Er bildet mit Sauerstoff fünf Verbindungen: Stickstoffoxydul N2O, Stickstoffoxyd NO, Stickstofftrioxyd (Anhydrid der salpetrigen Säure) N2O3, Stickstoffperoxyd NO2 und Stickstoffpentoxyd (Anhydrid der Salpetersäure) N3O5. Er wurde von Rutherford 1772 entdeckt, insofern dieser zeigte, daß die Luft, in welcher Tiere geatmet hatten, auch nach Beseitigung der ausgeatmeten Kohlensäure die Verbrennung einer Kerze nicht mehr unterhält. Scheele sprach 1777 bestimmt von zwei Bestandteilen der Luft, und Lavoisier erkannte den S. als einfachen Körper und nannte ihn Azot, weil er das Leben nicht unterhält, während Chaptal den Namen Nitrogène vorschlug, weil er in Salpeter enthalten sei. Vgl. König, Der Kreislauf des Stickstoffs und seine Bedeutung für die Landwirtschaft (Münst. 1878); Frank, über die Ernährung der Pflanze mit S. etc. (Berl. 1888).
Stickstoffbor, s. Borstickstoff.
Stickstoffdioxyd, s. v. w. Stickstoffoxyd.
Stickstoffmonoxyd, s. v. w. Stickstoffoxydul.
Stickstoffoxyd (Stickstoffdioxyd, Stickoxyd) NO entsteht bei Einwirkung vieler Metalle (Kupfer, Silber, Quecksilber etc.), des Phosphors und andrer leicht oxydierbarer Körper auf Salpetersäure und beim Erwärmen von Eisenchlorür mit salpetersaurem Kali und Salzsäure. Es ist ein farbloses Gas und wird
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Stickstoffoxydul - Sticta.
bei sehr niedriger Temperatur unter einem Druck von 104 Atmosphären zu einer farblosen Flüssigkeit verdichtet. Das spezifische Gewicht ist 1,039, es verbindet sich mit dem Sauerstoff der Luft direkt unter Bildung roter Dämpfe von Stickstoffperoxyd, löst sich bei mittlerer Temperatur in 20 Volumen Wasser, erträgt hohe Temperatur, ist nicht atembar, unterhält die Verbrennung von erhitztem Eisen und Phosphor, während eine Kerze darin erlischt; eine Mischung von Schwefelkohlenstoffdampf und Stickstoffoxyd verbrennt mit einer blauen, an chemisch wirksamen Strahlen sehr reichen Flamme, welche zum Photographieren bei Ausschluß des Tageslichts dienen kann (Sellsche Lampe). Feuchte Zink- und Eisenfeilspäne, Schwefelleber etc. reduzieren S. zu Oxydul; Kalium und glühendes Kupfer reduzieren es vollständig. Eisennitriollösung absorbiert es reichlich und färbt sich dabei fast schwarz, auch Salpetersäure nimmt es auf und bildet eine blaue, grüne oder braune Flüssigkeit. Es wurde schon von van Helmont beobachtet, aber erst von Priestley näher untersucht und von ihm Salpetergas genannt.
Stickstoffoxydul (Stickstoffmonoxyd, Stickoxydul, Lustgas, Lachgas) N2O entsteht bei vorsichtigem Erhitzen von salpetersaurem Ammoniak, bei Einwirkung sehr verdünnter kalter Salpetersäure auf Zink- oder feuchter Eisen- oder Zinkfeile, Schwefelleber oder schwefliger Säure auf Stickstoffoxyd und bei Einwirkung von schwefliger Säure auf heiße verdünnte Salpetersäure. Dargestellt wird es stets durch Erhitzen von salpetersaurem Ammoniak und Waschen des Gases mit Eisenvitriollösung und Kalilauge; 1 kg des Salzes liefert 182 Lit. Gas. Ein kontinuierlich arbeitender Apparat zur Darstellung des Gases besteht aus einer mit gereinigtem groben Sand gefüllten, entsprechend erhitzten eisernen Röhre, in welcher das geschmolzene salpetersaure Ammoniak, während es durch den Sand sickert, vollständig zersetzt wird. Man versendet das Gas im flüssigen Zustand in starkwandigen eisernen oder kupfernen Flaschen. Es bildet ein farbloses Gas, riecht und schmeckt schwach süßlich, spez. Gew. 1,52; 100 Volum. Wasser lösen bei 0°: 130,5, bei 15°: 77,8 Vol. In Alkohol ist es noch leichter löslich; bei 0° und unter einem Druck von 30 Atmosphären wird es zu einer farblosen Flüssigkeit kondensiert, welche bei -88° siedet, bei -115° erstarrt und, mit Schwefelkohlenstoff gemischt, beim Verdampfen im luftleeren Raum eine Temperatur von -140° erzeugt. Das Gas kann geatmet werden, unterhält den Atmungs- und Verbrennungsprozeß, und ein glimmender Holzspan entzündet sich darin fast wie in Sauerstoff. Ein Gemisch von 4 Vol. S. mit 1 Vol. Sauerstoff erzeugt beim Einatmen nach 1 1/2-2 Minuten Rausch und Heiterkeit (daher Lustgas). Bei längerm Einatmen erzeugt es Ohrensausen, Rausch, Bewußtlosigkeit und tötet endlich durch Erstickung. Unterbricht man aber die Einatmung, sobald die Bewußtlosigkeit eingetreten ist, so verschwinden alle Erscheinungen schnell und ohne bleibenden Nachteil. Deshalb benutzt man das Gas als anästhetisches Mittel bei kleinen Operationen. S. wurde 1772 von Priestley entdeckt, Davy beobachtete 1799 seine eigentümliche Wirkung auf den Organismus, und Wells zu Hartford in Connecticut benutzte es zur Hervorbringung einer schnell vorübergehenden Narkose. Es blieb indes ohne praktischen Wert, bis Colton und Porter 1863 von neuem darauf aufmerksam machten. Letzterer führte es in England ein, und 1867 brachte es Evans in Paris zur eigentlich wissenschaftlichen Verwertung. Das S. erleidet bei der Einatmung durchaus keine Veränderung, und dies Verhalten erschwert eine genügende Erklärung seiner Wirkung. Zur Hervorbringung einer vollständigen Narkose sind im Durchschnitt 22-26 Lit. Gas erforderlich. Gewöhnlich währt dieselbe nur 30-90 Sekunden, reicht also nur für kurze Operationen, wie das Ausziehen von Zähnen; doch hat man durch geschickte Leitung des abwechselnden Einatmens von S. und Luft die Narkose auch schon auf 50-90 Minuten ausgedehnt. Unterbricht man die Zufuhr des Stickstoffoxyduls vollständig, so tritt schon nach 1-2 Minuten der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich die mindeste Nachwirkung bemerkbar macht. Lange fortgesetztes Einatmen von S. behufs Herbeiführung einer vollkommen und lange andauernden Empfindungslosigkeit erfordert immerhin große Umsicht des Operateurs, weil in solchem Falle leicht bedenkliche Erstickungszufälle eintreten können. Nun hat aber Bert das gleichzeitige Einatmen von S. und Luft ohne Abschwächung der Wirkung des erstern dadurch ermöglicht, daß er gleiche Volumen dieser Gase mischt und sie unter doppeltem Atmosphärendruck einatmen läßt. In gleicher Zeit wird dann dieselbe Menge S. den Lungen zugeführt wie beim Einatmen des reinen Gases unter gewöhnlichem Druck, nebenbei aber erhält die Lunge die für eine normale Respiration erforderliche Menge Sauerstoff. Auf solche Weise vermochte Bert bei Versuchen an Tieren eine volle Stunde hindurch gänzliche Empfindungslosigkeit zu unterhalten und in dieser Zeit große Operationen schmerzlos vorzunehmen. Nach 2-3 Atemzügen reiner Luft trat der normale Zustand wieder ein, ohne daß sich irgend welche Nachwirkungen gezeigt hätten. Vgl. Goltstein, Die physiologischen Wirkungen des Stickstoffoxydulgases (Bonn 1878); Schrauth, Das Lustgas und seine Verwendbarkeit in der Chirurgie (Bonn 1889).
Stickstoffpentoxyd, s. Salpetersäure, S. 226.
Stickstoffperoxyd (Stickstofftetroxyd) NO2 entsteht bei Berührung von Stickstoffoxyd mit Luft, beim Erhitzen verschiedener Salpetersäuresalze (wie Bleinitrat) und, mit Stickstofftrioxyd gemischt, bei Einwirkung von Salpetersäure auf Stärkemehl, Zucker etc.; es bildet bei -9° farblose Kristalle und schmilzt leicht zu einer farblosen Flüssigkeit, die sich bei höherer Temperatur gelb färbt, bei 15° orangerot ist, bei 22° siedet und einen braunroten, erstickend riechenden Dampf bildet, welcher bei stärkerm Erhitzen immer dunkler, fast schwarz wird. In Form dieses Dampfes beobachtet man es am häufigsten. Mit wenig eiskaltem Wasser zersetzt sich das Peroxyd in salpetrige Säure und Salpetersäure, mit Wasser von gewöhnlicher Temperatur (wegen Zersetzung der salpetrigen Säure) in Salpetersäure und Stickstoffoxyd und bei Gegenwart von Sauerstoff zuletzt vollständig in Salpetersäure. Wegen der schnell eintretenden sauren Reaktion des feuchten Peroxyds nannte man dasselbe früher Untersalpetersäure.
Stickstofftetroxyd, s. v. w. Stickstoffperoxyd.
Stickstofftheorie, s. Agrikulturchemie und Landwirtschaft, S. 478.
Sticta Schreb. (Grubenflechte), Laubflechten mit weißen, becherartig vertieften Flecken (Cyphellen) auf der Unterseite des Thallus, meist am Rande des letztern befindlichen Apothecien und mit der Markschicht aufsitzender Apothecienscheibe. S. pulmonacea Ach. (Lungenflechte), mit lederartigem, buchtig gelapptem, netzförmig grubigem, grünem, trocken bräunlichem Thallus mit weißen Flecken und rotbraunen Apothecien, wächst am Fuß alter Buchen und Eichen und war früher als Lungenmoos offizinell.
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Stiefel - Stiehle.
Stiefel, Fußbekleidung, s. Schuh.
Stiefel, altdeutsches gläsernes Trinkgefäß in Form eines Stiefels, zum Willkomm oder Rundtrunk benutzt, oft von bedeutender Größe; daher die Redensart "einen S. vertragen". In der Technik heißt S. der Cylinder, worin der Kolben einer Pumpe sich bewegt.
Stieffel, Michael, s. Stifel.
Stiefgeschwister, s. Halbgeschwister.
Stiefmütterchen, s. v. w. Viola tricolor.
Stiefverwandtschaft, s. Schwägerschaft.
Stiege, eine Anzahl von 20 Stück.
Stieglitz (Distelfink, Goldfink, Jupitersfink, Fringilla [Carduelis] elegans Cuv.), Sperlingsvogel aus der Gattung Fink, 13 cm lang, 22 cm breit, mit langem, kegelförmigem, an der dünnen Spitze etwas gebogenem Schnabel, spitzigen Flügeln, mittellangem Schwanz, kurzen, starken, langzehigen, mit wenig gebogenen Nägeln bewehrten Füßen und sehr buntem Gefieder. Den Schnabel umgibt ein schwarzer und diesen ein breiter, karminroter Kreis; der Hinterkopf ist schwarz, die Wangen und der Unterkörper sind weiß, der Rücken ist braun; Flügel und Schwanz sind schwarz mit weißem Spiegel, die Schwingen an der Wurzelhälfte goldgelb. Beide Geschlechter ähneln sich täuschend. Der S. findet sich fast in ganz Europa, auf den Kanaren, Madeira, in Nordwestafrika, weitverbreitet in Asien, verwildert auf Cuba, überall in baum- und obstreichen Gegenden. Im Herbst zieht er in Scharen weit umher, und im Winter trifft man ihn in kleinern Trupps. Er ist hauptsächlich Baum-, aber nicht eigentlich Waldvogel, sehr lebhaft und gewandt, fliegt leicht und schnell, klettert wie eine Meise, nährt sich von allerlei Samen, besonders von Birken, Erlen, Disteln, frißt auch viele Kerbtiere, nistet auf Bäumen und legt im Mai 4-5 weiße oder blaugrünliche, sparsam violettgrau punktierte, am stumpfen Ende kranzartig gezeichnete Eier, welche das Weibchen 13-14 Tage bebrütet. Wegen seines anmutigen Gesangs wird er viel in der Gefangenschaft gehalten; er erzeugt leicht mit dem Kanarienvogel eigentümlich gefärbte Bastarde.
Stieglitz, 1) Ludwig, Baron von, Gründer des berühmten Handels- und Wechselhauses seines Namens in Petersburg, geb. 1778 zu Arolsen, ging früh nach Rußland, erwarb sich dort durch sein kommerzielles Genie und seine rastlose Thätigkeit ein bedeutendes Vermögen, übte auf Rußlands Handel und Industrie einen weitgreifenden förderlichen Einfluß aus und war an allen größern Kredit- und Finanzoperationen der russischen Regierung beteiligt. Seiner Bemühung hauptsächlich verdankt Rußland unter anderm die Einführung der Dampfschiffahrt zwischen Petersburg und Lübeck. Dabei war sein Haus in Petersburg der Sammelplatz der geistreichsten Notabilitäten. Der Kaiser ernannte ihn 1825 zum Reichsbaron. Er starb 18. März 1843 in Petersburg. Nach seinem Tod führte sein Sohn Alexander das Geschäft fort und wahrte ihm als tüchtiger Finanzmann seinen alten Ruhm, doch löste er 1863 die Firma auf. Er starb 24. Okt. 1884.
2) Heinrich, Dichter, geb. 22. Febr. 1803 zu Arolsen, studierte in Göttingen und Leipzig , ward 1828 in Berlin Gymnasiallehrer und Kustos an der königlichen Bibliothek und verheiratete sich in demselben Jahr mit Charlotte Sophie Willhöft (geb. 1806 zu Hamburg). Ein Nervenleiden veranlaßte ihn jedoch bald, seine Stellen niederzulegen; eine Reise nach Petersburg hatte nicht den gewünschten Erfolg der Heilung. Ein anempfindendes Talent, dem Stärke und Konzentration fehlten, fühlte S. diesen Mangel aufs tiefste; die Sehnsucht nach einer höchsten Leistung erfüllte und verzehrte ihn krankhaft. Seine schwärmerische Gattin nährte den unseligen Gedanken, daß ein großer Schmerz den Geliebten zum ganzen Mann und Dichter reifen würde, und gab sich deshalb 29. Dez. 1834 durch einen Dolchstich den Tod (vgl. Mundt, Charlotte S., ein Denkmal, Berl. 1835). Die That dieser opferfreudigen Verirrung konnte indessen den geträumten Erfolg nicht haben, S. brach beinahe völlig zusammen. Er lebte fortan meist zu Venedig und starb daselbst 24. Aug. 1849 an der Cholera. Seine bedeutendsten dichterischen Arbeiten sind: "Bilder des Orients" (Leipz. 1831-33, 4 Bde.) mit der Tragödie "Sultan Selim III." Ihnen schließen sich die "Stimmen der Zeit in Liedern" (2. Aufl., Leipz. 1834) an. Von seinen spätern Leistungen sind nur die "Bergesgrüße" (Münch. 1839) hervorzuheben. Vgl. die von H. Curtze herausgegebenen Schriften: "H. S., eine Selbstbiographie" (Gotha 1865), "Briefe von S. an seine Braut Charlotte" (Leipz. 1859, 2 Bde.) und "Erinnerungen an Charlotte" (Marb. 1865).
Stiehl, Ferdinand, preuß. Schulmann, namentlich bekannt als Verfasser der "Regulative für das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen" vom 1., 2. u. 3. Okt. 1854, wurde 12. April 1812 zu Freusburg (Kreis Altenkirchen) geboren, studierte in Bonn und Halle Theologie, kam 1835 als erster Lehrer an das Seminar zu Neuwied und wurde 1839 zum Direktor ernannt. Der Minister Eichhorn berief ihn 1844 als Hilfsarbeiter in das Kultusministerium, 1845 ward er Regierungs- und Schulrat, 1848 Geheimer Regierungs- und vortragender Rat, 1855 Geheimer Oberregierungsrat. Um die Entwickelung des Seminarwesens in jenen Jahrzehnten hat er sich bei aller Einseitigkeit seiner konservativen Richtung unleugbare Verdienste erworben und die Einfügung des Volksschul- und Seminarwesens der neuen Provinzen in die preußische Ordnung nach 1866 mit kundiger, sicherer, wenn auch bisweilen rauher Hand vollzogen. Kurz nach Falks Antritt des Kultusministeriums und nach dem Erlaß der "Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Okt. 1872 am 1. Jan. 1873 trat S. als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat in den Ruhestand und starb 16. Sept. 1878 in Freiburg i. Br. Er veröffentlichte: "Der vaterländische Geschichtsunterricht" (Kobl. 1842); "Aktenstücke zur Geschichte und zum Verständnis der drei preußischen Regulative" (Berl. 1855); "Die Weiterentwickelung der Regulative" (das. 1861); "Meine Stellung zu den drei preußischen Regulativen" (das. 1872). Auch begründete er 1859 das "Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen".
Stiehle, Gustav von, preuß. General, geb. 14. Aug. 1823 zu Erfurt, trat 1840 in das 4. pommersche Infanterieregiment Nr. 21, ward 1841 Offizier, 1845 bis 1847 zur Kriegsakademie und 1852-55 zur trigonometrischen Abteilung des Großen Generalstabs kommandiert. 1858 als Hauptmann in das Königsgrenadierregiment versetzt, trat er 1859 als Major in den Generalstab zurück und ward Direktor der neuerrichteten Kriegsschule zu Potsdam, dann zu Neiße. 1860 erhielt er die Leitung der historischen Abteilung des Generalstabs und hielt zugleich Vorlesungen an der Kriegsakademie. 1864 nahm er im Stab des Feldmarschalls v. Wrangel am Feldzug gegen Dänemark teil, wurde geadelt, zum Oberstleutnant und Flügeladjutanten des Königs ernannt und dann als Militärattaché den Gesandtschaften in London und Wien zugeteilt. Den Feldzug von 1866 machte er im großen Hauptquartier des Königs mit; er erwarb sich hier den Orden pour le mérite, nahm an den Nikolsburger
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Stielbrand - Stiergefechte.
Verhandlungen teil u. leitete die militärischen Schlußverhandlungen, welche dem Prager Frieden folgten. 1868 ward er zum Kommandeur des Gardegrenadierregiments Königin Augusta in Koblenz ernannt, 1869 jedoch in den Großen Generalstab zurückgerufen. 1870 wurde er Chef des Generalstabs der zweiten Armee und nahm an allen kriegerischen Thaten dieser Armee in einflußreichster Weise teil. S. war es, der am 27. Okt. mit dem französischen General Jarras die Kapitulation von Metz abschloß. Nach dem Friedensschluß trat er als Abteilungschef in den Generalstab zurück, wurde 1871 Direktor des allgemeinen Kriegsdepartements und Mitglied des Bundesrats, 1873 Generalleutnant à la suite und Inspekteur der Jäger und Schützen, 1875 Kommandeur der 7. Division in Magdeburg, 1881 kommandierender General des 5. Armeekorps in Posen und 1886 Chef des Ingenieur- und Pionierkorps und Generalinspekteur der Festungen; im September 1888 nahm er seinen Abschied.
Stielbrand (Stengelbrand), s. Brandpilze III.
Stieler, 1) Adolf, Kartograph, geb. 26. Febr. 1775 zu Gotha, studierte die Rechte, erhielt 1797 eine Anstellung beim Ministerialdepartement in Gotha, ward 1813 zum Legationsrat und 1829 zum Geheimen Regierungsrat befördert und starb 13. März 1836. S. hat sich um die Geographie besonders durch gründliche und geschmackvolle Behandlung des Kartenwesens verdient gemacht. Sein Hauptwerk ist der bekannte "Handatlas", den er unter Mitwirkung von Reichard (Gotha 1817-23) in 75 Blättern herausgab, und der in neuester Bearbeitung seit 1888 (in 90 Bl.) erscheint. Auch sein "Schulatlas" und seine "Karte von Deutschland" in 25 Sektionen fanden weite Verbreitung.
2) Karl Joseph, Maler, geb. 1. Nov. 1781 zu Mainz, bildete sich als Autodidakt zum Pastell- und Miniaturmaler, widmete sich dann seit 1805 als Schüler Fügers in Wien der Ölmalerei und eröffnete sich hier eine glänzende Thätigkeit als Porträtmaler. Sein Ruf führte ihn von da nach Ungarn und Polen, wo er zahlreiche Bildnisse malte, dann nach Paris, wo er zwei Jahre verweilte und sich weiter bei Gerard ausbildete, dessen elegante und anmutige, aber oberflächliche und charakterlose Art für ihn maßgebend blieb. Nach einem Besuch Roms, wo er das jetzt in der Leonhardskirche zu Frankfurt a. M. befindliche große Altarblatt malte, ließ er sich 1812 in München nieder. 1816 nach Wien gerufen, um den Kaiser Franz zu malen, verweilte er dort bis 1820 und kehrte dann nach München zurück, wo er 9. April 1858 starb. Von seinen Arbeiten sind noch hervorzuheben: die Bildnisse Goethes (1828), Schellings, Tiecks, A. v. Humboldts, Beethovens, der Familie des Königs Maximilian von Bayern und die Galerie weiblicher Schönheiten in der königlichen Residenz zu München.
3) Karl, Dichter und Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 15. Dez. 1842 zu München, studierte auf der Universität daselbst die Rechte und promovierte, unternahm dann Reisen nach England, Frankreich, der Schweiz, Belgien, Italien, Ungarn und Norddeutschland, über die er meist in der "Allgemeinen Zeitung" berichtete, und übernahm endlich eine Beamtenstelle im bayrischen Staatsarchiv zu München, wo er 12. April 1885 starb. Sein Ruf als Dichter gründet sich auf seine volkstümlich frischen und von köstlichem Humor gewürzten Dichtungen in oberbayrischer Mundart, von denen mehrere Sammlungen vorliegen, wie: "Bergbleameln" (Münch. 1865), "Weil's mi freut!" (Stuttg. 1876), "Habt's a Schneid'?!" (das. 1877), "Um Sunnawend" (das. 1878), "In der Sommerfrisch" (das. 1883) und "A Hochzeit in die Berg" (das. 1884), letztere beiden mit Zeichnungen von H. Kauffmann. Alle diese (meist in wiederholten Auflagen erschienenen) Bücher fanden, wie auch seine hochdeutschen "Hochlandlieder" (Stuttg. 1879), "Neue Hochlandlieder" (das. 1883) und das Liederbuch "Wanderzeit" (das. 1882), allgemein die günstigste Aufnahme. Außerdem beteiligte sich S. an der Herausgabe mehrerer illustrierter Prachtwerke, so: "Aus deutschen Bergen" (mit H. Schmid, Stuttg. 1871); "Weidmanns-Erinnerungen" (Münch. 1874); "Italien" (mit E. Paulus und W. Kaden, Stuttg. 1875); "Rheinfahrt" (mit H. Wachenhusen und Fr. W. Hackländer, das. 1877) und "Elsaß-Lothringen" (das. 1877). Nach sei- nem Tod erschienen noch: "Ein Winteridyll" (Stuttg. 1885); "Kulturbilder aus Bayern" (das. 1885); "Natur- und Lebensbilder aus den Alpen" (das. 1886); "Aus Fremde und Heimat", vermischte Aufsätze (das. 1886); "Durch Krieg zum Frieden. Stimmungsbilder aus den Jahren 1870/71" (das. 1886).
Stielstich, s. Stickerei.
Stier, 1) das zweite Zeichen des Tierkreises (*);
2) ein Sternbild zwischen 46-87° Rektaszension und 0-28 1/2° nördl. Deklination, nach Heis mit 188 dem bloßen Auge sichtbaren Sternen, darunter der Aldebaran von erster Größe sowie die Plejaden und Hyaden. Der Poniatowskische S. ward 1777 vom Abt Poczobut zu Wilna als ein eignes Sternbild aus Sternen gebildet, die zwischen der östlichen Schulter des Ophiuchus und dem Adler sich befinden und größtenteils zum Ophiuchus gehören.
Stier, Ewald Rudolf, protestant. Theolog, geb. 17. März 1800 zu Fraustadt in Posen, studierte erst Jura, dann Theologie, war bis 1819 Vorsteher der Halleschen Burschenschaft, hielt sich hierauf an verschiedenen Orten auf, teils lernend, teils lehrend, wurde, ohne eine Prüfung absolviert zu haben, 1829 Pfarrer zu Frankleben bei Merseburg, 1838 in Wichlinghausen bei Barmen; 1846-50 privatisierte er in Wittenberg , dann wurde er zum Superintendenten ernannt zuerst 1850 in Schkeuditz, 1859 in Eisleben, wo er 16. Dez. 1862 starb. Unter seinen zahlreichen exegetischen Werken nennen wir: "Siebzig ausgewählte Psalmen" (Braunschw. 1834-36, 2 Bde.); "Die Reden des Herrn Jesu" (3. Aufl., Leipz. 1865 bis 1874, 7 Bde.); "Die Reden der Engel" (das. 1860); "Die Reden der Apostel" (2. Aufl., das. 1861); "Jesaias, nicht Pseudo-Jesaias" (Barm. 1851). Auch beteiligte er sich am Streit über die Apokryphen (zu gunsten derselben), über die Union, an der Revision der deutschen Bibel etc. Sehr verbreitet war "Luthers Katechismus als Grundlage des Konfirmandenunterrichts" (6. Aufl., Berl. 1855). Seine Auslegung ist mehr von einem kraftvollen Inspirationsglauben, den er von J. F. v. Meyer übernommen hatte, als vonwissenschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Auch war er Mitherausgeber der "Polyglotten-Bibel" (mit Theile, 4. Aufl., Bielef. 1875). Sein Leben beschrieben seine Söhne G. und F. S. (Wittenb. 1868).
Stiergefechte (Corridas ["Rennen"] oder Fiestas ["Feste"] de Toros), Kämpfe von Menschen zu Fuß und zu Pferd mit Stieren, eine spezisisch spanische Volksbelustigung, die, wahrscheinlich durch die Mauren in Spanien eingeführt, auch in den spanischen Kolonien (nur schwach in Portugal) sich erhalten hat. Als ritterliches Vergnügen, ähnlich dem Turnier und den Eberhetzen, waren sie nachweislich schon im Anfang des 12. Jahrh. in Spanien üblich, wie denn auch der Cid Campeador als glänzender echter gerühmt wird, und unter Philipp IV.
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Stieringen-Wendel - Stift.
erreichten die S. den Höhepunkt ihres Glanzes. Erst Philipp V. trat, wenn auch ohne Erfolg, als offener Gegner der S. auf, welche von nun an gewerbsmäßig von bezahlten Stierkämpfern (Toreros) betrieben wurden, die heute in ganz Spanien der Gegenstand allgemeinster Popularität und der übertriebensten Huldigungen sowohl innerhalb als außerhalb der Arena sind. Fast jede irgend bedeutende Stadt hat ihre in Form eines Amphitheaters errichtete Plaza de Toros. Die größten finden sich in Valencia (16,000 Plätze) und Madrid (14,000). In Madrid finden, mit einer kurzen Unterbrechung im Sommer, von Ostern bis Allerheiligen jeden Sonntag und Donnerstag, oft auch häufiger, S. statt, so im J. 1887 deren 34 mit 217 Stieren und 372 Pferden als Opfer; in den Provinzialstädten nicht so oft, dennoch kann man 200 S. jährlich in Spanien annehmen. Das moderne Stiergefecht besteht aus drei Akten, in welchen die vier Gruppen der Cuadrilla (alle Toreros, welche irgendwie am Gefecht teilnehmen) nacheinander ihre Geschicklichkeit entfalten. Die Picadores (Lanzenreiter) auf elenden Kleppern reizen zunächst den auf den Kampfplatz gelassenen Stier durch Lanzenstiche in den Nacken; seine Wut wird gesteigert durch die Banderilleros, welche zu Fuß dem Stier mit Widerhaken versehene aufgeputzte Stäbe (Banderillas, Fähnlein) ins Fleisch stoßen. Die Chulos (auch Capeadores, von Capa, Mantel, genannt) unterstützen die andern, indem sie durch geschicktes Schwingen roter Mäntel die Aufmerksamkeit des Stiers von seinen Verfolgern, sobald diese in Gefahr schweben, ablenken. Die Hauptperson aber ist der Espada (Degen), der dem Stier mit der blanken Waffe, einem ca. 90 cm langen, starken Stoßdegen (Espada), den Todesstoß in eine bestimmte Stelle des Nackens zu versetzen hat. Der Espada (der Ausdruck Matador [Töter] ist in Spanien weniger üblich) reizt den Stier durch die Muleta, ein an einem Stock befestigtes Stück roten Tuches, das er mit der Linken vor sich flattern läßt, und stößt dann dem angreifenden Stier den Degen zwischen den Hörnern hindurch bis ans Heft in den Leib. Berühmte Espadas erhalten 6-8000 Frank für jedes Stiergefecht. Feige Stiere werden erst gebrannt und dann durch Hunde zerrissen, oder man durchschneidet ihnen von hinten die Fesseln, und der Cachetero, der auch die andern Stiere, die nicht tödlich getroffen sind, abfängt, tötet sie durch einen Dolchstoß ins Genick. Jeder einzelne Stierkampf dauert ungefähr eine halbe Stunde; meist kommen bei einer Vorstellung sechs Stiere und ungefähr doppelt so viel Pferde ums Leben. Man kann heute die Opfer auf jährlich 1000 Stiere und mindestens 3500 getötete Pferde berechnen. Die jährlichen Ausgaben für S. betragen viele Millionen Frank. In Spanien wie in den südamerikanischen Republiken widmen sich zahllose Zeitschriften dem nationalen Sport der S., und die Litteratur über dieselbe ist eine sehr reichhaltige. Vgl. Joest, Spanische S. (Berl. 1889).
Stieringen-Wendel, Gemeinde im deutschen Bezirk Lothringen, Kreis Forbach, an der Eisenbahn S. (Preußische Grenze)-Novéant, hat ein bedeutendes Eisenhüttenwerk mit 1250 Arbeitern (Fabrikation von Trägern, Eisenbahnschienen etc.), eine Glashütte und (1885) 3854 meist kath. Einwohner.
Stiersucht, s. Brüllerkrankheit.
Stier von Uri, im Mittelalter der Hürner (Hornist) der Männer von Uri, so benannt, weil er die Mannschaft durch das Blasen eines Auerochsenhorns zusammenrief.
Stieve, Felix, Geschichtsforscher, geb. 9. März 1845 zu Münster in Westfalen als Sohn des damaligen Gymnasialdirektors, spätern vortragenden Rats im preußischen Unterrichtsministerium, Friedrich S. (gest. 1878), studierte in Breslau, Innsbruck, Berlin und München Geschichte und erlangte mit einer Dissertation: "De Francisco Lamberto Avenionensi". 1867 zu Breslau die philosophische Doktorwürde. Hierauf trat er im Herbst 1867 bei der Historischen Kommission in München als Mitarbeiter an den "Wittelsbacher Korrespondenzen zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs" ein, habilitierte sich 1874 als Privatdozent der Geschichte an der Münchener Universität, wurde 1878 Mitglied der königlich bayrischen Akademie der Wissenschaften und 1886 Professor der Geschichte am Polytechnikum in München. Er veröffentlichte: "Die Reichsstadt Kaufbeuren und die bayrische Restaurationspolitik" (Münch. 1870); "Der Ursprung des Dreißigjährigen Kriegs 1607-19" (Bd. 1: "Der Kampf um Donauwörth", das. 1875); "Das kirchliche Polizeiregiment in Bayern unter Maximilian I." (das. 1876); "Zur Geschichte der Herzogin Jakobe von Jülich" (Bonn1878); "Die Politik Bayerns 1591-1607" (als Band 4 u. 5 der "Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs", Münch. 1878-82); "Die Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser Rudolfs II. in den Jahren 1581-1602" (das. 1879); "Der Kalenderstreit des 16. Jahrhunderts in Deutschland" (das. 1880); "Über die ältesten halbjährigen Zeitungen oder Meßrelationen und insbesondere über deren Begründer Freiherrn v. Aitzing" (das. 1881) ; "Wittelsbacher Briefe aus den Jahren 1590-1610" (das. 1885-88, 3 Tle.) u. a.
Stifel (Styfel, auch Stieffel), Michael, Algebrist, geb. 1487 zu Eßlingen, ging in das dortige Augustinerkloster, aus dem er aber 1522 als Anhänger Luthers entfloh, worauf er als evangelischer Prediger erst bei einem Grafen von Mansfeld, dann in Oberösterreich, 1528-34 zu Lochau bei Torgau, hierauf bis 1547 zu Holzdorf bei Wittenberg, nachher zu Haberstrohm bei Königsberg i. Pr. wirkte. Später scheint er in Jena gelebt zu haben, wo er 19. April 1567 starb. Sein Hauptwerk ist die "Arithmetica integra" (Nürnb. 1544). Vgl. Cantor in Schlömilchs "Zeitschrift für Mathematik und Physik", Bd. 2.
Stift (das S.; Mehrzahl: die Stifter), jede mit Vermächtnissen und Rechten ausgestattete, zu kirchlichen Zwecken bestimmte und einer geistlichen Korporation übergebene Anstalt mit allen dazu gehörigen Personen, Gebäuden und Liegenschaften. Die ältesten Anstalten dieser Art sind die Klöster, nach deren Vorbild sich später das kanonische Leben der Geistlichen an Kathedralen und Kollegiatstiftskirchen gestaltete. Im Gegensatz zu den mit den Kathedralkirchen verbundenen Erz- und Hochstiftern mit je einem Erzbischof oder Bischof an der Spitze hießen die Kollegiatkirchen, bei welchen kein Bischof angestellt war, Kollegiatstifter. Die Mitglieder derselben wohnten in Einem Gebäude zusammen und wurden von dem Ertrag eines Teils der Stiftsgüter und Zehnten unterhalten. So bildeten sich die Domkapitel, deren Glieder, die Canonici, sich Kapitularen, Dom-, Chor- oder Stiftsherren nannten. Infolge des häufigen Eintritts Adliger entzogen sich dieselben schon im 11. Jahrh. der Verpflichtung des Zusammenwohnens (Klausur), verzehrten ihre Präbenden einzeln in besondern Amtswohnungen, bildeten jedoch fortwährend ein durch Rechte und Einkünfte ausgezeichnetes Kollegium, welches seitdem 13. Jahrh. über die Aufnahme neuer Kapitularen zu entscheiden, bei Erledigung eines Bischofsitzes (Sedisvakanz) die
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Stifte - Stigel.
provisorische Verwaltung der Diözese zu führen und den neuen Bischof aus seiner Mitte zu wählen hatte. Vor der durch den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803 verfügten Säkularisation hatten die deutschen Erz- oder Hochstifter Mainz, Trier, Köln, Salzburg, Bamberg, Würzburg, Worms, Eichstätt, Speier, Konstanz, Augsburg, Hildesheim, Paderborn, Freising, Regensburg, Passau, Trient, Brixen, Basel, Münster, Osnabrück, Lüttich, Lübeck und Chur sowie einige Propsteien (Ellwangen, Berchtesgaden etc.) und gefürstete Abteien (Fulda, Korvei, Kempten etc.) Landeshoheit und Stimmrecht auf dem Reichstag, daher sie auch reichsunmittelbare Stifter hießen und den Fürstentümern gleich geachtet wurden. In andern Ländern waren die Stifter niemals zu so hoher Macht gelangt. Auch in den bei der Reformation protestantisch gewordenen Ländern blieben meist die Stifter und die Domkapitel, jedoch ohne einen Bischof und ohne Landeshoheit, und ihre Einkünfte wurden als Sinekuren vergeben. Ausnahmen bildeten nur das ganz protestantische Bistum Lübeck und das aus gemischten Kapitularen bestehende Kapitel zu Osnabrück. Jetzt sind alle Stifter mittelbar, d. h. der Hoheit des betreffenden Landesherrn unterworfen. Bei den unmittelbaren Hoch- und Erzstistern mußten die Domherren ihre Stiftsfähigkeit durch 16 Ahnen beweisen; sie waren Versorgungsanstalten für die jüngern Söhne des Adels geworden. Während diese adligen Kapitularen sich den Genuß aller Rechte ihrer Kanonikate vorbehielten, wurden die geistlichen Funktionen den regulären Chorherren auferlegt, woher sich der Unterschied der weltlichen Chorherren (Canonici seculares), welche die eigentlichen Kapitularen sind, von den regulierten Chorherren (Canonici regulares) schreibt. Die säkularisierten und protestantisch gewordenen Stifter behielten häufig ihre eigne Verfassung und Verwaltung; meist wurden aber ihre Präbenden in Pensionen verwandelt, welche zuweilen mit gelehrten Stellen verbunden sind. In Preußen sind die evangelischen Domkapitel zu Brandenburg, Merseburg und Naumburg sowie das Kollegiatstift in Zeitz bemerkenswert. Vgl. Schneider, Die bischöflichen Domkapitel (Mainz 1885). Außer den Erz-, Hoch- und Kollegiatstiftern gibt es auch noch weibliche Stifter und zwar geistliche und weltliche. Erstere entstanden durch eine Vereinigung regulierter Chorfrauen und glichen den Klöstern; bei den freien weltlichen Stiftern dagegen legen die Kanonissinnen nur die Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams gegen ihre Obern ab, können jedoch heiraten, wenn sie auf ihre Pfründe verzichten, und haben die Freiheit, die ihnen vom S. zufließenden Einkünfte zu verzehren, wo sie wollen. Nur die Pröpstin und Vorsteherin nebst einer geringen Zahl Kanonissinnen pflegen sich im Stiftsgebäude aufzuhalten. Auch die Pfründen dieser Stifter wußte der stiftsfähige Adel vielfach ausschließlich für seine Töchter zu erlangen, doch hängt häufig die Aufnahme auch von einer Einkaufssumme ab. Auch sind für die Töchter von verdienten Beamten Stiftsstellen geschaffen worden. Die Kanonissinnen dieser "freien weltadligen Damenstifter" werden jetzt gewöhnlich Stiftsdamen genannt.
Stifte, s. Nägel, S. 977.
Stifte (Balzstifte), die kleinen hornartigen Federchen an beiden Seiten der Zehen des Auerhahns, welche er zu Ende der Balz verliert.
Stifter, Adalbert, Dichter und Schriftsteller, geb. 23. Okt. 1806 zu Oberplan im südlichen Böhmen, studierte in Wien die Rechte, daneben Philosophie und Naturwissenschaften, ward Lehrer des Fürsten Richard Metternich und 1849 zum Schulrat für das Volksschulwesen Oberösterreichs ernannt. Als solcher nahm er seinen Wohnsitz in Linz, von wo aus er vielfach die Alpen, Italien etc. bereiste, ward 1865 pensioniert und starb daselbst 28. Jan. 1868. Seine Idylle und Novellen erschienen gesammelt unter den Titeln: "Studien" (Pest 1844-51, 6 Bde.; 8. Aufl. 1882, 2 Bde.) und "Bunte Steine" (das. 1852, 2 Bde.; 7. Aufl. 1884). Namentlich die "Stadien" erregten von ihrem Erscheinen an Teilnahme und selbst Enthusiasmus. Die unbedingte Hinwegwendung von allen Problemen und Tendenzen des Tags, der idyllische, fast quietistische Grundzug, die meisterhaften Details, namentlich die sinnigen Naturschilderungen, die feine, gleichmäßige Durchführung bildeten einen so wohlthuenden Gegensatz zur Tagesbelletristtk, daß man darüber die Mängel der überwiegend kontemplativen, aller Leidenschaft und Thatkraft abgewandten, zur lebendigern Menschendarstellung daher unfähigen Natur des Autors übersah. Diese Mängel traten namentlich in den größern Romanen Stifters: "Der Nachsommer" (Pest 1857, 3. Aufl. 1877) und "Witiko" (das. 1864-67, 3 Bde.), hervor. Stifters Nachlaß ("Briefe", Pest 1869, 3 Bde.; "Erzählungen", das. 1869, 2 Bde.; "Vermischte Schriften", das. 1870, 2 Bde.) gab Aprent heraus. "Ausgewählte Werke" von ihm erschienen in 4 Bänden (Leipz. 1887). Vgl. Emil Kuh, Adalbert S. (Wien 1868); Derselbe, Grillparzer und A. S. (Preßb. 1872); Markus, A. Stifter (2. Aufl., Wien 1879).
Stiftsherr, s. Domherr.
Stiftshütte (Bundeshütte), das zeltartige tragbare Heiligtum, welches Moses auf dem Zug der Israeliten durch die Wüste zum Gottesdienst anfertigen ließ. Es ward später in Kanaan an verschiedenen Orten, zuletzt unter David in Jerusalem, aufgestellt und darin bis zur Erbauung des Tempels durch Salomo der Opferkultus verrichtet. Die S. (hebr. Ohel moed, wobei man Ohel und Mischkan unterschied) bildete ein Rechteck von 30 Ellen Länge, 10 Ellen Breite und 10 Ellen Höhe. Ihre Wände bestanden aus 48 übergoldeten Brettern von Akazienholz, welche durch goldene Ringe zusammengehalten wurden. Über diesen Wänden hing ein einfacher Teppich. Die vordere, zum Eingang dienende Seite war mit einem an fünf Säulen befestigten Vorhang verhängt. Das Innere teilte ein andrer Vorhang (Parochet) in eine vordere Abteilung, das Heilige, worin der Tisch mit den Schaubroten, der goldene Leuchter und der Räucheraltar, und in eine hintere Abteilung, das Allerheiligste, worin die Bundeslade stand. Das Ganze war mit einem für das Volk bestimmten Vorhof umgeben. Salomo ließ nach Erbauung des Tempels die Überreste der S. in diesem aufstellen. Vgl. Naumann, Die S. (Gotha 1869).
Stiftslehen, s. Kirchenlehen.
Stiftsschulen, s. Domschulen.
Stiftung, s. Milde Stiftungen.
Stigel, Johann, neulat. Dichter, geb. 13. Mai 1515 bei Gotha, studierte in Leipzig und Wittenberg, wo er Luthers und Melanchthons Freundschaft genoß, Humaniora, ward 1542, zu Regensburg vom Kaiser als Dichter gekrönt, Professor der lateinischen Sprache in Wittenberg, eröffnete 1558 als erster Professor der Beredsamkeit die Universität Jena mit der Weihrede und starb 11. Febr. 1562. Unter seinen Schriften sind die "Carmina" (Jena 1660 ff., 4 Bde.) hervorzuheben. Vgl. Göttling, Vita Joh. Stigelii (Jena 1858; abgedr. in den "Opusc. acad.", S. 1-64).
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Stiglmayer - Stil.
Stiglmayer, Johann Baptist, Erzgießer, Bildhauer und Medailleur, geb. 18. Okt. 1791 zu Fürstenfeldbruck bei München, kam zu einem Goldschmied in München in die Lehre, ward 1810 in die Akademie der bildenden Künste aufgenommen, 1814 als Münzgraveur angestellt und 1819 nach Italien gesandt, um die Technik des Erzgusses kennen zu lernen. In Rom gründete er seinen Ruf durch den Guß der Büste des spätern Königs Ludwig I. von Bayern nach Thorwaldsens Modell. 1822 ins Vaterland zurückgekehrt, schnitt er Stempel zu Kurrentmünzen und Medaillen und ward dann zum Inspektor der königlichen Erzgießerei ernannt, in welcher Stellung er eine lebhafte Thätigkeit entfaltete. Aus seiner Werkstatt gingen folgende Güsse hervor: der Kandelaber für das vom Grafen von Schönborn in Gaibach errichtete Konstitutionsdenkmal, der auf dem Karolinenplatz in München errichtete Obelisk, Bronzethore nach Zeichnungen L. v. Klenzes für die Glyptothek und die Walhalla, das Denkmal des Königs Maximilian I. im Bad Kreuth, nach eignem Entwurf, das Monument des Königs Maximilian I. auf dem Max Josephsplatz in München, nach Rauchs Modell (1835), die Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian aus dem Wittelsbacher Platz daselbst, nach Thorwaldsens Modell (1836), die zwölf kolossalen Standbilder der Fürsten des Hauses Wittelsbach im Thronsaal der Residenz, nach Schwanthalers Modellen, die Statue Schillers auf dem Schloßplatz zu Stuttgart, nach Thorwaldsen, die Standbilder Jean Pauls in Baireuth, Mozarts in Salzburg, des Markgrafen Friedrich von Brandenburg in Erlangen, des Großherzogs Ludwig von Hessen-Darmstadt in Darmstadt, nach Schwanthaler. Das kolossalste Werk der Münchener Gießerei, dessen Guß S. aber nur in seinen ersten Teilen ausführte, war die Bavaria in München, sein letztes die Goethestatue in Frankfurt a. M. Er starb 2. März 1844 in München.
Stigma (griech., "Stich"), bei den Griechen und Römern ein Brandmal, das Verbrechern, namentlich diebischen oder entlaufenen Sklaven, eingebrannt wurde (gewöhnlich auf der Stirn); in der Botanik s. v. w. Narbe (s. Blüte, S. 69); in der Zoologie s. v. w. Luftloch (s. Tracheen).
Stigmaria Brongn., s. Lykopodiaceen, S.6.
Stigmatisation, das angebliche freiwillige Auftreten der fünf Wundmale Christi bei Personen, die sich in eine schwärmerische Betrachtung seiner Leiden versenkt hatten. Nachdem der heil. Franz von Assisi (s. Franziskaner) zuerst diese Auszeichnung erhalten haben soll und die heil. Katharina von Siena wenigstens einen Ansatz dazu genommen, hat sich diese Erscheinung im Lauf der Jahrhunderte an sehr zahlreichen Personen, namentlich weiblichen Geschlechts, wiederholt, und zwar sowohl bei Nonnen als bei weiblichen Laien, und bei einigen blieb die S. eine dauernde, indem die Wundmale alle Freitage und am stärksten in der Passionszeit bluteten, was dann häufig zu Schaustellungen Anlaß gegeben hat. Insbesondere wiederholte sich die S. in Zeiten religiöser Aufregung, und in unserm Jahrhundert haben Katharina Emmerich, die Freundin Klemens Brentanos, Maria v. Mörl und insbesondere Louise Lateau in dem belgischen Dörfchen Bois d'Haine in dieser Richtung großes Aufsehen erregt. Diese Personen gaben bestimmten Verehrerkreisen Schaustellungen, indem sie theatralisch die Leiden Christi, während sie dieselben angeblich empfanden, in lebenden Bildern durchführten; daneben bekamen sie kataleptische Zufälle (Verzückungen), in denen sie unempfindlich gegen Schmerzen zu sein vorgaben, und mancherlei andre Wundergaben (vollkommenes Fasten, Empfindung der Nähe heiliger Gegenstände etc.). Das Urteil über diese Fälle hat sich zuerst naturgemäß nur in den beiden Gegensätzen: Wunder oder Betrug! kundgegeben, und in der unendlichen Litteratur, die über Louise Lateau entstand, vertrat der belgische Arzt Professor Lefebvre ("Louise Lateau", Löwen 1873) mit aller Entschiedenheit die Überzeugung, daß hier ein übernatürliches Ereignis vorliege, während Virchow u. a. es einfach als Betrug brandmarkten. In der That sind denn auch nicht wenige Fälle von sogen. S. vor den Gerichten als grober Betrug entlarvt worden. Bei der Bedeutung, welche von manchen Seiten dem Fall der Louise Lateau beigelegt wurde, ernannte die Brüsseler Akademie der Wissenschaften eine Kommission zur Untersuchung desselben, und in dem Bericht, welchen Warlomont über die Arbeiten dieser Kommission erstattet hat, wird nun auf Grund sehr sorgfältiger und den Betrug ausschließender Untersuchungen und in Übereinstimmung mit andern belgischen und französischen Ärzten die schon von Montaigne vertretene Meinung ausgesprochen, daß eine bis zur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholte freiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringen könne. Außerdem bieten viele den Stigmatisierten eigentümliche Zufälle, wie die Katalepsie, Unempfindlichkeit, die Nachahmungssucht u. a., eine bedeutende Ähnlichkeit mit den neuerdings genauer untersuchten Zuständen des Hypnotismus (s. d.), welche in ähnlicher Weise durch Konzentration der Gedanken und Sinneseindrücke auf bestimmte eng begrenzte Gebiete hervorgerufen werden. Danach würde sich die S. in den Fällen, wo nicht grober Betrug vorliegt, jenen zahlreichen Erscheinengen anreihen lassen, welche mit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit und Selbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. Diesen Standpunkt nehmen die Schriften von Warlomont (Brüssel 1875) und Bourneville (Par. 1875) über Louise Lateau und Charbonnier ("Maladies des mystiques", Brüssel 1875) ein; aus der unübersehbaren fernern Litteratur vgl. Schwann. Mein Gutachten über die Versuche etc. (Köln 1875).
Stigmatypie (griech.), ein von Fasol in Wien erfundenes Setzverfahren zur Herstellung von Bildern durch Punkte auf typographischem Weg.
Stikeen (spr. -kihn, Stachine), Fluß in Nordamerika, entspringt auf dem Tafelland von Britisch-Columbia, durchfließt in seinem untern, schiffbaren Teil das Territorium Alaska und mündet unterm 57.° nördl. Br. in den Stillen Ozean. An seinen Ufern wurde 1862 Golo entdeckt. Dampsschiffe befahren ihn 320 km weit.
Stil (v. lat. stilus, "Griffel", Schreibart), bezeichnet in der Litteratur die Art und Weise der sprachlichen Darstellung, wie sie sowohl durch die geistige Fähigkeit und subjektive Eigentümlichkeit des Schriftstellers als auch durch den Inhalt und den Zweck des Dargestellten bedingt wird. Da der S. also als die durch das Ganze der schriftlichen Darstellung herrschende Art, einen Gegenstand aufzufassen und auszudrücken, nicht nur von dem Inhalt des Gegenstandes, sondern auch von dem Charakter und der Bildung des Menschen abhängig ist, so hat eigentlich jeder Schriftsteller seinen eignen S., was Buffon meint, wenn er sagt: "Der S. ist der Mensch selbst" ("le style c'est l'homme même"). Die erste Forderung, die man an jede Art des Stils macht, ist Deutlichkeit und Klarheit. Die Deutlichkeit verlangt aber Reinheit der Sprache oder Vermeidung aller
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Stilbit - Stilke.
Wörter, die das Bürgerrecht in der Sprache nicht erlangt haben, z. B. aller Provinzialismen, ausländischer, ohne Not neugeschaffener oder veralteter Wörter; treue Beobachtung der durch die Grammatik bestimmten Gesetze; Korrektheit, wonach man das den darzustellenden Begriff bezeichnende und deckende Wort wählt; Präzision oder Bestimmtheit, wonach alles Überflüssige entfernt und nicht mehr oder weniger gegeben wird, als was zur genauen Darstellung des Gedankens erforderlich ist. Inhalt und Zweck der stilistischen Darstellung können verschieden sein, und man unterscheidet insbesondere drei Kräfte, die bei derselben in Wirksamkeit treten: Verstand, Einbildung und Gefühl, weshalb man von einem S. des Verstandes, der Einbildung und des Gefühls spricht. Bei dem erstern wird man sich vor allem der Deutlichkeit, bei dem zweiten der Anschaulichkeit und bei dem dritten der Leidenschaftlichkeit zu befleißigen haben. Zu dem ersten gehört die prosaische Darstellung im allgemeinen, zu dem zweiten die Epik und das Drama, zu dem dritten die Lyrik und die Rede. Die alten Griechen und Römer unterschieden, ungefähr dem entsprechend, aber ohne Rücksicht auf Inhalt und Zweck der Darstellung, in der Prosa einen niedern (genus submissum), einen mittlern (g. medium) und einen höhern S. (g. sublime), und es sollen nach ihrer Regel z. B. in einer Rede alle drei Stilarten miteinander abwechseln (vgl. Rede). Im übrigen unterscheidet man mehrere stilistische Gattungen mit gewissen feststehenden Formen, z. B. den philosophischen, den didaktischen, den historischen, den Geschäfts- und Briefstil. Die Theorie des Stils oder Stilistik ist die geordnete Zusammenstellung aller Regeln des guten Stils oder der üblichen Art, sich schriftlich auszudrücken. Vgl. Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik (2. Aufl., Halle 1888). - In der bildenden Kunst versteht man unter S. einerseits die in einem Kunstwerk zur Darstellung gebrachte formale und geistige Anschauung, wie sie bei einem Volk oder in einer gewissen Zeit für die verschiedenen Künste als maßgebend angesehen ward, anderseits die individuelle, sich von der allgemeinen Richtung in Einzelheiten unterscheidende Darstellungsweise eines Künstlers. Wenn sich dieser individuelle S. zu einseitig ausprägt oder seinen geistigen Inhalt verliert, nennt man diese Darstellungsweise Manier (s. d.). Ebenso bezeichnet S. in der Musik sowohl die für eine Kompositionsgattung oder für bestimmte Instrumente erforderliche Schreibweise (Opernstil, Klavierstil, Kirchenstil, Vokalstil etc.) als auch die eigentümliche Schreibweise eines Meisters. Auch spricht man von einem strengen oder gebundenen S. und versteht darunter die Schreibweise mit reellen Stimmen unter Beobachtung der für den Vokalstil gültigen Gesetze, und von einem freien oder galanten S., welcher sich nicht an eine bestimmte Anzahl Stimmen bindet, sondern dieselben nach Belieben vermehrt oder vermindert etc. Endlich heißt auch S. die verschiedene Rechnungsart nach dem julianischen und gregorianischen Kalender. Man unterscheidet alten S., nach dem julianischen (noch jetzt bei den Russen gebräuchlich), und neuen S., nach dem gregorianischen Kalender, die beide um zwölf Tage voneinander abweichen; daher datiert man meist 12./24. Jan., d. h. 12. Jan. nach dem alten und 24. Jan. nach dem neuen S.
Stilbit (Heulandit, Blätterzeolith), Mineral aus der Ordnung der Silikate (Zeolithgruppe), kristallisiert monoklinisch, findet sich aufgewachsen oder in Drusen (s. Tafel "Mineralien", Fig. 7), auch derb in strahligblätterigen Aggregaten, ist farblos, gelblich, grau, braun oder durch eingeschlossene Schüppchen von Eisenoxyd rot, glasglänzend, durchsichtig bis kantendurchscheinend, Härte 3,5-4, spez. Gew. 2,1-2,2, besteht aus Thonerdekalksilikat H4CaAl2Si6O18+3H2O mit geringem Natriumgehalt. Fundorte aus Erzlagern oder Gängen (Arendal, Kongsberg, Andreasberg), häufig in Blasenräumen der Basalte und Basaltmandelsteine auf den Färöern, Island, Skye, im Fassathal und in Nordamerika. S. auch s. v. w. Desmin (s. d.).
Stilett (ital.), Spitzdolch, ein kleiner Dolch mit schlanker, spitzer Klinge; s. Dolch.
Stilfser Joch (Monte Stelvio, Wormser Joch), der höchste fahrbare Alpenpaß, 2756 m ü. M., an der Nordwestseite der Ortleralpen in Tirol, mit prachtvoller Kunststraße, welche das Etschthal (Vintschgau) mit dem Thal der Adda (Veltlin) verbindet. Die Straße wurde 1820-25 vom Ingenieur Donegani angelegt, ist 53 km lang und führt von Spondinig im Vintschgau über Gomagoi (Mündung des Suldenthals), Trafoi und Franzenshöhe in 48 Windungen, von denen die letzten teilweise durch Galerien gedeckt sind, bis zur Paßhöhe und von dort in 38 Windungen in das Brauliothal und weiter nach Bormio in der italienischen Provinz Sondrio. Die Straße übertrifft an Großartigkeit der Umgebung alle fahrbaren Alpenübergänge. Seinen Namen erhielt das Joch nach dem oberhalb der Straße gelegenen Tiroler Dörfchen Stilfs.
Stilicho, röm. Feldherr und Staatsmann, Sohn eines im römischen Heer dienenden Vandalen, schwang sich durch Mut, Einsicht und Treue unter Kaiser Theodosius I. zu den höchsten Stellen empor und ward von diesem zum Gemahl seiner Nichte und Pflegetochter Serena und zum Vormund seines Sohns Honorius, welcher 395 als elfjähriger Knabe die Herrschaft des weströmischen Reichs antrat, erwählt. S. ließ seinen Nebenbuhler Rufinus ermorden, zwang 396 den Gotenkönig Alarich, das von ihm verwüstete Griechenland zu räumen, unterdrückte 398 den Aufstand des Gildo in Afrika, brachte Alarich, als derselbe 403 in Italien einfiel, zwei Niederlagen bei Pollentia und Verona bei, durch die derselbe genötigt wurde, Italien zu verlassen, und als 405 oder 406 ein großes Heer deutscher Völker unter Radagaisus in Italien eindrang, wurde dieses bei Fäsulä von ihm eingeschlossen und fast völlig vernichtet. Dagegen vermochte er nicht, Gallien gegen die Vandalen und Alanen, welche dasselbe 406 überschwemmten, zu schützen und Britannien, wo sich Constantinus zum Gegenkaiser erhoben hatte, wieder zu unterwerfen. Er wurde 408 durch Olympius gestürzt und in Ravenna ermordet. Vgl. Keller, Stilicho (Berl. 1884).
Stilisieren, stilmäßig formen, besonders in Bezug auf die Schreibweise (s. Stil); in der Zeichenkunst und Malerei das Zurückführen der Naturformen unter Fortlassung des Zufälligen und Willkürlichen auf Grundformen, in welchen eine gewisse Gesetzmäßigkeit waltet. So ist z. B. der Akanthus (s. d., mit Abbildung) am korinthischen Kapitäl stilisiert. Über stilisierte oder stilistische Landschaften s. Heroisch.
Stilistik (lat.), s. Stil.
Stilke, Hermann, Maler, geb. 29. Jan. 1803 zu Berlin, studierte auf der Akademie daselbst, dann seit 1821 in München unter Cornelius, folgte demselben nach Düsseldorf, malte mit Stürmer gemeinsam im Assisensaal zu Koblenz das (unvollendete) Jüngste Gericht, führte darauf mehrere Fresken in den Arkaden zu München aus, besuchte 1827 Oberitalien und ging 1828 nach Rom. 1833 kehrte er nach Düsseldorf zurück, stellte 1842-46 im Rittersaal des Schlosses
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Stille - Stiller Ozean.
Stolzenfels die sechs Rittertugenden in großen Wandbildern dar, siedelte 1850 nach Berlin über und starb daselbst 22. Sept. 1860. Außer einigen Fresken für das königliche Schloß in Berlin und das Schauspielhaus in Dessau malte er dort nur Staffeleibilder. Von seinen übrigen Werken sind hervorzuheben: Kreuzfahrerwacht (1834), St. Georg mit dem Engel, Pilger in der Wüste (Nationalgalerie in Berlin), die Jungfrau von Orléans, die letzten Christen in Syrien (1841, Museum in Königsberg), Raub der Söhne Eduards (Nationalgalerie in Berlin). - Seine Gattin Hermine S., geborne Peipers, geb. 1808, gest. 1869, hat sich als talentvolle Zeichnerin und Aquarellmalerin bekannt gemacht.
Stille, Karl, Pseudonym, s. Demme 1).
Stille Gesellschaft, s. Handelsgesellschaft.
Stillen der Kinder, die Ernährung der Kinder in den ersten Lebensmonaten durch die Mutter- oder Ammenmilch. Für das neugeborne Kind, den Säugling, ist die Milch seiner Mutter die natürlichste und gesündeste Nahrung. Anderseits ist das Stillen ihrer Kinder für die Mutter eine natürliche Pflicht und für die Erhaltung ihrer eignen Gesundheit, zumal während des Wochenbettes, erforderlich. Bleibt die Mutter gesund, und wird die Milchabsonderung nicht gestört, so genügt die Mutterbrust dem Kind bis zu der Zeit, wo mit dem Durchbruch der Zähne sich der Trieb nach festen Nahrungsmitteln äußert. Mit dem ersten Anlegen des Kindes darf man nicht warten, bis die Brüste reichlichere und wirkliche Milch geben. Gerade durch das Saugen des Kindes wird die Milchabsonderung am besten befördert, und das Kolostrum, welches vom Kind zuerst verschluckt wird, begünstigt den Abgang des Kindspechs aus dem Darm. Schon in den ersten 24 Stunden nach der Geburt, am besten, sobald das Kind ordentlich aufgewacht ist, legt man dasselbe an die Brust und wiederholt dies etwa alle 3 Stunden, im allgemeinen um so häufiger, je schwächlicher das Kind ist, und läßt es dann um so weniger auf einmal trinken. Sonst aber läßt man es saugen, bis es satt ist, d. h. bis es zu trinken aufhört, oder bis es einschläft. Man läßt das Kind nun so lange schlafen, bis es von selbst aufwacht, und gibt ihm dann wieder die Brust. Nach einigen Monaten braucht dem Kinde die Brust nur in größern Zwischenräumen gereicht zu werden, und es pflegt dann um so größere Portionen auf einmal zu trinken. Wegen der nachteiligen Wirkung auf die Milchabsonderung und somit auch auf den Säugling darf dieser niemals gleich nach einem heftigen Gemütsaffekt, Zorn oder Ärger, der Mutter an die Brust gelegt werden; man kennt viele Fälle, wo Kinder unter solchen Umständen plötzlich erkrankt und selbst gestorben sind. Nach jedesmaligem Trinken muß der Mund des Säuglings mit einem zarten, in Wasser getauchten Leinwandläppchen sorgfältig gereinigt werden. Es ist dies das sicherste Mittel gegen Schwämmchenbildung auf der kindlichen Mundschleimhaut sowie gegen das Wundwerden der Brustwarzen. Mit der Entwickelung der Zähne müssen dem Kind noch andre Nahrungsmittel als Milch gereicht werden, und jetzt, wenn das Kind die Mutterbrust beißen kann, soll es von derselben entwöhnt werden, gewöhnlich etwa nach Vollendung des ersten Lebensjahrs, oft aber auch erst später. Je schwächlicher und kränklicher das Kind, je schlechter es genährt ist, um so später ist dasselbe zu entwöhnen, desgleichen bei bestehendem Verdacht auf erbliche Anlage zu gewissen Krankheiten. Hier fahre man womöglich mit dem Stillen über das erste Zahnen hinaus fort. Überhaupt warte man mit dem Entwöhnen eine Zeit ab, wo das Kind ganz gesund ist, und nehme es womöglich erst im Frühjahr oder Sommer vor. Immer sollte das Kind schon vorher mit Vorsicht und allmählich an dünnen Milchbrei, Suppen mit Zwieback, Arrowroot u. dgl. gewöhnt werden. Dem entwöhnten Kind gibt man täglich vier- bis fünfmal einen dünnen Brei aus feinem Weizenmehl, fein gestoßenem Zwieback und Milch mit wenig Zucker. Nebenher gibt man dem Kind gute, erwärmte, nicht abgekochte Kuhmilch, unter Umständen mäßig verdünnt, zu trinken. Wird das Kind stärker, so reicht man ihm Kalbfleisch- und Hühnerfleischbrühe, später auch andre Fleischbrühsuppen mit Grieß, Reis u. dgl., die aber durchgeseiht und einem dünnen Brei ähnlich sein müssen, bis man endlich nach dem Zahndurchbruch zu festern Nahrungsmitteln übergeht.
Stiller Freitag, s. Karfreitag.
Stiller Ozean (engl. Pacific Ocean, franz. Océan Pacifique), derjenige Teil des Weltmeers, welcher sich zwischen Amerika, Asien und Australien von der Beringsstraße bis zum südlichen Polarkreis ausbreitet (s. Karte "Ozeanien") und gegen den Atlantischen Ozean durch den Meridian des Kap Horn, gegen den Indischen Ozean durch den Meridian des Kap Liuwin abgegrenzt wird. Er überdeckt (uneingerechnet das Chinesische Meer und die australisch-ostindischen Archipelgewässer) einen Flächenraum von 2,926,210 QM. oder 161,125,673 qkm (nach Krümmels Berechnung), übertrifft also an Ausdehnung die Gesamtoberfläche der fünf Kontinente (2,441,642 QM.). Die älteste Benennung des Stillen Ozeans war Mar del Zur, die Südsee, weil dieses Meer bei der ersten Entdeckung 1513 von Vasco Nunez de Balboa im Süden des Isthmus von Darien gesehen wurde. Die Benennung Südsee ist noch jetzt für das gesamte inselreiche Meer südlich von Japan und den Sandwichinseln, namentlich bei den Seeleuten, allgemein in Gebrauch. Die von Malte-Brun herrührende Bezeichnung als Großer Ozean hat sich nicht allgemein einzubürgern vermocht und verschwindet mehr und mehr. Die in allen Sprachen eingebürgerte Bezeichnung Pacific oder S. O. rührt von Magelhaens her, welcher nach stürmischer Fahrt drei Monate lang bei beständigem stillen Wetter dieses Meer durchsegelte, bis er die Ladronen erreichte. Die Erforschung des Stillen Ozeans auf wissenschaftlicher Grundlage datiert von Cook und seinen unmittelbaren Nachfolgern. Krusenstern, Dumont d'Urville, King und Fitzroy und eine Reihe andrer hervorragender Seeoffiziere setzten diese Arbeiten in unserm Jahrhundert fort. Die Hydrographie des Stillen Ozeans ist so weit gefördert, daß Entdeckungen neuer Inseln als ausgeschlossen gelten dürfen, wenn auch die genauere Bestimmung und Kartierung der zahlreichen kleinen Inseln (nahe 700) noch zum größern Teil der Zukunft vorbehalten bleibt.
Die Tiefenverhältnisse des Stillen Ozeans sind durch eine Reihe von Forschungen in den beiden letzten Jahrzehnten in großen Zügen bestimmt worden. Danach befindet sich im nördlichen Stillen Ozean ein großes Depressionsgebiet von über 6000 m Tiefe (Tuscaroratiefe), dessen westlicher Teil die größte bisher gelotete Tiefe aufweist (8513 m; vgl. die Tabelle im Art. "Meer", S. 411). Der steile Abfall von der Küste von Japan zu diesen großen Tiefen ist bemerkenswert. Ein kleines tiefes Gebiet liegt in großer Nähe des südamerikanischen Kontinents. Dagegen ist der südliche Stille Ozean, soweit bis jetzt erforscht, verhältnismäßig arm an großen Tiefen. Die Tiefenverhältnisse zwischen den einzelnen Inselgruppen sind
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Stiller Ozean (Hydrographisches, Verkehrsverhältnisse).
noch wenig bekannt und nach den vereinzelten Lotungen als sehr ungleichmäßig zu betrachten.
Die für den Stillen Ozean charakteristischen Erdbebenwellen, welche von Zeit zu Zeit beobachtet worden sind, lassen einen Schluß zu auf die mittlere Tiefe des durchlaufenen Meeresgebiets. Die Erdbebenwellen von 1854, 1868 und 1877 sind zu solchen Berechnungen benutzt und haben für die Richtung Kalifornien-Japan rund 4050 m, für die Richtung Peru-Neuseeland 2750 m ergeben (Hochstetter 1869, Geinitz 1877 in "Petermanns Geographischen Mitteilungen"). Bisher sind solche Beobachtungen nur immer an einer Seite des Ozeans mit selbstregistrierenden Apparaten angestellt, während die Zeitangaben für die andre Seite schwankend waren. Die Ergebnisse sind daher noch ungenau. Auf Grund der verschiedenen Lotungen und Berechnungen bis zum Jahr 1878 ist die mittlere Tiefe des Stillen Ozeans von Supan gefunden worden zu 3370 m, von Krümmel (ohne Rücksicht auf die Wellenrechnung) zu 3912 m. Das Stromsystem an der Oberfläche des Stillen Ozeans zeigt in seinen Hauptzügen Analogien mit dem des Atlantischen Ozeans. Auch hier wird ein Äquatorialstrom von den Passaten zu beiden Seiten des Äquators nach W. getrieben. Die Nordgrenze dieser Westströmungen setzt Duperrey in 24° nördl. Br., die Südgrenze in 26° südl. Br. In der Nähe des Äquators findet sich ein östlich gerichteter Äqnatorialgegenstrom, in der Regel zwischen 2 und 6° nördl. Br. angegeben. Diese Strömungen sind bei weitem nicht so stark und beständig wie die analogen des Atlantischen Ozeans. Da außerdem ihre Grenzen nach N. und Süden mit den Jahreszeiten schwanken müssen, so bedarf es einer sehr großen Zahl von Beobachtungen, um ein zuverlässiges Bild dieser Verhältnisse zu erlangen. Daran mangelt es so sehr, daß die Fortführung dieser Strömungen über den ganzen Ozean auf einer Verbindung von Einzelbeobachtungen und Wahrscheinlichkeiten beruht, welche noch weiterer Bestätigung bedürfen. Die weitaus größte Fläche des Stillen Ozeans ist frei von regelmäßigen Strömungen, an den Küsten der Kontinente dagegen finden sich ausgeprägte Stromverhältnisse, welche denen des Atlantischen Ozeans nahekommen. Namentlich der Kuro Siwo (Schwarzer oder Japanischer Strom, s. Kuro Siwo), welcher warmes Wasser an der Ostküste von Japan nach N. führt, ist stets gern mit dem Golfstrom verglichen worden. Seine Fortsetzung macht sich an der Westküste Nordamerikas in warmem, feuchtem Klima bemerklich. Der Labradorströmung der Ostküste von Nordamerika entspricht das kalte Wasser im Ochotskischen Meer und bis zur Halbinsel von Korea. Im südlichen Stillen Ozean finden sich ebenfalls analoge Strömungen wie im südlichen Atlantischen Ozean. Eine nach Süden setzende australische Strömung macht sich an der Küste von Neusüdwales bemerklich. Im Süden von Australien herrscht ein östlicher Strom vor, welcher den australischen Strom nach Neuseeland hin ablenkt.
Südlich von 30° südl. Br. herrschen Westwinde und mit ihnen laufende Ostströme vor, welche nach der Westküste Südamerikas das Wasser hintreiben. Daraus resultieren an dieser Küste die an der patagonischen Küste nach Süden um das Kap Horn setzende Strömung und nach N. die kalte Peru- oder Humboldt-Strömung, welche sich bis über die Galapagosinseln hinaus fortsetzt und auf das Klima der ganzen Küste einen so wohlthätigen Einfluß ausübt. Die an der Küste von Chile und Peru bekannten dichten Nebel werden diesem kalten Wasser zugeschrieben. Doch wird selbst diese Strömung streckenweise durch anhaltende Nordwinde in ihren obern Schichten zum Stillstand gebracht. Neuere Forschungen machen es wahrscheinlich, daß das kalte Wasser an der peruanischen Küste nicht der Strömung direkt entstammt, sondern aus der Tiefe aufsteigt.
Die Temperaturverteilung an der Oberfläche dieses ausgedehnten Wasserbeckens ist nur lückenhaft erforscht. Es knüpft sich jedoch an die Kenntnis derselben das für die Südsee so wichtige Problem von der Verbreitung der Riffe bauenden Korallen; man hat daher aus direkten Beobachtungen, aus den Strömungen und aus der Lage der Koralleninseln wechselseitig Schlüsse gezogen. Danach ist die Oberflächentemperatur zwischen 28° nördl. Br. und 28° südl. Br. im allgemeinen nicht niedriger als 20° C., mit Ausnahme der Gewässer im Bereich der peruanischen Strömung und der Küste von Kalifornien, während im O. das warme Wasser noch höhere Breiten (Japan) erreicht. Im Bereich des Äquatorialgegenstroms ist das Wasser, ebenso wie im Atlantischen Ozean, am wärmsten. Das Gebiet, in welchem das Wasser über 20° warm bleibt, bietet die Lebensbedingungen für die Riffe bauenden Korallen, welche im Stillen Ozean eine so große Verbreitung aufweisen (vgl. Dana, Corals and coral-islands) und Inselgruppen von der Ausdehnung der Karolinen u. der Tuamotus u.a. ganz ausschließlich aufgebaut haben. Eine charakteristische Eigentümlichkeit des westlichen Stillen Ozeans sind die tiefen Meeresbecken, welche von der freien Zirkulation des Tiefenwassers durch unterseeische Bodenerhebungen abgeschlossen werden (vgl. Tiefentemperatur im Art. "Meer", S. 413 f.). Eine solche Erhebung verbindet in ca. 2600 m Tiefe Japan mit den Bonininseln, Marianen und Karolinen und umschließt ein 8400 m tiefes Becken. Das Korallenmeer mit Tiefen von 4900 m ist in 2500 m durch eine Bodenerhebung abgesperrt, ebenso sind die Sulusee (4700 m), Mindorosee (4800 m), Celebessee (5150 m) in Tiefen von 600-1200 m umrandet, wie sich aus ihren warmen Bodentemperaturen unzweifelhaft ergibt.
Die Windverhältnisse des Stillen Ozeans sind im allgemeinen denen des Atlantischen Ozeans ähnlich. Zwischen 25° nördl. Br. und 25° südl. Br. wehen vorherrschend Nordost- und Südostpassate, welche jedoch hier nur durch einen schmalen, im mittlern Teil sogar überhaupt nicht durch einen Stillengürtel voneinander getrennt sind. An der Westküste von Nordamerika sind nördliche, an der von Südamerika sehr beständige, aber schwache südliche Winde das ganze Jahr hindurch vorherrschend. Die Westseite des Stillen Ozeans, namentlich die oben genannten, durch ihre Tiefentemperaturen merkwürdigen Meeresteile liegen im Gebiet der Monsune, welche sie mit dem Indischen Ozean (s. d.) gemeinsam haben. Die höhern Breiten beider Hemisphären weisen, ähnlich wie im Atlantischen Ozean, vorherrschend Westwinde auf, welche namentlich im Süden sehr kräftig und beständig angetroffen werden.
Verkehrsverhältnisse des Stillen Ozeans.
Der Stille Ozean ist erst sehr spät dem Weltverkehr eröffnet worden. Seine nordwestliche Küste wurde allerdings schon in früher Zeit befahren, ohne daß man aber eine Ahnung davon hatte, daß man sich hier in andern Gewässern befinde als denen des Atlantischen Ozeans. Auch Kolumbus meinte, daß letzterer bis nach Japan und China reiche. Erst dem Vasco Nunez de Balboa verdanken wir die Entdeckung der Existenz einer zwischen der Westküste Amerikas und Asien sich hinziehenden Meeresfläche. Als der
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Stillfried-Rattonitz - Stillleben.
eigentliche Entdecker des Stillen Ozeans muß aber Magelhaens gelten, welcher ihn in seiner ganzen Ausdehnung von SO. nach NW. durchquerte. Aber erst 44 Jahre später (1565) gelang dem Mönch und Seefahrer Urbaneta der oft gemachte, stets mißglückte Versuch, den Stillen Ozean von W. nach O. zu durchmessen. Doch bot trotz mancher neuen Unternehmungen noch 250 Jahre nach Magelhaens der Stille Ozean noch immer ein ungeheures Feld für Entdeckungen; der Ruhm, nicht nur die in ihm verstreuten Archipele und einzelnen Inseln, auch seine Tiefenverhältnisse und Riffe näher bekannt gemacht zu haben, gebührt unbestritten Cook, und wenn auch nach ihm noch viel gethan wurde, die Hauptarbeit hatte er doch geleistet. Indessen eine Verkehrsstraße wurde der Stille Ozean erst viel später. Seine Ränder freilich wurden an den asiatischen und den australischen Küsten sowie entlang der Westseite Amerikas mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, bez. der Erschließung derselben für den europäischen Handel mit jedem Jahr belebter; allein ein Bedürfnis, durch die ganze weite Fläche des Ozeans einen regelmäßigen Verkehr hindurchzuleiten, stellte sich erst weit später ein. Dies fand erst nach dem Aufblühen der australischen Kolonien und nach der regern Anteilnahme Nordamerikas an dem Handel mit Ostasien statt. Die Vollendung der Eisenbahn über den Isthmus von Panama führte zur Errichtung einer Dampferlinie von Panama nach Sydney als Fortsetzung einer in Aspinwall endigenden englischen Linie, aber die Pacificbahn von New York nach San Francisco gab dem Verkehr sofort eine andre Bahn. Die Dampfer verließen in Zukunft San Francisco, um über Honolulu und Auckland nach Sydney zu gelangen, und kehrten auf demselben Weg zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Eine Linie von Segelschiffen stellte regelmäßige Verbindung zwischen San Francisco und den französischen Markesas und Tahiti her. Eine bessere Kenntnis der Winde und Meeresströmungen bestimmte viele Segler, den Weg von Australien nach Europa um die Südspitze Amerikas zu nehmen. Die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutung der australischen Kolonien führte Hand in Hand mit einem schnell wachsenden Handelsverkehr zu einer Vermehrung der zwischen Europa und dem fünften Weltteil fahrenden Postdampferlinien. Zu den Linien, welche um die Südküste des Australkontinents dessen Ostküste erreichen, traten solche, welche die Torresstraße durchziehen, kamen Anschlußlinien in Sydney nach Neukaledonien, dem Fidschiarchipel, der Samoa- und Tongagruppe sowie nach Neuguinea. Englische, französische und deutsche Dampfer traten hier in Konkurrenz. Den nördlichen Stillen Ozean durchziehen zwei von Hongkong über Jokohama gehende Dampferlinien, deren eine in San Francisco, deren andre in Vancouver endet. Ein größerer Verkehr mit und zwischen den einzelnen Inseln wurde erst dann zum Bedürfnis, als man auf denselben oder in deren Gewässern Waren entdeckte, deren der Welthandel benötigt, wie Kopra und Kokosnußkerne, Perlen und Perlmutter, Trepang, Schildkrötenschalen, und als die von europäischen Unternehmern in Ostaustralien und auf mehreren Inselgruppen begonnene Plantagenwirtschaft eine Nachfrage nach Arbeitern erzeugte, die nur durch Herbeiziehung von Bewohnern gewisser Inselgruppen befriedigt werden konnte. Daß das Telegraphenkabel hier noch einen wenig bedeutenden Platz einnimmt, ist bei der ungeheuern Ausdehnung des Stillen Meers erklärlich. Doch haben bereits seit längerer Zeit Tasmania und Neuseeland Anschluß an den Australkontinent gefunden, der wiederum durch Kabel und Landlinien mit der übrigen Welt in Verbindung steht.
Stillfried-Rattonitz, Rudolf Maria Bernhard, Graf von, preuß. Geschichtsforscher, geb. 14. Aug. 1804 zu Hirschberg aus einem alten, ursprünglich böhmischen, jetzt auch in Schlesien verzweigten Geschlecht, studierte zu Breslau die Rechte, trat für kurze Zeit in den Staatsverwaltungsdienst und widmete sich dann historisch-antiquarischen Studien. Er begründete, von Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gezogen und 1840 zum Zeremonienmeister ernannt, das königliche Hausarchiv und ward 1856 Direktor desselben. Seit 1853 Oberzeremonienmeister und 1856 Wirklicher Geheimer Rat, ward er 1858 in Lissabon zum Granden erster Klasse mit dem Titel eines Grafen von Alcantara und 1861 zum preußischen Grafen ernannt. Auch ward er zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt. Er starb 9. Aug. 1882. S. machte sich unter anderm durch folgende Arbeiten bekannt: "Altertümer und Kunstdenkmale des Hauses Hohenzollern" (Berl. 1838-67, 2 Foliobände), "Geschichte der Burggrafen von Nürnberg" (Görl. 1843), "Monumenta Zollerana" (Berl. 1843-62, 7 Bde.), "Der Schwanenorden" (Halle 1845), "Beiträge zur Geschichte des schlesischen Adels" (Berl. 1860-64, 2 Hefte), "Stammtafel des Gesamthauses Hohenzollern" (das. 1869; neue Ausg. 1879, 6 Blatt), "Hohenzollern. Beschreibung u. Geschichte der Burg" (Nürnb. 1871), "Friedrich Wilhelm III. und seine Söhne" (Berl. 1874), "Die Attribute des neuen Deutschen Reichs" (3. Aufl., das. 1882), "Die Titel und Wappen des preußischen Königshauses" (das. 1875), "Kloster Heilsbronn" (das. 1877) und gab mit Kugler das Prachtwerk "Die Hohenzollern und das deutsche Vaterland" (3. Aufl., Münch. 1884, 2 Bde.) sowie mit Hänle "Das Buch vom Schwanenorden" (das. 1881) heraus. Auch leitete er den Bau der Burg Hohenzollern und die Wiederherstellung der Klosterkirche zu Heilsbronn.
Stillgericht, s. Femgerichte.
Stilling, Schriftsteller, s. Jung 2).
Stillingia L. (Talgbaum), Gattung aus der Familie der Euphorbiaceen, meist Sträucher mit wechselständigen, ganzen Blättern, endständigen Blütenähren und dreisamigen Kapseln. S. sebifera Michx. (Exoecaria sebifera J. Müll., s. Tafel "Öle und Fette liefernde Pflanzen"), ein kleiner Baum mit langgestielten, breit rhombisch-eiförmigen, ganzrandigen Blättern und großer, kugelig-elliptischer Kapsel, besitzt haselnußgroße, schwarze Samen, welche mit talgartigem Fett umgeben sind. Er ist in China und Japan heimisch, wird dort sowie in Ost- und Westindien, Nordamerika, Algerien und Südfrankreich kultiviert und liefert den chinesischen Talg. Durch Pressen der von der Fetthülle befreiten Samen erhält man fettes Öl. S. silvatica J. Müll., ein Strauch mit fast sitzenden und linealischen bis elliptisch lanzettlichen Blättern, im südlichen Nordamerika, liefert eine purgierend wirkende Wurzel.
Stillkoller, s. Dummkoller.
Stillleben (holländ. Stilleven, engl. Still-life, franz. Nature morte, ital. Riposo), ein Zweig der Malerei, welcher die Darstellung lebloser Gegenstände, wie toter Tiere (Wild, Geflügel und Fische), Haus-, Küchen- und Tischgeräte, Früchte, Blumen, Kostbarkeiten, Raritäten etc., zum Gegenstand hat und besonders durch ein geschicktes Arrangement, durch koloristische Reize und feine Beleuchtung zu wirken sucht. Schon im Altertum entwickelte sich das S. seit
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Stillwater - Stimme.
der alexandrinischen Zeit zu größter Blüte, wofür die pompejanischen Wandbilder noch zahlreiche Beispiele liefern. Die Malerei der Renaissance behandelte das S. nicht als eine selbständige Gattung der Malerei. Seit dem Anfang des 17. Jahrh. wurde es jedoch von den niederländischen Malern in großem Umfang kultiviert und zur höchsten Virtuosität entwickelt, wobei man zwei Richtungen zu unterscheiden hat, deren eine nach glänzender koloristischer Wirkung bei einer mehr aufs Ganze gerichteten dekorativen Behandlung strebte, während die andre mehr auf peinliche, miniaturartige Wiedergabe der Einzelheiten sah. Die Hauptvertreter der niederländischen Stilllebenmalerei sind: J. Brueghel der ältere, Snyders, Seghers, die Familie de Heem, A. van Beijeren, W. Kalf, Heda, W. van Aelst, Dou, Fyt, Weenix, R. Ruysch, van Huysum u. a. m. Im 19. Jahrh. ist das S. wieder sehr in Aufnahme gekommen, in Frankreich besonders durch Robie, Vollon und Ph. Rousseau, in Deutschland durch Preyer (Düsseldorf), die Berliner Hoguet, P. Meyerheim, Hertel, Th. und R. Grönland, Heimerdinger (Hamburg), namentlich aber durch die Malerinnen Begas-Parmentier, H. v. Preuschen, Hormuth-Kallmorgan, Hedinger u. a. Vgl. Blumen- und Früchtemalerei.
Stillwater, Stadt im nordamerikan. Staat Minnesota, 25 km nordöstlich von St. Paul, am schiffbaren St. Croix, hat ein Staatsgefängnis, bedeutenden Holzhandel und (1885) 16,437 Einw.
Stilo (ital.), Stil; S. osservato, der "hergebrachte", strenge Stil, besonders der reine Vokalstil, a cappella-Stil, Palestrinastil; S. rappresentativo, der für die szenische Darstellung geeignete, dramatische Stil, die um 1600 zu Florenz erfundene begleitete Monodie (s. Oper, S. 398).
Stilo, Stadt in der ital. Provinz Reggio di Calabria, Kreis Gerace, am Stillaro, hat ein merkwürdiges altes Kirchlein, Seidenzucht, Weinbau und (1881) 2655 Einw. Das südöstlich davon gelegene Kap S. schließt südlich den Golf von Squillace.
Stilpnosiderit (Eisenpecherz, Pecheisenstein), Mineral aus der Ordnung der Hydroxyde, tritt gewöhnlich gleichzeitig mit Brauneisenstein in nierenförmigen oder stalaktitischen, amorphen, pechschwarzen oder schwärzlichbraunen Massen mit starkem Fettglanz auf; Härte 4,5-5, spez. Gew. 3,6-3,8. S. enthält Eisenoxyd und Wasser und nähert sich bald dem Brauneisenerz (14 Proz. Wasser), bald dem Goethit (10 Proz. Wasser); er findet sich bei Siegen, Sayn, Amberg, in Böhmen und Mähren und wird mit Brauneisenstein verhüttet.
Stilpon, griech. Philosoph, aus Megara, blühte um 300 v. Chr. und erhob, durch Ernst und Reinheit seiner Ethik, in welcher er ein Vorläufer der Stoiker war, sowie durch Schärfe seiner Dialektik ausgezeichnet, die megarische Schule zu großem Ansehen. Von seinen Schriften hat sich nichts erhalten.
Stilton, Dorf in Huntingdonshire (England), mit (1881) 645 Einw., hat seinen Namen einer berühmten Sorte Käse gegeben, der hier zuerst verkauft wurde, indes meist aus Leicestershire kommt.
Stimmbänder, s. Kehlkopf.
Stimmbildung. Die verschiedenen, bei der Ausbildung der Singstimmen (s. Stimme, S. 321) in Betracht zu ziehenden Momente sind: 1) Bildung des richtigen Ansatzes (s. d.) der für den Gesang geeigneten Resonanz der Vokale; 2) Schulung des Atemholens und Atemausgebens (mittels des messa di voce), also Kräftigung der Respirationsorgane, welche die erste Vorbedingung einer Kräftigung der Stimme ist; 3) Übung im Festhalten der Tonhöhe (zugleich eine Übung der beteiligten Muskeln und Bänder und des Gehörs, ebenfalls mittels des Messa di voce); 4) Ausgleichung der Klangfarbe der Töne (wobei zu beachten ist, daß manchmal ein einzelner Ton schlecht anspricht); 5) Erweiterung des Stimmumfanges (durch Übung der Töne, welche dem Sänger bequem zu Gebote stehen); 6) Übung der Biegsamkeit der Stimme (zunächst langsame Tonverbindung in engen und weiten Intervallen, später Läuferübungen, Triller, Mordente etc.); 7) Ausbildung des Gehörs (systematische Treffübungen, Musikdiktat); 8) Übungen in der richtigen Aussprache (am besten durch Liederstudium) ; 9) Übungen im Vortrag (durch geschickte Auswahl von Werken verschiedenartigen Charakters für das Studium). Vgl. Gesang.
Stimmbruch, s. Mutation.
Stimme (Vox), im physiologischen Sinn der Inbegriff der Töne, welche im tierischen Organismus beim Durchgang des Atems durch den Kehlkopf willkürlich erzeugt werden. Das menschliche Stimmorgan zerfällt in das Windrohr, das Zungenwerk und in das Ansatzrohr. Der Kehlkopf ist ein Zungenwerk mit membranösen Zungen (den Stimmbändern). Als Windrohr dienen die Luftröhre und deren Verästelungen, als Zungen die beiden untern Stimmbänder, und das Ansatzrohr wird gebildet von den obern Teilen des Kehlkopfes (den Morgagnischen Taschen und den sogen. obern Stimmbändern) sowie von der Schlund-, Mund- und Nasenhöhle. Der Vorgang bei der Stimmbildung, welche auf regelmäßigen periodischen Explosionen der durch die enge Stimmritze tretenden Luft beruht, ist nun folgender: Die Luftröhre leitet die unter einem gewissen Druck stehende Ausatmungsluft gegen die mehr oder weniger gespannten und also schwingungsfähigen Stimmbänder, die jedoch für sich keine oder nur ganz schwache Töne geben. Die beiden untern Stimmbänder treten von den Seiten her einander entgegen und verwandeln die zwischen ihnen liegende Stimmritze in eine feine Spalte, welche dem Luftaustritt ein gewisses Hindernis entgegensetzt. Dadurch wird eine zu schnelle Entleerung des in den Lungen vorhandenen Luftvorrats verhindert, und es wird möglich, einmal den Ton längere Zeit hindurch auszuhalten und das andre Mal die Luft des Windrohrs durch den Druck der Ausatmungsmuskeln in eine bestimmte Spannung zu versetzen. Der Luftstoß drängt die Stimmbänder in die Höhe und etwas auseinander; sofort aber schwingen die Bänder zurück, und die Stimmritze wird dadurch wieder verengert. Dieses Schwingen der Stimmbänder mit abwechselnder minimaler Verengerung und Erweiterung der Stimmritze wiederholt sich oft und in rhythmischer Weise, d. h. die Schwingungen sind regelmäßige. Dadurch wird auch die Luft des Ansatzrohrs in regelmäßige, stehende, also tönende Schwingungen versetzt. Zur Hervorbringung selbst der schwächsten Töne ist eine gewisse Stärke des Anblasens nötig, d. h. es muß die Luft im Windrohr eine gewisse Spannung haben, welche wir ihr durch Zusammendrücken des Brustkorbes, d. h. durch die Ausatmung, geben. Bei großer Kraftlosigkeit der Atmungsmuskeln und bei einer Öffnung in der Luftröhre (Wunde) geht daher die S. verloren. Übrigens dienen die Wandungen der Luftröhre und der Bronchien sowie die in ihnen eingeschlossenen Luftmassen als Resonanzapparate, denn sie verstärken durch ihr Mitschwingen die Töne. Menschen mit entwickeltem Brustkorb haben darum eine kräftige S.; der Brustkorb selbst wird durch die
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Stimme (des Menschen).
S. in Schwingungen versetzt, welche die auf den Brustkorb aufgelegte Hand wahrzunehmen vermag (Stimmvibration des Thorax). Selbst beim heftigsten und schnellsten Ausatmen entstehen keine Töne, welche der S. irgendwie vergleichbar wären, sondern nur blasende oder keuchende Geräusche infolge der Reibung der Luft im Kehlkopf und an andern Stellen der Luftwege. Tonbildung ist immer nur möglich, wenn der Luftstrom regelmäßig unterbrochen wird durch die gespannten Stimmbänder. Aus diesem Grund muß eine feine Stimmritze vorhanden sein, wenn es zur Tonbildung kommen soll, denn die weite Stimmritze gibt kein hinreichendes Hemmnis für den Luftstrom ab. Diese Stimmritze wird ausschließlich durch die untern Stimmbänder gebildet, denn wenn man am toten Kehlkopf die untern Stimmbänder abträgt, so bekommt man mittels der obern Stimmbänder allein keine Töne mehr. Bei höhern Tönen näherten sich zwar auch die obern Bänder einander, doch nie in dem Grade, daß dadurch ein zur Tonbildung hinreichendes Lufthindernis gebildet wurde. Entfernt man aber am toten Kehlkopf die obern Bänder, so erlangt man durch die untern Bänder immer noch mit Leichtigkeit Töne, nur von etwas anderm Klang als bei unversehrtem Kehlkopf. Ebensowenig wird durch Verstümmelung der obern Bänder die Tonhöhe verändert. Die untern Bänder sind demnach unentbehrlich zur Tonerzeugung, und sie allein verdienen daher den Namen der Stimmbänder. Die Bildung der engen Stimmritze wird dadurch bewirkt, daß die Gießkannenknorpel aneinander rücken und somit den freien Rand der Stimmbänder einander nähern. Mit zunehmender Tonhöhe wird die Stimmritze enger und kürzer. Ganz unentbehrlich für die Stimmbildung ist die gehörige Spannung und Elastizität der Stimmbänder. Ist der Schleimüberzug derselben entzündlich geschwollen, mit zähem und dickem Schleim belegt, oder sind die Stimmbänder durch andre krankhafte Prozesse, Neubildungen etc., verdickt, so sind sie unfähig, in gehöriger Weise zu schwingen. Die Tongebung ist dann mehr oder weniger gehindert, die Töne werden rauh, unangenehmer und tiefer; in höherm Grade tritt völlige Stimmlosigkeit ein. Außerdem ist zum Hervorbringen eines Tons von bestimmter Höhe erforderlich, daß Länge und Spannung der Stimmbänder unverändert bleiben. Die Bildung und Öffnung der Stimmritze ist an die Ortsbewegungen gebunden, welche die beiden Gießkannenknorpel ausführen. Durch das Auseinanderrücken letzterer wird die Stimmritze gebildet (geschlossen), durch die Rückwärtsbewegung derselben werden die Stimmbänder gespannt und umgekehrt. Die Tonhöhe ist abhängig von der Länge und der Spannung der Stimmbänder. Die Länge der Stimmbänder ist von großem Einfluß auf die Stimmlage in der Art, daß mit langen Stimmbändern (beim Mann) eine tiefe, mit kurzen Stimmbändern (beim Kind und Weib) eine hohe Stimmlage verbunden ist. Für jedes einzelne Stimmorgan ist die Spannung der Bänder das Hauptveränderungsmittel der Tonhöhe: je größer die Spannung, um so höher der betreffende Ton. Die Spannung der Stimmbänder erfolgt durch Muskelwirkung , wobei ihr hinterer Insertionspunkt sich von dem vordern entfernt. Für alle die Formveränderungen, welche mit der Stimmritze bei der Tonbildung vor sich gehen, sind besondere Muskeln am Kehlkopf angebracht. Die Tonhöhe steigt jedoch nicht bloß mit zunehmender Spannung der Stimmbänder, sondern auch mit zunehmender Stärke des Luftstroms, welcher durch die Stimmritze geht. Eine und dieselbe Tonhöhe ist also erreichbar entweder durch stärkere Bänderspannung bei zugleich ruhigem Ausatmungsstrom oder mittels schwächerer Spannung der Bänder bei stärkerm Luftstrom. Im erstern Fall hat der Ton einen angenehmern Klang, aber beide Faktoren sind wichtige Kompensationsmittel der Tonhöhe. Auch erklärt sich hieraus, daß die höchsten Töne niemals schwach, die niedrigsten niemals sehr stark gegeben werden können. Obschon während des Ausatmens mit Abnahme des Luftvorrats auch die Kraft des Anblasens abnimmt, so kann der Ton trotzdem auf gleicher Höhe erhalten werden durch zunehmende Spannung der Stimmbänder. Das Ansatzrohr der musikalischen Zungenwerke wird am menschlichen Stimmorgan mit mannigfachen, der S. zu gute kommenden Modifikationen durch diejenigen Abschnitte der Luftwege vertreten, welche oberhalb der untern Stimmbänder liegen, also durch die Rachen-, Mund- und Nasenhöhle. Dieses Ansatzrohr verändert zwar nicht wesentlich die Tonhöhe, wohl aber den Klang und besonders die Stärke des Tons. Zuhalten der Nase, Schließen oder Öffnen des Mundes z. B. verändern in der That niemals die Höhe, wohl aber den Klang und die Stärke der Töne. Ein Verschluß der Nase ändert, wenn der Ausatmungsstrom schwach und der Mund weit geöffnet ist, den Klang der Töne verhältnismäßig nur wenig; bei starkem Luftstrom aber wird der Klang näselnd, indem die Wände der Nasenhöhle die Schallwellen nicht bloß reflektieren, sondern auch selbst in stärkere, den Klang modifizierende Schwingungen geraten. Zunehmende Räumlichkeit der Mund- und Nasenhöhle begünstigt, umfängliche Verknöcherung der Kehlkopfknorpel vermindert die Tonstärke.
Nach dem Umfang der menschlichen S. unterscheidet man den Sopran oder die höhere Frauenstimme, den Alt oder die tiefere Frauenstimme, den Tenor oder die hohe Männerstimme und den Baß oder die tiefe Männerstimme. Der Sopran liegt ungefähr eine Oktave höher als der Tenor, der Alt um ebensoviel höher als der Baß. Zwischen dem tiefsten Baß- und höchsten Sopranton liegen etwas über 3 1/2 Oktaven. Rechnet man die Stimmen von seltener Tiefe und Höhe dazu, so beträgt der ganze Umfang der Menschenstimme sogar 5 Oktaven; ihr tiefster Ton hat 80, ihr höchster 1024 Schwingungen in der Sekunde. Eine gute Einzelstimme umfaßt 2 Oktaven (und etwas darüber) musikalisch verwendbarer Töne. Stimmen von größerm Umfang sind nicht so selten, ja selbst ein Gebiet von 3 1/2 Oktaven wurde schon beobachtet. Der Baß erreicht ausnahmsweise f1, Kinderstimmen und der Frauensopran manchmal f3, ja selbst a3. Nur wenige Töne, nämlich von c1-f1, sind allen Stimmlagen gemein. Die Menschenstimme zeigt unendlich viele individuelle Modifikationen oder Klangarten. Hierfür sind außer der Regelmäßigkeit, d. h. der gleichen Dauer, der Schwingungen der Stimmbänder, wodurch die Reinheit der S. vorzugsweise bedingt wird, namentlich die Teile des Ansatzrohrs, deren Form, Größe, Elastizität etc. maßgebend. Abgesehen von den individuellen Klangarten, unterscheidet man zwei Hauptregister von Tönen: Brusttöne und Falsetttöne. Der Klang der erstern ist voll und stark, die auf die Brust gelegte Hand fühlt deutliche Vibrationen; die Falsett- oder Fisteltöne (s. Falsett) dagegen sind weicher. Weiteres s. unter Stimmbildung.
Vgl. v. Kempelen, Der Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung einer sprechenden Maschine (Wien 1791); Joh. Müller, über die
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Stimmer - Stimmführung.
Kompensation der physischen Kräfte am menschlichen Stimmorgan (Berl. 1839); Liskovius, Physiologie der menschlichen S. (Leipz. 1846); Merkel, Anthropophonik (das. 1857); Derselbe, Die Funktionen des menschlichen Schlund- und Kehlkopfes (das. 1862); Roßbach, Physiologie der menschlichen S. (Würzb. 1869); Luschka, Der Kehlkopf des Menschen (Tübingen 1871); Fournié, Physiologie des sons de la voix et de la parole (Par. 1877); Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen (4. Aufl., Braunschw. 1876); Grützner, Physiologie der S. und Sprache (in Hermanns "Handbuch der Physiologie", Bd. 1, Tl. 2, Leipz. 1879); Mandl, Die Gesundheitslehre der S. in Sprache und Gesang (Braunschw. 1876).
Die Stimmen der Tiere.
Mit Ausnahme der walfischartigen Tiere und des Stachelschweins, die weder Stimmbänder noch Morgagnische Taschen besitzen, treffen wir bei sämtlichen Säugetieren stimmbildende Apparate an, die dem beschriebenen des Menschen ganz ähnlich sind. Oftmals finden sich große resonatorische Nebenapparate vor, welche die S. zu verstärken und in ihrer Klangfarbe zu beeinflussen berufen sind. Je umfangreicher der Kehlkopf und die Stimmbänder, desto lauter ist die S. Die S. der meisten Tiere ist nicht sehr umfangreich; bei den meisten Wiederkäuern bewegt sie sich nur innerhalb ein bis zwei Tonstufen. Oftmals bringen Tiere Töne hervor, die in ihrer Höhe sehr weit auseinander liegen, ohne daß sie zur Erzeugung der zwischenliegenden Töne befähigt wären. Bei einigen Tieren dient nicht allein der Ausatmungs-, sondern auch der Einatmungsluftstrom der Stimmbildung; in diesen Fällen ist meistens der Kehlkopf mit besondern Apparaten ausgestattet, z. B. beim Esel. Bei der Erzeugung hoher Töne bedienen sich die Tiere oftmals der Fistelstimme, z. B. der Hund, wenn er sich nach etwas sehnt, oder wenn er Schmerzen empfindet. Die S. der Vögel, namentlich der Männchen, ist ungemein entwickelt. Obenan stehen hier die Singvögel und die Papageien. Mit Ausnahme einiger straußartiger Vögel und Geier haben sämtliche Vögel einen doppelten Kehlkopf. Der eine davon entspricht vollständig dem Kehlkopf der Säugetiere, hat aber mit der eigentlichen Stimmbildung gar nichts zu thun und besitzt keine knorpelige, sondern eine knöcherne Grundlage. Der andre liegt im Brustraum an der Vereinigungsstelle der Luftröhrenzweige und stellt den eigentlichen stimmbildenden Apparat dar. Derselbe ist entweder einfach oder doppelt vorhanden und liegt im erstern Fall entweder im Anfangsteil der Luftröhre oder an der Übergangsstelle in die Bronchien; im andern Fall befindet sich in jedem der beiden Bronchien ein Stimmapparat. Schon Cuvier und Johannes Müller konnten experimentell nachweisen, daß die S. der Vögel in dem untern Kehlkopf gebildet wird; letzterm gelang es auch, durch Anblasen des ausgeschnittenen untern Kehlkopfes der S. ähnliche Töne zu erzeugen. Die Stimmbildung beruht bei den Vögeln im wesentlichen auf demselben Prinzip wie beiden Säugetieren, da wir es auch hier mit membranösen Zungenpfeifen zu thun haben. Die S. der Amphibien ist nur von untergeordnetem Interesse. Die Krokodile haben eine durchdringende und schreiende S., die allerdings in der Gefangenschaft kaum beobachtet wird. Bei den Lurchen, besonders bei den ungeschwänzten, findet man neben den stimmbildenden Apparaten vielfach noch resonatorische Einrichtungen, die wesentlich zur Verstärkung der S. dienen (z. B. die Luftsäcke der Kehle bei den Fröschen). Sind auch die meisten Fische stumm, so wußte doch schon Aristoteles, daß manche Fische brummende, singende Töne zu erzeugen im stande sind. Allerdings kann man hier von einer S. nur dann sprechen, wenn man unter letzterer die Fähigkeit eines Tiers versteht, Töne als Mittel zur gegenseitigen Verständigung zu benutzen. Auch nur im letztern Sinn können wir von einer S. der Insekten sprechen; hierbei kommen die durch den Flügelschlag erzeugten Töne kaum in Rechnung. über die Einrichtung der Stimmapparate s. Insekten, S. 978.
Stimmer, Tobias, Maler und Zeichner für den Holzschnitt, geb. 1539 zu Schaffhausen, war dort, in Straßburg und Frankfurt a. M. als Fassaden- und Porträtmaler thätig und hat besonders eine große Anzahl von Zeichnungen für den Holzschnitt (biblische Darstellungen, Allegorien, Embleme, Genrebilder etc.) gefertigt, welche von dem Buchdrucker S. Feierabend in Frankfurt a. M. herausgegeben wurden. Er starb 1582 in Straßburg. S. schloß sich an H. Holbein den jüngern an, verfiel aber zuletzt in leere Manier. Von seinen Fassadenmalereien hat sich die des Hauses zum Ritter in Schaffhausen erhalten. Bildnisse von ihm befinden sich im Museum zu Basel.
Stimmfehler (Vitia vocis), organische oder funktionelle Affektionen des Kehlkopfes und des oberhalb desselben gelegenen Teils des Respirationsorgans, bei welchen entweder die Erzeugung der tongebenden Schwingungen der Stimmbänder mehr oder weniger aufgehoben, oder die willkürliche Modifizierung derselben unmöglich gemacht worden, oder die Klangfarbe der im Kehlkopf erzeugten Töne eine abnorme geworden ist. Die wichtigsten S. sind Heiserkeit und Aphonie. Häufig, namentlich beim Stimmwechsel und männlichen Geschlecht, ist auch das Überschnappen der Stimme (Hyperphonie), wobei die Töne der Stimme leicht aus dem Brustregister in das Falsettregister umschlagen.
Stimmführung nennt man den musikalischen Satz in Bezug auf die Behandlung der einzelnen denselben hervorbringenden Stimmen. Das Wichtigste der Lehre von der S. läßt sich in wenige Worte zusammenfassen. Die Seele der S. ist die Sekundfortschreitung. Der Satz erscheint um so glatter, vollkommener, je mehr die Akkordfolgen durch Sekundschritte der einzelnen Stimmen bewerkstelligt werden. Selbst harmonisch sehr schwer verständliche Folgen geben sich mit einer gewissen Ungezwungenheit, wenn alle oder die meisten Stimmen Sekundschritte machen, seien diese Ganztonschritte, Leitton- oder chromatische Halbtonschritte (s. Beispiel). Ein vorzügliches Bindemittel einander folgender Akkorde ist ferner das Liegenbleiben gemeinsamer Töne. Eine Ausnahme macht die Führung der Baßstimme, welche gern von Grundton zu Grundton der Harmonien fortschreitet und wesentlich der Förderung des harmonischen Verständnisses dient; auch von Hauptton zu Terzton und von Terzton zu Terzton oder Hauptton geht der Baß gern, dagegen ist der Sprung der Baßstimme zum Quintton mit Vorsicht zu behandeln (s. Quartsextakkord und Konsonanz). Überhaupt aber ist die Sekundbewegung zwar erstrebenswert, jedoch keineswegs immer erreichbar, und gerade die Stimme, welche zumeist frei und zuerst erfunden wird, die eigentliche Melodiestimme (in der neuern Musik gewöhnlich die Oberstimme), unterbricht die Sekundbewegung gern durch größere, sogen. harmonische Schritte. Da solche Schritte, wie bereits bemerkt, den Effekt der Mehrstimmigkeit durch Brechung machen, so sind sie
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Stimmgabel - Stimmung.
eine Bereicherung des Satzes; es blüht sozusagen eine zweite Stimme aus der einen heraus (im Orchester- und Klaviersatz geschieht das oft genug wirklich). Von solchem Gesichtspunkt aus erscheint das Abweichen von der Sekundbewegung auch für die Mittelstimmen oft als ein Vorzug, indem dieselben sich dadurch selbständiger herausheben. Gewisse Stimmschritte, die harmonisch schwer verständlich und darum schwer rein zu treffen sind, vermeidet der Vokalsatz gern (der "strenge" Stil vermeidet sie ganz), nämlich die übermäßigen Schritte (Tritonus, übermäßiger Sekundschritt etc.) und den verminderten Terzschritt (cis-es). Die in allen Lehrbüchern der Harmonie zu findenden Regeln, daß der Leitton einen kleinen Sekundschritt nach oben mache und die Septime nach unten fortschreiten müsse, sind nur bedingungsweise richtig. Wo der Leitton in Dominantenakkord auftritt und dieser schließend sich zur Tonika fortbewegt, wird natürlich der Leittonschritt gemacht werden, weil überhaupt Halbtonfortschreitungen überall zu machen sind, wo sich Gelegenheit bietet und dadurch nicht gegen eine andre Satzregel verstoßen wird; deshalb wird auch die Septime in den Fällen gern nach unten fortschreiten, wo sie einen fallenden Leittonschritt ausführen kann, z. B. wo sich der Dominantseptimenakkord in die Durtonika auflöst (s. das Beispiel). In diesem Fall ist sowohl der steigende Leittonschritt h'-c'' als der fallende f'-e' obligatorisch und wird nur in Ausnahmefällen von einem von beiden abzusehen sein. Dagegen ist kein Grund abzusehen, warum in Akkorden wie h:d:f:a oder c:e:g:h die Septime sich abwärts bewegen sollte, wenn nicht Gefahr der Quintenparallelen od. dgl. dazu zwingt. Es wird immer darauf ankommen, was für eine Harmonie folgt; enthält dieselbe die Oktave des Grundtons, so wird die Septime häufig steigen. Die Regel der abwärts zu führenden Septime wie des aufwärts zu führenden Leittons ist also nichts andres als ein praktischer Fingerzeig, weil bei den gewöhnlichsten Akkordfolgen sich diese S. als eine bequeme ergibt. Dagegen sind von höchster Bedeutung für die S. die negativen Gesetze: das Quintenverbot und Oktavenverbot (s. Parallelen), da falsche Parallelen dem Grundprinzip des mehrstimmigen Satzes, eine Vereinigung mehrerer sich selbständig und wohl unterscheidbar bewegender Stimmen zu sein, widersprechen.
Stimmgabel, ein nach Gerber im 18. Jahrh. von dem englischen Musiker John Shore erfundenes, aus Stahl gabelartig zweizinkig gearbeitetes, unten mit einem Stiel von gleicher Masse versehenes Instrument, das, wenn seine beiden Zinken durch Anschlagen in Vibration gesetzt werden, einen sanften, einfachen Ton von bestimmter Tonhöhe gibt. Die S. ist in den meisten Fällen auf das eingestrichene a (Kammerton) gestimmt und dient zur Bewahrung einer absolut gleichen Tonhöhe. S. Schall, S. 392.
Stimmrecht, allgemeines, s. Allgemeines S.
Stimmritze, s. Kehlkopf.
Stimmritzenkrampf (Laryngospasmus infantilis, Asthma laryngeum, Laryngismus stridulus), krampfhafte Zusammenziehung derjenigen Muskeln, welche die Stimmritze verschließen, beruht auf einem krampfhaften Erregungszustand der Nerven, welche jene Muskeln innervieren. In manchen Fällen scheint die Anlage zum S. angeboren zu sein, da in einzelnen Familien fast alle Kinder daran erkranken. Der S. tritt in Anfällen auf, zwischen welchen freie Pausen liegen. Der Anfall ist charakterisiert durch eine plötzliche gewaltsame Unterbrechung des Atmens, welche mehrere Minuten lang andauern kann, wenn die Stimmritze nicht gänzlich verschlossen, sondern nur stark verengert ist. Das Atmen ist dabei mit einem pfeifenden langgezogenen Geräusch verbunden. Das Kind ist voll der höchsten Angst und Unruhe, wird blau im Gesicht und macht angestrengte Bewegungen, um zu atmen. Husten, Heiserkeit und Fieber fehlen dabei. Ist der Krampf vorüber, und hat das Kind seine Angst vergessen, so ist wieder vollständiges Wohlbefinden da. Manchmal sind krampfhafte Bewegungen der Finger und Zehen, der Arme und Beine mit den Anfällen von S. verbunden oder wechseln mit ihnen ab. Die Anfälle treten in verschiedenen Zeiträumen auf; oft wiederholen sie sich erst nach acht und mehr Tagen, in schlimmen Fällen folgen sie schneller aufeinander. Immer bleibt große Neigung zu Rückfällen zurück, welche man selbst dann noch zu fürchten hat, wenn das Kind monatelang frei geblieben ist. In seltenen Fällen trat der S. nur in Einem Anfall auf und kehrte nie wieder. Der Krankheitsanfall geht meist binnen wenigen Sekunden oder Minuten vorüber, endet aber auch manchmal mit dem plötzlichen Tode der Kinder durch Erstickung. Sobald sich ein Anfall einstellt, soll man das Kind aufrichten, ihm Wasser in das Gesicht spritzen, kühle Luft zufächeln, den Rücken reiben und ein Klystier von Kamillen-oder Baldrianthee setzen. Auch ist es gut, einen Senfteig vorrätig zu halten, um denselben, sobald der Anfall eintritt, in die Magengrube zu legen. In der freien Zwischenzeit muß man alle Unregelmäßigkeiten in der Verdauung beseitigen, den Stuhlgang regulieren und für eine möglichst zweckmäßige Ernährung des Kindes sorgen.
Stimmung, in der Musik s. v. w. Feststellung der Tonhöhe und zwar 1) Feststellung der absoluten Tonhöhe, d.h. der Schwingungszahl eines Tons, nachdem die übrigen gestimmt werden. In ältern Zeiten hatte man verschiedene Stimmungen für verschiedene Instrumente: die einen waren in den Chorton (s. d.), die andern in den Kammerton (s. d.) gestimmt; in der neuern Zeit bediente man sich allgemein des Kammertons (vgl. A). Indessen war nicht nur die Tonhöhe des letztern an verschiedenen Orten eine verschiedene, so daß man von einer Pariser, Wiener, Berliner, Petersburger S. etc. spricht, sondern es hat sich außerdem in den letzten anderthalb Jahrhunderten ein stetiges Hinauftreiben der S. herausgestellt. Zu Lullys Zeiten (1633-87) war dieselbe fast anderthalb Töne tiefer als jetzt; seit Händel und Gluck ist sie um einen ganzen Ton gestiegen, seit Mozart um einen halben. Nach der Pariser S. von 1788 zeigte das eingestrichene a 409 (Doppel-) Schwingungen in der Sekunde, nach der ältern Mozart-Stimmung etwas über 421, nach der Pariser S. von 1835: 449, nach der Wiener und Berliner S. von etwa 1850: 442. Um diesem fortdauernden Schwanken des Kammertons Einhalt zu thun und die Einführung einer allgemein gültigen S. anzubahnen, nahm man in Deutschland in Übereinstimmung mit der Deutschen Naturforschergesellschaft (1834) Scheiblers Bestimmung als für den Kammerton maßgebend an, nach welcher dem eingestrichenen a in der Sekunde 440 Schwingungen zukommen, während man 1858 zu Paris auf Anlaß Napoleons III. durch eine Kommission von Sachverständigen einen neuen Kammerton (diapason normal) feststellte, welcher zunächst für Frankreich die normale Tonhöhe auf 870 einfache (= 435 Doppel-) Schwingungen bestimmte. Dieselbe kam bald auch auf mehreren deutschen Bühnen (z. B. der Wiener, Dresdener und Ber-
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Stimmungsbild - Stinktier.
liner) zur Geltung und wurde auf der 16.-19. Nov. 1885 in Wien tagenden internationalen Konferenz zur Feststellung eines einheitlichen Stimmtons endlich einstimmig angenommen. - 2) Theoretische Bestimmung der relativen Tonhöhen, der Verhältnisse (Intervalle) der Töne untereinander, welche wieder auf zweierlei Weise möglich ist: a) abstrakt theoretisch als mathematisch-physikalische Tonbestimmung (s. d.), und b) für die Praxis berechnet, welche statt der zahllosen theoretisch definierten Tonwerte nur wenige substituieren muß, wenn sie einen sichern Anhalt für die Intonation gewinnen will, als Temperatur (s. d.). - 3) Die praktische Ausführung der Temperatur, welche jetzt für Orgel wie Klavier allgemein die gleichschwebende zwölfstufige ist. Exakt durchführbar ist dieselbe nicht, doch erreicht die Routine befriedigende Resultate. Was mit der Undurchführbarkeit der gleichschwebenden Temperatur versöhnen kann, ist der Umstand, daß diese selbst keine exakten Werte vorstellt, sondern nur Näherungswerte, Mittelwerte, und daß eine etwanige Abweichung ein Intervall schlechter, dafür aber ein andres besser macht. Das einzige Intervall, das absolut rein gestimmt werden muß, ist die Oktave; die Quinte muß ein wenig tiefer sein, und zwar beträgt die Differenz in der eingestrichenen Oktave etwa eine Schwingung, d.h. wenn man jede Quinte so viel tiefer stimmt, daß sie gegen die reine Quinte eine Schwebung in der Sekunde macht, und jede Quarte um ebensoviel höher, so wird man ungefähr genau auskommen. Von Schriften, welche die S. der Klavierinstrumente behandeln, seien besonders die von Werkmeister (1691 und 1715), Sinn (1717), Sorge (1744, 1748, 1754, 1758), Kirnberger (1760), Marpurg (1776 und 1790), Schröter (1747 und 1782), Wiese (1791, 1792, 1793), Türk (1806), Abt Vogler (1807) und Scheibler (1834, 1835 und 1838) erwähnt. Die Mehrzahl der ältern Stimmmethoden sind gemischte, ungleich schwebend temperierte, d.h. sie bewahren einer Anzahl Intervallen ihre akustische Reinheit, während andre dafür desto schlechter ausfallen. - Im geistigen Sinn bezeichnet S. einen bestimmten Gemütszustand, den in aller Reinheit zum Ausdruck zu bringen eine der Hauptaufgaben der Musik wie jeder andern Kunst ist.
Stimmungsbild, s. Landschaftsmalerei.
Stimmwechsel, s. Mutation.
Stimulieren (lat.), anreizen; Stimulantia, Reizmittel (s. Erregende Mittel); Stimulation, Reizung, Anregung.
Stinde, Julius, Schriftsteller, geb. 28. Aug. 1841 zu Kirch-Nüchel in Holstein, studierte Chemie und Naturwissenschaften, war, nachdem er 1863 promoviert, in Hamburg mehrere Jahre als Fabrikchemiker thätig, übernahm aber schließlich die Redaktion des "Hamburger Gewerbeblatts" und widmete sich ganz der Schriftstellerei, insbesondere dem naturwissenschaftlichen Feuilleton. Außer zahlreichen Aufsätzen in Fachzeitschriften veröffentlichte er: "Blicke durch das Mikroskop" (Hamb. 1869); "Alltagsmärchen", Novelletten (2. Aufl., das. 1873, 2 Bde.); "Naturwissenschaftliche Plaudereien" (das. 1873); "Die Opfer der Wissenschaft" (unter dem Pseudonym Alfred de Valmy, 2. Aufl., Leipz. 1879); "Aus der Werkstatt der Natur" (das. 1880, 3 Bde.) u. a. Für die Bühne schrieb S. eine Anzahl mit großem Erfolg aufgeführter plattdeutscher Komödien, wie: "Hamburger Leiden", "Tante Lotte", "Die Familie Karstens", "Eine Hamburger Köchin", "Die Blumenhändlerin" u. a.; ferner das Lustspiel "Das letzte Kapitel", die beiden Weihnachtsmärchen: "Prinzeß Tausendschön" und "Prinz Unart" sowie gemeinschaftlich mit G. Engels das Volksstück "Ihre Familie". Seit 1876 in Berlin lebend, schrieb er noch: "Waldnovellen" (Berl. 1881, 2. Aufl. 1885); "Das Dekamerone der Verkannten" (das. 1881, 2. Aufl. 1886); "Berliner Kunstkritik und Randglossen" (das. 1883) und seine ergötzlichen Bücher über die Familie Buchholz: "Buchholzens in Italien" (Berl. 1883), "Die Familie Buchholz" (das. 1884), "Der Familie Buchholz zweiter Teil" (das. 1885), "Der Familie Buchholz dritter Teil: Frau Wilhelmine" (das. 1886), welche seinen Namen am bekanntesten machten und in zahlreichen Auflagen erschienen; endlich "Frau Buchholz im Orient" (das. 1888); "Die Perlenschnur und andres" (das. 1887).
Stinkasant, s. Asa foetida.
Stinkasantpflaster, s. Pflaster.
Stinkbaum, s. Sterculia.
Stinkholz von Guayana, s. Gustavia.
Stinkkalk, s. Kalkspat.
Stinkkohle, s. Braunkohle, S. 356.
Stinkmalve, s. Sterculia.
Stinkmarin, s. Skink.
Stinknase (griech. Ozäna), eine krankhafte Affektion der Nasenhöhle mit äußerst widerwärtigem, manchmal direkt fauligem Geruch der ausströmenden Luft. Derselbe rührt in vielen Fällen von einer fauligen Zersetzung des zurückgehaltenen Schleimhautsekrets her, besonders bei engen und verbogenen Nasenkanälen und Krankheiten der Nebenhöhlen der Nase. In andern Fällen ist ein wirklich jauchiger Ausfluß vorhanden, herstammend von wirklichen Nasengeschwüren und am häufigsten durch syphilitische oder skrofulöse Verschwärung der Schleimhaut und der Nasenknochen bedingt. Die Behandlung kann nur auf Grund sorgfältiger ärztlicher Untersuchung erfolgen und hat das Grundübel sowie das Symptom selbst zu bekämpfen. Letzteres geschieht durch Ausspülen der Nase mit schwachem Salzwasser, Lösungen von Alaun, Tannin, übermangansaurem Kali etc. mit Hilfe der Nasendouche, deren ungeschickter Gebrauch aber böse Entzündungen des Mittelohrs veranlassen kann.
Stinkspat (Stinkstein), s. Kalkspat.
Stinktier (Mephitis Cuv.), Raubtiergattung aus der Familie der Marder (Mustelida), dem Dachs ähnlich, nur schlanker gebaute Tiere mit kleinem, zugespitztem Kopf, aufgetriebener, kahler Nase, kleinen Augen, kurzen, abgerundeten Ohren, kurzen Beinen, mäßig großen Pfoten, fünf fast ganz miteinander verwachsenen Zehen, ziemlich langen, schwach gekrümmten Nägeln, mindestens auf den Ballen nackten Sohlen und langem, dicht behaartem Schwanz. Sie besitzen zwei haselnußgroße Stinkdrüsen, welche sich innen in den Mastdarm öffnen und eine gelbe, ölähnliche Flüssigkeit von furchtbarem Gestank absondern, die das Tier zur Verteidigung mehrere Meter weit fortspritzen kann. Die Stinktiere leben in Amerika und Afrika, besonders in steppenartigen Gegenden, liegen am Tag in hohlen Bäumen, Felsspalten oder selbstgegrabenen Erdhöhlen und jagen nachts auf kleine Wirbeltiere und niedere Tiere, fressen aber auch Beeren und Wurzeln. Die Chinga (M. varians Gray), 40 cm lang, mit fast ebenso langem Schwanz, ist schwarz, mit zwei weißen Streifen auf dem Rücken und Schwanz, und bewohnt Nordamerika, besonders die Hudsonbailänder. Sie lebt in Gehölzen längs der Flußufer und in Felsengegenden, ist in ihren Bewegungen langsam und unbeholfen, verteidigt sich lediglich durch Ausspritzen des stinkenden Sekrets, gerät aber leicht in Zorn und greift dann auch an.
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Stint - Stirling-Maxwell
In der Gefangenschaft wird sie sehr zahm und entleert ihre Drüse nur, wenn sie stark gereizt wird. Man benutzt das Fell als Pelzwerk (s. Skunks), den Drüseninhalt als nervenstärkendes Mittel.
Stint (Osmerus Cuv.), Gattung aus der Ordnung der Edelfische und der Familie der Lachse (Salmonoidei), gestreckt gebaute Fische mit starker, von der der Lachse bedeutend abweichender Bezahnung und mittelgroßen Schuppen. Der gemeine S. (Alander, O. eperlanus Lac.), 13-20 und 30 cm lang, auf dem Rücken grau, an den Seiten silberfarben, bläulich oder grünlich schimmernd, am Bauch rötlich, lebt in der Nord- und Ostsee, auch in Haffen und größern Süßwasserseen Norddeutschlands, bildet stets größere Gesellschaften, hält sich im Winter in der Tiefe verborgen, geht im Frühjahr weit in die Flüsse hinauf (bis Anhalt, Sachsen, Minden) und legt seine kleinen, gelben Eier aus sandigen Stellen ab. Die Jungen gehen im August ins Meer. Das Auftreten des Stints ist sehr schwankend: während er in manchen Jahren in unschätzbarer Menge erscheint, findet er sich in andern Jahren nur spärlich, ohne daß sich hierfür bestimmte Gründe angeben ließen. Man fängt den S. während des Aufsteigens in großen Massen; er riecht zwar unangenehm, schmeckt aber trefflich. Vorteilhaft wird er auch als Nahrung für wertvollere Fische in Teiche gesetzt. Bisweilen benutzt man ihn als Dünger.
Stintzing, Johann August Roderich von, namhafter Romanist und Literarhistoriker, geb. 8. Febr. 1825 zu Altona, studierte in Jena, Heidelberg, Berlin und Kiel die Rechte, bestand 1848, nachdem er sich an der Erhebung der Herzogtümer gegen Dänemark beteiligt, das Amtsexamen und ließ sich als Advokat in Plön nieder, siedelte 1851 nach Heidelberg über, wo er sich 1852 mit der Schrift "Das Wesen von bona fides und titulus in der römischen Usukapionslehre" (Heidelb. 1852) als Privatdozent in der juristischen Fakultät habilitierte. 1854 ging er als ordentlicher Prosessor der Rechte nach Basel, 1857 nach Erlangen, wo ihm der persönliche Adel verliehen ward, 1870 mit dem Charakter eines Geheimen Justizrats nach Bonn. Er starb 13. Sept. 1883 durch einen Sturz von einem Berghang in Oberstdorf bei Sonthofen (Bayern). Seine bedeutendsten Werke sind litterargeschichtlichen Inhalts, wie: "Ulrich Zasius" (Basel 1857); "Geschichte der populären Litteratur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland" (Leipz. 1867); "Hugo Donellus in Altdorf" (Erlang. 1869); "Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft" (Münch. u. Leipz. 1880-84, 2 Abtlgn.). Auch gab er J. de Wals "Beiträge zur Litteraturgeschichte des Zivilprozesses" (Erlang. 1866) heraus. Außerdem erwähnen wir: "Über das Verhältnis der Legis actio sacramento zu dem Verfahren durch Sponsio praejudicialis" (Heidelb. 1853); "Friedrich Karl v. Savigny" (Berl. 1862); "Macht und Recht" (Bonn 1876); "Georg Tanners Briefe an Bonifacius und Basilius Amerbach" (das. 1879).
Stinzomarin, s. Skink.
Stipa L. (Pfriemengras), Gattung aus der Familie der Gramineen, weitverbreitete, zierliche, ausdauernde Gräser mit einblütigen, großen Grasährchen, grannenartig gespitzten Hüllspelzen und lang begrannten, zusammengerollten Deckspelzen. S. pennata L. (Federgras, Marienflachs, Reihergras), 30-90 cm hoch, mit steifem, hartem Halm, borstenartigen Blättern, sparsam verästelter Rispe und 30 cm langen, geknieten, federigen Grannen, wächst auf dürrem Boden, wird zu Winterbouketts benutzt; ebenso S. capillata L. (Federhaargras), mit sehr langen, geknieten, kahlen Grannen. S. tenacissima L. (Macrochloa tenacissima Kunth), mit 90 cm langen, cylindrischen, halmähnlichen Blättern, wächst in Spanien und Nordafrika und findet als Esparto (s. d.) ausgedehnte Verwendung.
Stipendium (lat.), Geldunterstützung, welche namentlich Studierende auf eine bestimmte Zeit erhalten. Die Stipendien werden entweder ganz im allgemeinen für Studierende oder für ein besonderes Fachstudium oder mit Berücksichtigung eines bestimmten Landes, Ortes, eines Standes (Adelsstipendien) oder auch der Familienherkunft (Familienstipendien) vergeben und zwar nach Maßgabe ausdrücklicher Verfügungen der Stifter, wo solche vorhanden sind. Vgl. Baumgart, Die Stipendien und Stiftungen an allen Universitäten des Deutschen Reichs (Berl. 1885). Die sogen. Reisestipendien werden jungen Gelehrten oder Künstlern nach Vollendung ihrer Studien zu weiterer Ausbildung auf Reisen verliehen.
Stipes (Mehrzahl: Stipites, lat.), Stiel, Stengel; Stipites Dulcamarae, Bittersüßstengel.
Stipula (lat.), Nebenblatt (s. Blatt, S. 1015).
Stipulation (lat.), vertragsmäßige Festsetzung zwischen zwei oder mehreren Personen, s. Vertrag.
Stirbey (Stirbei, Kalarasch), Hauptstadt des Kreises Jalomitza in der Walachei, an dem Donauarm Bortscha, nahe dem großen See von Kalarasch, Silistria gegenüber, Sitz des Präfekten und eines Tribunals, mit 3 Kirchen, einem Gymnasium und 7734 Einw. Hier hatten 1854 die Russen sich verschanzt und schlugen 4. März d. J. einen Angriff der Türken zurück.
Stirling, Hauptstadt der nach ihr benannten schott. Grafschaft, am schiffbaren Forth und am Abhang eines steilen Hügels (mit dem altberühmten S. Castle) gelegen, hat ein altertümliches Gepräge, eine Kirche aus dem 15. Jahrh., ein Militärhospital (in dem ehemaligen Palais der Grafen von Argyll), eine Kornbörse, ein Versorgungshaus, ein Athenäum, landwirtschaftliches Museum, Latein- und Kunstschule, Fabrikation von Wollwaren (Tartans), Gerberei, Malzdarren, Ölmühlen und (1881) 12,194 Einw. Südlich davon liegt das Dorf St. Ninian's, mit Nagelschmieden. - Als "Schlüssel der schottischen Hochlande" spielte das in unbekannter Zeit erstandene Schloß eine große Rolle. In der benachbarten Ebene schlug Wallace 1297 die Engländer, welchen Sieg ein Denkmal verherrlicht. 1304 bemächtigten sich die Engländer des Schlosses, mußten es aber nach der Schlacht von Bannockburn (1314) wieder räumen. An diesen Sieg der Schotten erinnert eine 1877 vor dem Schloß errichtete Statue von Robert Bruce. 1651 nahm der englische General Monk das Schloß, und 1745 wurde es von den Hochländern vergeblich belagert.
Stirling-Maxwell, Sir William, engl. Gelehrter, geb. 1818 zu Kenmure bei Glasgow, ward im Trinity College zu Cambridge gebildet, lebte längere Zeit in Frankreich und Spanien, ward 1866 durch den Tod seines Onkels John Maxwell Baronet, 1872 Rektor der Universität Edinburg, 1875 Kanzler der Universität Glasgow sowie Kommissar am Britischen Museum und an der National-Porträtgalerie. Er starb 15. Jan. 1878 in Venedig. S. schrieb: "The annals of the artists of Spain" (1848, 3 Bde.; 2. Aufl. 1853); "Cloister-life of Charles V." (1852; deutsch, Leipz. 1853) und "Velasquez and his works" (1855; deutsch, Berl. 1856).
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Stirlingshire - Stöber.
Stirlingshire, Grafschaft im südlichen Schottland, westlich am Forthbusen der Nordsee, umfaßt 1195 qkm (21,7 QM.) mit (1881) 112,443 Einw. und bildet im NW. ein kahles Gebirgsland (Ben Lomond 973 m), das ein Strich Moorlandes von den Campsie Fells (577 m) im Süden trennt, während der östliche Teil eine Ebene mit fruchtbarem Ackerland darstellt. Die bedeutendsten Flüsse sind: der Forth, Carron und Endrick. Die Grafschaft enthält großen Mineralreichtum, besonders an Steinkohlen und Eisen. Nur 24,9 Proz. der Oberfläche bestehen aus Ackerland, 14,8 Proz. aus Wiesen, 1,8 Proz. aus Wald. Die Viehzucht ist von Bedeutung (17,575 Schafe, 28,052 Rinder). Die Industrie beschäftigt sich mit Wollweberei, Kattundruckerei, Hüttenbetrieb und Eisengießerei. Der Südosten der Grafschaft wird von dem Forth-Clydekanal durchzogen, welcher die Nordsee mit dem Irischen Meer verbindet. - Geschichtlich merkwürdig ist S. als der Schauplatz heftiger Kämpfe der Römer mit den Kaledoniern, gegen welche jene den berühmten Pikten- oder Hadrianswall (s. d.) zwischen dem Forthbusen und dem Clydebusen errichteten.
Stirm, Karl Heinrich, protest. Theolog, geb. 22. Sept. 1799 zu Schorndorf, ward 1828 Landgeistlicher und 1835 Hofkaplan und Mitglied des Konsistoriums in Stuttgart. In dieser Eigenschaft entfaltete er eine einflußreiche Thätigkeit im Kirchen- und Schulwesen seines Vaterlandes und starb als Prälat und Oberkonsistorialrat 24. April 1873. Sein bekanntestes Werk ist die "Apologie des Christentums in Briefen für gebildete Leser" (2. Aufl., Stuttg. 1856).
Stirn (Frons), bei den Wirbeltieren diejenige Gegend des Kopfes, welche die Stirnbeine zur knöchernen Grundlage hat, beim Menschen also der vorderste unterste Teil des Vorderkopfes. Im gewöhnlichen Leben wird sie mit zum Gesicht gerechnet, das jedoch für den Anatomen erst unterhalb derselben anfängt. Beim Menschen ist sie haarlos und ragt weit hervor, während sie bei den übrigen Säugetieren gewöhnlich behaart ist und stark hinter dem Mundteil zurücktritt. Bei den Gliedertieren (Insekten, Krebsen etc.) wird der zwischen den Augen liegende Teil des Kopfes gleichfalls S. genannt.
Stirnbein, s. Schädel, S. 373.
Stirner, Max, s. Schmidt 4).
Stirngrübler, Schafbremse, s. Bremen, S. 384.
Stirnhöhlen, s. Schädel, S. 373.
Stirnmauer, s. Gewölbe, S. 311.
Stirnnaht, s. Schädel, S. 373.
Stirnrad, Zahnrad, dessen Zähne auf einer cylindrischen Fläche radial angebracht sind.
Stirnzapfen, am Ende einer Welle etc. befindliche Zapfen, bei welchen der Druck rechtwinkelig gegen ihre Achse wirkt. Vgl. Zapfen.
Stirnziegel, in der antiken Baukunst aufrecht stehende Ziegel in Form von Palmetten und Köpfen, welche an der Ecke eines Daches angebracht wurden. Vgl. Akroterien.
Stirps (lat.), Stamm.
Stirum, Ort, s. Styrum.
Stitny, Thomas von, Philosoph aus altem böhmischen Geschlecht, lebte im 14. Jahrh., wahrscheinlich von 1325 bis 1410, und hat sich als einer der ersten Zöglinge der von Kaiser Karl IV. 1348 gegründeten Universität zu Prag durch zahlreiche, meist auf seiner Burg Stitné bei Pilgram verfaßte philosophische Schriften, die zu den besten Prosawerken der böhmischen Litteratur gerechnet werden, bekannt gemacht. Die darin niedergelegte Weltanschauung stimmt mit der christlich-scholastischen, insbesondere des von ihm als Autorität verehrten Thomas von Aquino, dem Inhalt nach überein, unterscheidet sich von derselben jedoch sehr wesentlich der Form nach, welche vielmehr homiletisch als syllogistisch ist. Nähert er sich hierin den eifrigen Predigern seines Zeitalters, den Vorläufern des spätern Hussitentums, so entfernt er sich anderseits von deren fanatischem Vernunfthaß, indem er die Vernunft als höchste Autorität aufstellt. Sein Hauptwerk sind die bisher nur teilweise veröffentlichten "Gespräche" (hrsg. von Erben, Prag 1850; von Vrtátko, das. 1873). Vgl. Wenzig, Studien über Ritter Thomas von S. (Leipz. 1856).
Stoa (griech.), s. v. w. Portikus (s. Halle); auch gebraucht für die Lehre der Stoiker (s. d.), weil Zenon, der Stifter dieser Philosophie, seine Vorträge in der S. Poikile zu Athen zu halten pflegte.
Stobäos, Joannes, aus Stobi in Makedonien, um 500 n. Chr., ist Verfasser einer philosophischen Blumenlese aus mehr als 500 griechischen Dichtern und Prosaikern, der wir die Erhaltung zahlreicher Bruchstücke aus jetzt verlornen Schriften verdanken. Ursprünglich ein Ganzes bildend, ist die Sammlung im Lauf der Zeit in zwei besondere Werke von je zwei Büchern getrennt worden: "Eclogae physicae et ethicae" (hrsg. von Gaisford, Oxf. 1850, 2 Bde.; von Meineke, Leipz. 1860-64, 2 Bde., und Wachsmuth, Berl. 1884, 2 Bde.) und "Anthologion" oder "Florilegium" (hrsg. von Gaisford, Oxf. 1822-25, 4 Bde., und Meineke, Leipz. 1856-57, 4 Bde.).
Stobbe, Johann Ernst Otto, angesehener Germanist, geb. 28. Juni 1831 zu Königsberg i. Pr., widmete sich daselbst zuerst philologischen und historischen Studien, dann der Rechtswissenschaft und promovierte 1853 mit der Differtation "De lege Romana Utinensi" (Königsb. 1853), worauf er seine germanistischen Studien zu Leipzig im nahen Anschluß an Albrecht und in Göttingen fortsetzte. Nachdem er sich 1855 in Königsberg als Privatdozent für deutsches Recht habilitiert hatte, wurde er 1856 zum außerordentlichen und noch in demselben Jahr zum ordentlichen Professor ernannt. 1859 in gleicher Eigenschaft nach Breslau versetzt, folgte er 1872 einer Berufung nach Leipzig an v. Gerbers Stelle. 1880 wurde er zum Geheimen Hofrat ernannt. Er starb 19. Mai 1887. Seine hervorragendsten Schriften, sämtlich durch Klarheit und Gründlichkeit ausgezeichnet, sind: "Zur Geschichte des deutschen Vertragsrechts" (Leipz. 1855); "Geschichte der deutschen Rechtsquellen" (Braunschw. 1860-64, 2 Bde.); "Beiträge zur Geschichte des deutschen Rechts" (das. 1865); "Die Juden in Deutschland während des Mittelalters" (das. 1866) ; "Hermann Conring, der Begründer der deutschen Rechtsgeschichte" (Berl. 1870); "Handbuch des deutschen Privatrechts" (das. 1871-85, 5 Bde.; 2. Aufl., Bd. 1 u. 2, 1882-83). Aus seinem Nachlaß erschien noch "Zur Geschichte des ältern deutschen Konkursprozesses" (Berl. 1888). Seit 1857 beteiligte er sich an der Redaktion der "Zeitschrift für deutsches Recht", seit 1862 an der Herausgabe des "Jahrbuchs des gemeinen deutschen Rechts" von Bekker und Muther. Vgl. E. Friedberg, O. S. (Berl. 1887).
Stober, rechter Nebenfluß der Oder in Schlesien, entspringt in der Nähe von Rosenberg, mündet bei Stoberau; 98 km lang und flößbar.
Stöber, 1) Daniel Ehrenfried, elsäss. Dichter und Schriftsteller, geb. 9. März 1779 zu Straßburg, studierte hier und später in Erlangen Rechtswissenschaft und wurde 1806 zu Straßburg Lizentiat der Rechte. Hier gab er das "Alsatische Taschenbuch" (1806-1809) heraus, übersetzte französische Dramen
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Stobi - Stöcker.
und veröffentlichte nach Pfeffels Tode die "Blätter, dem Andenken K. G. Pfeffels gewidmet" (Straßb. 1810). Unter der Restauration gehörte S. zur liberalen Opposition; er übersetzte die Schriften des Generals Foy, gab politische Broschüren in Form von Dialogen ("Gradaus") heraus und veröffentlichte: "Gedichte" (Basel 1814; 3. Aufl., Stuttg. 1821) sowie das volkstümliche "Neujahrsbüchlein vom Vetter Daniel" (das. 1818) und eine Biographie Oberlins ("Vie de Frédéric Oberlin", Straßb. 1821), der er seine "Kurze Geschichte und Charakteristik der schönen Litteratur der Deutschen" (das. 1826) nachfolgen ließ. Sein letztes größeres Werk war die Übersetzung von Lamennais' "Paroles d'un croyant". S. starb 28. Dez. 1835. Seine "Sämtlichen Gedichte und kleinen prosaischen Schriften" erschienen in 4 Bänden (Straßb. 1835-36). Zu seinen besten poetischen Leistungen gehören seine in elsässischer Mundart geschriebenen Gedichte, die voller Witz und Humor sind.
2) August, Sohn des vorigen, geb. 8. Juli 1808 zu Straßburg, studierte 1826-32 Theologie, wirkte 1838-41 als Lehrer der deutschen Sprache und Litteratur am Kollegium zu Buchsweiler, 1841-71 als Professor am Kollegium zu Mülhausen und ward 1864 zugleich zum Oberstadtbibliothekar, 1874 zum Konservator des von ihm mitbegründeten historischen Museums ernannt. Er starb daselbst 19. März 1884. Gleich seinem Vater und Bruder trug er durch seine litterarische Thätigkeit viel zur Erhaltung des deutschen Wesens im Elsaß bei. Er veröffentlichte: "Alsabilder", vaterländische Sagen und Geschichten (mit seinem Bruder Adolf, Straßb. 1836); "Gedichte" (das. 1842; neue Aufl., Basel 1873); "Oberrheinisches Sagenbuch", Gedichte (Straßb. 1842); "Elsässisches Volksbüchlein", Kinder- und Volkslieder, Märchen etc. (das. 1842; 2. Aufl., Mülh. 1859); "Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim" (Basel 1842); "Geschichte der schönen Litteratur der Deutschen" (Straßb. 1843); "Die Sagen des Elsasses" (St. Gallen 1852, 2. Aufl. 1858); "Der Aktuar Salzmann, Goethes Freund" (Mülh. 1855); "Zur Geschichte des Volksaberglaubens im 16. Jahrhundert" (Basel 1856); "Chr. Fr. Pfeffel" (daf. 1859); "E Firobe (ein Feierabend) im e Sundgauer Wirtshaus" , Volksszene in zwei Abteilungen (Musik von Heyberger, Mülh. 1865, 2. Aufl. 1868); "Jörg Wickram, Volksschriftsteller und Stifter der Kolmarer Meistersängerschule" (das. 1866); "Aus alten Zeiten. Allerlei über Land und Leute im Elsaß" (2. Aufl., das. 1872); "Erzählungen, Märchen, Humoresken etc." (das. 1873); "Drei-Ähren", Gedichte (das. 1873, 2. Aufl. 1877); "J. S. Röderer und seine Freunde" (2. Aufl., Kolm. 1874). Auch gab er "Elsässische Neujahrsblätter" (mit Otte, Straßb. 1843-48, 6 Bde.), "Erwinia", belletristische Wochenschrift (daf. 1838-39), und "Alsatia", Jahrbuch für elsässische Geschichte etc. (Mülh. 1850-75, 10 Bde.), zu denen nach Stöbers Tod noch ein Band "Neue Alsatia" (das. 1885) erschien, heraus.
3) Adolf, Bruder des vorigen, geb. 7. Juli 1810, studierte 1826-31 in Straßburg Theologie, wurde 1839 Lehrer am Kollegium zu Mülhausen, 1840 Pfarrer daselbst und ist seit 1860 Präsident des reformierten Konsistoriums und Oberschulrat zu Mülhausen. Außer den mit dem vorigen herausgegebenen "Alsabildern" veröffentlichte er: "Gedichte" (Hannov. 1845); "Reisebilder aus der Schweiz" (St. Gallen 1850, neue Folge 1857); "Reformatorenbilder" (Basel 1857); "Einfache Fragen eines elsässischen Volksfreundes" (Mülh. 1872) und einiges Theologische.
Stobi (Stoboi), Stadt im alten Päonien (Makedonien), westlich vom Axios (Wardar), bei der Mündung des Erigon, nach der Diokletianischen Einteilung Hauptstadt der nordwestlichen Hälfte Makedoniens, wurde 479 von den Ostgoten zerstört, wird aber in den Kämpfen zwifchen Bulgaren und Byzantinern noch 1014 erwähnt. Ruinen bei Gradsko.
Stöchaden, s. v. w. Hyèrische Inseln, s. Hyères.
Stochasmus (griech.), veraltete Bezeichnung für Wahrscheinlichkeitsberechnung; Stochastik, Lehre von der Wahrscheinlichkeit.
Stöchiometrie (griech.), chemische Meßkunst, die Lehre von den Gewichts- und Raumverhältnissen, nach welchen sich ungleichartige Materien zu neuen gleichartigen Körpern chemisch verbinden, und die Anwendung derselben zu chemischen Berechnungen (vgl. Atom und Äquivalent). Die S. wurde von J. B. Richter gegen Ende des 18. Jahrh. begründet und seitdem vielfach, unter andern von Meineke, Bischof, Döbereiner, Gay-Lussac, Berzelius, Liebig, Dumas, Laurent, Gerhardt u. a. bearbeitet. Vgl. Rammelsberg, Lehrbuch der S. (Berl. 1842); Frickhinger, Katechismus der S. (5. Aufl., Nördling. 1873).
Stock (Caudex), bei den Pflanzen im allgemeinen der mit Blättern besetzte Stengel; dann der einfache, am Grund nur durch Nebenwurzeln befestigte, am obern Ende mit einer einzigen großen Gipfelknospe abschließende, holzige Stamm der Baumfarne, Cykadeen und baumartigen Monokotyledonen, besonders der Palmen und Drachenbäume. - Über S. in der Geologie s. Lagerung der Gesteine.
Stock (engl.), Stamm, Grundlage; übertragen: Grundkapital von Aktiengesellschaften, dessen einzelne Teile (Aktien) shares heißen. S.-exchange, "Aktienbörse", thatsächlich Effektenbörfe, da an derselben auch Obligationen (bonds), Staatspapiere (funds) und andre Wertpapiere gehandelt werden; S.-holder, Eigentümer von Stocks; S.-broker, Makler für Wertpapiere, S.-jobber. Spekulant in Wertpapieren (vgl. Jobber).
Stockach, Stadt im bad. Kreis Konstanz, an der Stockach und der Linie Radolfzell-Mengen der Badischen Staatsbahn, 494 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Bezirksamt, ein Amtsgericht, eine Bezirksforstei, Spinnerei, Weberei, Teigwarenfabrikation, 3 Kunstmühlen und (1885) 2065 meist kath. Einwohner. - S. war ehedem Hauptstadt der Landgrafschaft Nellenburg-Thengen, mit welcher es 1645 an Österreich, 1805 an Württemberg und 1810 an Baden überging. Hier siegte 25. März 1799 Erzherzog Karl über die Franzosen unter Jourdan (s. Liptingen).
Stockausschlag, s. Knospe.
Stockbörse, s. Stock.
Stockbücher, s. Grundbücher.
Stöckke und Stockwerke, s. Bergbau, S. 722, Erzlagerstätten und Lagerung der Gesteine.
Stößer, Adolf, preuß. Hofprediger, geb. 11. Dez. 1835 zu Halberstadt, studierte in Halle und Berlin Theologie und Philologie, wurde 1863 Pfarrer in Seggerde bei Halberstadt und 1866 in Hamersleben. 1871 ging er als Divisionspfarrer nach Metz und 1874 als Hof- und Domprediger nach Berlin. Das dreiste Auftreten der Sozialdemokratie und ihre offenkundigen revolutionären Bestrebungen veranlagen S., 1877 in öffentlichen Versammlungen gegen die Führer der Sozialdemokraten aufzutreten und durch Stiftung einer christlich-sozialen Partei die Arbeiter für christliche und patriotische Anschauungen wiederzugewinnen, zugleich aber ihre Forderungen des Schutzes gegen die Ausbeutung des Kapitals und
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Stockerau - Stockhausen.
einer bessern sozialen Lage zu unterstützen. Die neue Partei gewann aber nur an wenigen Orten zahlreichere Anhänger, da S. durch seinen fanatischen Eifer gegen alles, was liberal hieß, besonders in kirchlicher Beziehung die Opposition der öffentlichen Meinung gegen sich herausforderte. Auch ging er in seinen Agitationen gegen das Judentum oft weiter, als es sich mit seiner Stellung vertrug. 1879 wurde er von einem westfälischen Wahlkreis in das Abgeordnetenhaus und 1880 auch in den Reichstag gewählt, wo er sich der streng konservativen Partei anschloß. Da S. durch seine sozialpolitische Thätigkeit die auf der Mitwirkung der Mittel-(Kartell-)Parteien beruhende Politik der Regierung störte, so mußte er 1889 versprechen, ferner auf politische Agitationen zu verzichten. Er veröffentlichte mehrere Jahrgänge "Volkspredigten" und eine Sammlung seiner Reden und Aufsätze: "Christlich-sozial" (Berl. 1885).
Stockerau, Marktflecken in der niederösterreich. Bezirkshauptmannschaft Korneuburg, am Göllersbach und an der Österreichifchen Nordwestbahn, Sitz eines Bezirksgerichts, mit Pfarrkirche, Kavalleriekaserne, Realgymnasium, Fabriken für Ceresin, Kerzen u. Seifen, Farben, Posamentierwaren u. (1880) 5955 Einw.
Stockfagott, f. Rackett.
Stockfalke, s. Habicht.
Stockfäule, f. Rotfäule.
Stockfisch, f. Schellfisch.
Stockfleth, Niels Joachim Christian Vibe, Apostel der Lappländer, geb. 11. Jan. 1787 zu Christiania, stand erst in schleswigschen und norwegischen Militärdiensten, studierte dann Theologie in Christiania und ward 1825 Prediger zu Vadsöe in Ostfinnmarken, in der Nähe des Nordkaps. Hier sowie in Lebesby, ebenfalls in Ostfinnmarken, wohin er dann übersiedelte, war sein Streben auf Herstellung einer volkstümlichen lappländischen Litteratur gerichtet. Es erschienen von ihm in lappländischer Sprache eine Fibel, eine Übersetzung von Luthers "Kleinem Katechismus", eine lappländische Grammatik (1840) und ein Neues Testament (1850). Seit 1839 seines Predigerdienstes enthoben, um ungestörter seinen Studien obliegen zu können, veröffentlichte er noch : "Lappisk Sproglære" (Christ. 1850) ; "Norsklappisk Ordbog" (das. 1852); eine Untersuchung "Om de finske Sprogforholde in Finmarkens og Nordlandenes Amter" (das. 1851) und "Dagbog over mine Missionsreiser i Finmarken" (das. 1860). Er starb 26. April 1866 in dem Städtchen Sandefjord.
Stockgetriebe, s. Trilling.
Stöckhardt, 1) Julius Adolf, Chemiker, geb. 4. Jan. 1809 zu Röhrsdorf bei Meißen, erlernte die Pharmazie in Liebenwerda, studierte dann in Berlin, arbeitete nach einer Reise nach England und Frankreich bei Struve in Dresden, ward 1838 Lehrer der Naturwissenschaft daselbst, 1839 Lehrer der Chemie und Physik an der Gewerbeschule in Chemnitz und 1847 Professor der Agrikulturchemie an der Akademie zu Tharandt, wo er 1. Juni 1886 starb. Früherhin besonders der gewerblichen Chemie, namentlich in Bezug auf Farbenfabrikation, beflissen, wandte er sich seitdem vornehmlich der Agrikulturchemie zu und erwarb sich namhafte Verdienste um dieselbe, besonders auch durch seine zahlreichen Vorträge in Vereinen und Versammlungen. Er schuf das Institut der agrikulturchemischen Versuchsstationen, welche sich in der Folge zu landwirtschaftlichen Stationen erweiterten und für den Fortschritt der Landwirtschaft höchst bedeutend wurden. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule der Chemie" (Braunschw. 1846, 19. Aufl. 1881); "Chemische Feldpredigten für deutsche Landwirte" (4. Aufl., Leipz. 1857); "Guanobüchlein" (4. Aufl., das. 1856). Seit 1840 gab er mit Schober die "Zeitschrift für deutsche Landwirtschaft" heraus und seit 1855 als Fortsetzung der "Chemischen Feldpredigten" den "Chemischen Ackersmann" (Lpz.).
2) Ernst Theodor, Landwirt, geb. 4. Jan. 1816 zu Bautzen, widmete sich der Landwirtschaft und errichtete auf dem von ihm gepachteten Rittergut Brösa bei Bautzen eine landwirtschaftliche Lehranstalt, welche bald bedeutenden Ruf erlangte. 1850 ward er Professor der landwirtschaftlichen Disziplinen an der höhern Gewerbeschule zu Chemnitz und wirkte hier sehr wesentlich für die Hebung der Landwirtschaft. 1861 folgte er einem Ruf nach Jena als Professor der Landwirtschaft und Direktor einer landwirtschaftlichen Lehranstalt. 1862 übernahm er auch die Direktion der Ackerbauschule zu Zwätzen, und gleichzeitig war er als Vorsitzender der landwirtschaftlichen Zentralstelle, der Thüringer Wanderversammlung etc. thätig. 1872 ward er als Ministerialrat nach Weimar berufen und gleichzeitig zum Kommissar der landwirtschaftlichen Zentralstelle, der Gewerbekammer für das Großherzogtum und zum Immediat-Finanzkommissar der Universität Jena ernannt. Dem deutschen Landwirtschaftsrat gehört er seit dessen Gründung an. Er schrieb: "Bemerkungen über das landwirtschaftliche Unterrichtswesen" (Chemn. 1851); "Die Drainage" (Leipz. 1852); "Der angehende Pachter" (mit A. Stöckhardt, 2. Aufl., Braunschw. 1869); "Die Entwickelung der landwirtschaftlichen Lehranstalt zu Jena 1861-67". Auch redigierte er 1855-66 die "Zeitschrift für deutsche Landwirte" und 1863-1872 die "Landwirtschaftliche Zeitung für Thüringen".
Stockhausen, Julius, Konzertsänger (Bariton), geb. 22. Juli 1826 zu Paris als Sohn des Harfenspielers Franz S. aus Köln, wurde am Pariser Konservatorium gebildet und zeichnete sich schon während seiner Lehrzeit so vorteilhaft aus, daß ihm von Habeneck die Leitung der Proben zu den musikalisch-dramatischen Übungen der Schüler übertragen wurde. Seine höhere Ausbildung als Sänger erhielt er von Manuel Garcia in London, woselbst er auch 1848 am Italienischen Theater mit Glück debütierte. Später wirkte er mit gutem Erfolg als Bühnensänger in Mannheim und an der Opéra Comique in Paris. Seine Haupttriumphe feierte S. aber als Konzertsänger, namentlich steht er als Liedersänger einzig in seiner Art da. 1862 übernahm er die Direktion der Hamburger philharmonischen Konzerte, nachdem er das Jahr zuvor in Gebweiler im Elsaß seine Kräfte als Chor- und Orchesterdirigent erprobt hatte. Sieben Jahre später folgte er einem Ruf nach Stuttgart, wo er zum Kammersänger und Gesangsinspektor ernannt war, gab jedoch diese Stelle im folgenden Jahr wieder auf, um längere Konzertreisen zu unternehmen. Von 1874 bis 1878 wirkte er in Berlin als Direktor des Sternschen Gesangvereins und entwickelte zugleich eine ungemein fruchtbare Lehrthätigkeit. Dann nahm er ein Engagement als erster Gesanglehrer am Hochschen Konservatorium in Frankfurt a. M. an, legte indessen 1880 dies Amt nieder und gründete daselbst eine eigne Schule. S. verdankt seine außerordentlichen Erfolge als Sänger nicht so sehr seinen natürlichen Stimmmitteln als vielmehr dem vollendeten Kunstgeschmack, mit welchem er seine lyrischen Gebilde zu beleben weiß, wobei die tadellose Reinheit seiner Textesausspache wesentlich mitwirkte. Seine "Gesangsmethode" erschien in der Edition Peters (Leipz. 1885).
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Stockholm (Län) - Stockholm (Stadt).
Stockholm, schwed. Län, begreift den östlichen Teil von Upland und den nordöstlichen Teil von Södermanland, grenzt im W. an das Län Upsala, im SW. an Södermanland, ist zu fast 4/5 des Umfanges von der Ostsee und dem Mälar umgeben und hat (mit der Stadt S.) ein Areal von 7643,7 qkm (138,6 QM.). Die Küstenlandschaften sind bergig und bewaldet, während weiter im Innern offene Ebenen mit Seen und Wäldern und größere oder kleinere Bodenerhebungen abwechseln. Die Bevölkerung zählt ohne die Stadt S. (1888) 152,160 Seelen. Von der uralten Kultur Uplands zeugen unter anderm zahlreiche Runensteine. Der Boden ist im ganzen fruchtbar, doch nimmt das Ackerland nur 14,5 Proz. der Bodenfläche ein, während auf natürliche Wiesen 9 und auf Wald 51 Proz. entfallen. Angebaut werden vornehmlich Hafer (1886: 744,000 hl geerntet), Roggen (353,000 hl), Mengkorn, Gerste und Weizen. 1884 zählte man 21,397 Pferde, 84,389 Stück Rindvieh, 39,823 Schafe, 16,441 Schweine. Von großer Bedeutung sind Fischerei, Schiffahrt und Handel.
Stockholm (hierzu der Stadtplan, mit Karte der Umgebung von S.), Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Schweden, liegt am Ausfluß des Mälar in die Ostsee (Salzsee genannt), welche einen insel- und schärenreichen Busen bildet, und ist durch Eisenbahnen mit Malmö, Gotenburg, Christiania und Drontheim verbunden. Die einzelnen Teile der Stadt sind: Staden, die eigentliche Stadt, in der Mitte des Ganzen auf einer Insel gelegen, mit den dazu gehörigen kleinern Inseln Riddarholm und Helgeandsholm; Södermalm ("Südvorstadt") im Süden, groß und regelmäßig gebaut, aber sehr uneben, durch zwei Zugbrücken mit der eigentlichen Stadt verbunden; Norrmalm ("Nordvorstadt") im N., durch die aus Granitquadern erbaute neunbogige Nordbrücke und seit 1878 durch die westlich davon belegene Wasabrücke mit der Stadt und durch eine 1861 vollendete eiserne Brücke mit dem Skeppsholm ("Schiffsinsel") verbunden, von wo eine hölzerne Brücke nach dem Kastellholm führt, welche beide Inseln die Marineetablissements enthalten; Kungsholm ("Königsinsel") im W. von Norrmalm; Ladugårdslandet ("Meiereiland") im NO. von Norrmalm, jetzt Östermalm genannt, die Kasernen enthaltend. Hierzu kommt noch die mit dem vorigen Stadtteil zusammenhängende Tiergartenstadt mit Beckholm. Außerdem liegen bei Södermalm im Mälar die beiden Inseln Langholmen, mit Straf- und Besserungsanstalt, und Reimersholmen. Die Stadt enthält 40 öffentliche Plätze und ca. 300 Straßen und Gassen. Die Eisenbahn, welche über den Mälar mittels einer großen Brücke geführt ist, durchschneidet einen großen Teil der Stadt. Die eigentliche Stadt ist an der Salzsee und am Mälar mit einem Kai von Granit umgeben, welcher sich auch jenseit der Nordbrücke am Norrmalm noch eine gute Strecke fortsetzt und den Hafen begrenzt. An der Salzsee zieht sich eine breite Straße, die Schiffbrücke, hin, an der Westseite mit ansehnlichen Häusern besetzt (darunter die Bank und das Pack- oder Zollhaus). Am Fuß des mit einem hohen Obelisken von Granit gezierten Schloßbergs steht die Statue Gustavs III. (von Sergel) sowie zwischen dem Mälarsee und der Salzsee die Reiterstatue von Karl XIV. Johann (von Fogelberg). Plätze am Mälar sind: der Ritterhausplatz (mit der Statue Gustav Wasas), von wo man über eine Brücke auf den Riddarholm gelangt, welcher außer der als Königsgruft benutzten Riddarholmskirche (mit 90 m hohem Turm, zum Teil Gußeisen, seit 1839) mit fast lauter öffentlichen Gebäuden (Haus des Reichstags, Hofgericht etc.) besetzt und mit der Statue des Birger Jarl, des Gründers der Stadt, geziert ist. Für den täglichen Verkehr bestimmt sind die Plätze: Mönchsbrücke, Fleischmarkt und Kornhafen. Unter den Plätzen der innern Stadt ist nur der Große Markt bemerkenswert wegen des Stockholmer Blutbades vom 8. Nov. 1520, mit dem schönen Börsengebäude. Auf Norrmalm sind der Gustav Adolfsplatz, mit der Reiterstatue des Helden und dem königlichen Theater, sodann der Brunkebergsplatz, der Heumarkt und der Platz Karls XIII. an der Salzsee (mit der Statue des Königs), endlich auf Blasiiholm der Berzeliusplatz, mit der Statue des berühmten Chemikers (von Quarnström), zu bemerken. Die schönsten Straßen hat Norrmalm, darunter die Regierungs-(Regeringsgata) u. Königinstraße (Drottninggata). Unter den Kirchen ist keine von besonderer architektonischer Bedeutung. Die Hauptkirche St. Nikolai (aus dem 13. Jahrh., 1736-43 umgebaut) wird als Krönungskirche benutzt. Unter den weltlichen Gebäuden nimmt das königliche Schloß, am nördlichen Ende der eigentlichen Stadt, den ersten Rang ein. Es wurde 1697-1753 nach Nik. Tessins Plänen im edelsten neuitalienischen Stil aufgeführt und bildet ein großes Viereck mit vier niedrigern Flügeln an den Ecken und zwei halbrunden, frei stehenden Flügelgebäuden an der Westseite. Sonst sind von Gebäuden noch zu nennen: der Palast des Oberstatthalters; in Norrmalm der Palast des Erbprinzen (gegenwärtig unbewohnt), die Akademie der Wissenschaften, das Observatorium, das Nationalmuseum (1850-65 nach Stülers Zeichnungen aufgeführt), der große Zentralbahnhof, das Gebäude der Reichsbibliothek (ca. 250,000 Bände) u. a.; auf Kungsholm die Krankenhäuser und außerhalb der Stadt die Kriegshochschule Marieberg u. a. Die Stadt besitzt seit 1861 eine treffliche Wasserleitung. Promenaden sind: das Stromparterre, der Humlegarten, besonders aber der Tiergarten im O. der Stadt, mit Villen, Wirtshäusern, Theater, dem königlichen Lustschloß Rosendal etc. Die Bevölkerung der Stadt betrug Ende 1887: 227,964 Seelen, meist Lutheraner (1880 nur 577 Römisch-Katholische und 1259 Juden). Die Industrie ist lebhaft. Die meisten Gewerbe werden fabrikmäßig betrieben; außerdem gibt es mehrere Zuckerraffinerien, Tabaks-, Seiden- und Bandfabriken, mechanische Werkstätten (darunter 3 große), Stearin- und Talgfabriken, Lein- und Baumwollzeugwebereien, Lederfabriken, Eisengießereien etc. 1883 besaß die Stadt 292 Fabriken, deren Fabrikate einen Wert von 33 1/2 Mill. Kronen hatten. Der Handel, durch die Lage der Stadt und gute Häfen sehr begünstigt, ist zwar noch sehr lebhaft; doch beginnen andre Städte des Landes, namentlich Gotenburg, mit S. erfolgreich zu rivalisieren. Drei Wasserwege führen durch die Schären zur Stadt: im N. bei Furusund, im O. bei Sandhamn und im Süden bei Landsort an Dalarö vorbei. Da aber diese Wege lang und schwierig sind und der Hafen jährlich 3-5 Monate lang durch Eis gesperrt ist, so ist die Anlage eines äußern Hafens bei dem Gut Nynäs, etwa 50 km von der Stadt, projektiert, welcher durch Eisenbahn mit S. in Verbindung gesetzt werden soll. Die Stockholmer Schiffsdocks sind neuerdings sehr erweitert worden. Die Stadt be-
Wappen von Stockholm.
UMGEBUNG VON STOCKHOLM. 1 : 15OOOO.
339b
STOCKHOLM
Adolf Fredriks-Kyrka BC1
Arfprinsens-Pal. C3
Baptist-K. C2
Bibliotheket D4
Blasiholmen D3
Bernharden B3
Börsen CD4
Djurgarden F3,4
Dramat. Teater
Drottninggatan D3
Gustav-Adolfs-Torg C3
Helgeandsholm C3
Hötorget C2
Hundegarden D1
Jakobs-K. C3
Johiannis-K. C1
Kanzli C3,4
Karl Johanns-K. E4
Karl XIII Torg CD2,3
Kastellholmen E4
Katharina-K. D5
Konigl. Slottet D3,4
Konigl. Stora Teater C3
Konst. Akademi C3
Kungsholms Kyrka A3
Lodugardslands-K. D2
Lif Gardets-Kas. E2
Mosebacke D5
Musik Akademi B3
National-Museum D3
Nia. Teater D3
Nikolai-K. CD4
Nord. Museum B2
Norrbro C3
Norska Statsmin. Höt. D3
Posthuset C3
Radhuset C4
Regeringsgatan C1-3
Riddarholmen C4
Riddarholms-K. C4
Riddarhuset C4
Riksbanken D4
Serafaner Laz. B3
Skeppsbron D3,4
Skeppsholmen E4
Slöjdskolan C2
Slussen D5
Stortorget CD4
Strömparterren CD3
Sven Lif-Gardets-Kas. F2
Synagoge D2,3
Trädgardsgatan CD2,3
Tyska Kyrka D4
Vetenskaps-Akad. BC4
Wasabro C3
Westerlängatan CD4
Wasagatan BC2,3
Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl. Bibliographisches Institut in Leipzig. Zum Artikel »Stockholm«.
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Stockhorn - Stockport.
saß 1883 eine Handelsflotte von 277 Schiffen, davon 192 Dampfschiffe von 21,184 Ton. Die innere Kommunikation der Stadt wird durch viele kleine Dampfschiffe sowie Omnibusse und Pferdebahnen besorgt. Als Beförderungsmittel des Handels sind zu nennen: die Reichsbank, die Stockholmer Privatbank, die Börse, die Seeassekuranz etc. Die Einfuhr besteht vornehmlich in Getreide (Roggen, Weizen), Mehl, Wein, Reis, Heringen, Ölen und Ölkuchen, Kupfer, Zink, Baumwolle, Korkrinde, die Ausfuhr in Eisen und Stahl, Hafer, Teer, Thran, Asphalt. Im ausländischen Verkehr kamen 1886: 1769 Schiffe von 598,889 Ton. an, 1790 Schiffe von 605,572 Ton. gingen ab. Von Wohlthätigkeitsanstalten sind das große und das Freimaurerwaisenhaus, die Murbeksche Erziehungsanstalt, ein großes Entbindungshaus (auf Kungsholm), ein Taubstummen- und Blindeninstitut, das Irrenhaus auf Konradsberg zu bemerken. Von wissenschaftlichen Anstalten hat die Stadt eine Akademie der Wissenschaften mit Sternwarte und das naturhistorische Relchsmuseum sowie Akademien der Geschichte und Altertumskunde, der freien Künste, der Musik, der Kriegswissenschaften, des Landbaues (mit Versuchsstation). S. besitzt zahlreiche öffentliche Lehranstalten, darunter zwei für Ausbildung von Lehrerinnen, und gelehrte Schulen. Fachschulen sind außer der genannten Kriegshochschule: eine Artillerie- und eine Seekriegsschule, das Karolinische medizinisch-chirurgische Institut, das gymnastische Zentralinstitut, eine technische Hochschule, eine Gewerbeschule, Navigationsschule, Veterinärschule, ein pharmazeutisches und ein Forstinstitut. Eine Universität ist in der Bildung begriffen. Von Kunstinstituten verdienen Erwähnung das Nationalmuseum, welches Sammlungen ägyptischer und vorhistorischer Altertümer, von Skulpturen, Gemälden und Kupferstichen enthält, und das für die Völkerkunde des skandinavischen Nordens wichtige Nordische Museum. Von den fünf Theatern sind am bedeutendsten das Opernhaus, das Neue Theater und das Dramatische Theater. S. ist Sitz der sämtlichen höchsten Reichskollegien u. Regierungsdepartements sowie zahlreicher auswärtiger Gesandtschaften und Konsuln (darunter auch ein deutscher Berufskonsul). Die Ausgaben der Stadt beliefen sich 1884 auf 16,6 Mill. Kronen, das Vermögen auf 43,2 Mill. Kr., die Schulden auf 41,3 Mill. Kr. In der Umgebung Stockholms liegen das Lustschloß Haga mit Park, Ulriksdal und auf der Mälarinsel Lofö Drottningholm, das schönste der königlichen Lustschlösser, mit herrlichen Parkanlagen. Die Stadt S. ist wahrscheinlich aus einem Fischerdorf entstanden, das auf einer der zahlreichen Inseln lag. Als 1187 die Esthen in Schweden einfielen, erbaute der König Knut Erikson, um die Räuber abzuhalten, an der Stelle, wo jetzt S. liegt, ein Schloß, um welches sich nach und nach ein Flecken bildete, den König Birger 1255 zur Stadt erhob. 1389 wurde S. von der Königin Margarete von Dänemark belagert und auf Befehl des gefangenen Königs Albrecht (von Mecklenburg) übergeben. In der Nähe erfochten 14. Okt. 1471 die Schweden unter Sten Sture jenen glänzenden Sieg über die Dänen, welcher der dänischen Herrschaft über Schweden ein Ende machte. 1497 ward hier von den Schweden ein abermaliger Sieg über die Dänen erfochten. Christian II. belagerte die Stadt 1518 vergebens, nahm sie aber 1520 nach einer neuen Belagerung durch Vertrag ein, worauf im November das berüchtigte Stockholmer Blutbad erfolgte, bei welchem Christian, um seinen Thron zu befestigen, mehrere hundert schwedische Edelleute und Bürger hinrichten ließ. Vgl. Ferlin, Stockholmstad (Stockh. 1854-58, 2 Bde.); Wattenbach, S., ein Blick auf Schwedens Hauptstadt (Berl. 1872); Lundin und Strindberg, Gamla S. ("Das alte S.", Stockh. 1882); Heurlin, Illustrated guide to S. (das. 1888).
Stockhorn, s. Freiburger Alpen.
Stockkrankheit (Knoten, Kropf, Wurmkrankheit), eine durch Älchen (Anguillula) veranlaßte Krankheit des Roggens, bei welcher die jungen Pflanzen nach Ausgang des Winters dicht bei einander stehende, schmale und kurze Blätter entwickeln, meist keinen langen Halm treiben und zuletzt unter Gelbwerden absterben. Die Parasiten leben in den Stengelgliedern des jungen Halms und im Grunde der Blattscheiden. Nach Kühn erzeugt dieselbe Älchenart auch die Kernfäule der Kardenköpfe (Kardenkrankheit), bei welcher dieselben im Innern sich bräunen und die Fruchtknoten sich zu verkümmerten Körnern entwickeln.
Stocklack, s. Lack.
Stockloden, aus dem Stock eines abgehauenen Baumstamms sich entwickelnde Schößlinge.
Stockmalve, Stockrose, s. Althaea.
Stolkmar, Christian Friedrich, Freiherr von, deutscher Staatsmann, geb. 22. Aug. 1787 zu Koburg aus einer mit Gustav Adolf nach Deutschland gekommenen schwedischen Familie, studierte 1805-10 Medizin, ließ sich darauf in Koburg als Arzt nieder, diente 1814 und 1815 als Militärarzt in den Lazaretten am Rhein, ward 1816 Leibarzt des Prinzen Leopold von Koburg, als dieser sich mit der präsumtiven Thronerbin von England vermählte, und blieb von da an der einsichtigste, einflußreichste und uneigennützigste Ratgeber und Vertraute desselben. 1821 ward er in den Adel- und 1831 in den bayrischen Freiherrenstand erhoben. Bei den Verhandlungen über die Erhebung Leopolds auf den griechischen und dann auf den belgischen Thron stand S. dem Prinzen aufs treueste zur Seite, er war sein Agent bei den Londoner Konferenzen, und während er ihm von der Annahme der griechischen Krone abriet, beförderte er seine Wahl zum König von Belgien und unterstützte ihn durch weise Ratschläge. Nachdem er 1834 aus seiner Stellung bei Leopold ausgeschieden, stand er 1837 der Königin Viktoria bei ihrer Thronbesteigung mit seinem Rat bei, begleitete 1838-39 den Prinzen Albert von Koburg nach Italien und blieb nach dessen Vermählung mit der Königin Vertrauter und Hausfreund des Königspaars. Er nahm, teils in England, teils in Koburg lebend, an allen wichtigen Verhandlungen beratenden Anteil, war 1848 koburgischer Gesandter beim Bundestag, wo er für die Einigung Deutschlands unter Preußens Führung zu wirken suchte, und starb 9. Juli 1863 in Koburg. Vgl. die von seinem Sohn Ernst von S. (geb. 7. Aug. 1823, gest. 6. Mai 1886) herausgegebenen "Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Chr. F. v. S." (Braunschw. 1872); Juste, Le baron S. (Brüssel 1873).
Stockmorchel, s. Helvella.
Stockport, Fabrikstadt in Cheshire (England), 8 km südöstlich von Manchester, am Mersey, über den fünf Brücken und ein großartiger Eisenbahnviadukt führen, alt, aber erst in neuerer Zeit infolge der Baum-wollindustrie zu einer volkreichen Stadt herangewachsen. Sie ist auf unebenem Terrain unregelmäßig gebaut, hat eine große eiserne Markthalle, ein Theater, eine Freibibliothek u. großartige Baumwollindustrie,
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Stockrose - Stoffwechsel.
ferner Fabriken von Hüten, Maschinen, Bürsten, Eisen- und Messingwaren und (1881) 59,553 Einw.
Stockrose, s. Althaea.
Stockschnupfen, s. Schnupfen.
Stockschwamm, s. Agaricus V.
Stockflößer, s. Sperber.
Stockteilung, Vermehrungsmethode bei Stauden und kleinen Sträuchern mit vielen Trieben, besteht im Zerschneiden des Wurzelstocks in so viele Teile, als sich Triebe oder Knospen daran befinden.
Stockton, Stadt im nordamerikan. Staat Kalifornien, am schiffbaren San Joaquin, inmitten eines der ergiebigsten Weizengebiete, mit 2 Irrenanstalten, bedeutendem Handel und (1880) 10,282 Einw.
Stockton on Tees (spr. tihs), Stadt in der engl. Grafschaft Durham, am Tees, 6 km oberhalb Middlesbrough , mit South S. (Yorkshire) durch eine Brücke verbunden. Beide zusammen haben (1881) 41,015 Einw. S. hat Segeltuchfabriken , Seilerbahnen, Schiffswerfte, Hochöfen, Gießereien, Glashütten etc. Zum Hafen gehörten 1887: 26 Seeschiffe von 10,323 Ton.; Wert der Einfuhr vom Ausland 192,923 Pfd. Sterl., der Ausfuhr 27,641 Pfd. Sterl. S. ist Sitz eines deutschen Konsulats. Nördlich davon Wynyard, Sitz des Grafen Clarendon.
Stockwerk, in der Baukunst s. Geschoß.
Stockwerksbau, s. Bergbau, S. 725.
Stockwerksporphyr, s. Greisen.
Stoddard, Richard Henry, amerikan. Dichter und Schriststeller, geb. 2. Juli 1825 zu Hingham (Massachusetts), kam mit zehn Jahren nach New York, wo er bei einem Erzgießer in die Lehre gegeben wurde, begann aber früh sich als Mitarbeiter an Zeitschriften litterarisch zu bethätigen. Von 1853 an bekleidete er eine Stelle beim Steueramt zu New York, bis er zu Anfang der 70er Jahre Stadtbibliothekar von New York wurde. Als Dichter hat S. mit besonderm Erfolg das Gebiet kleiner, sangbarer Lieder angebaut, die nicht selten an den Ton deutscher Volkslieder erinnern. Wir nennen von seinen zahlreichen Veröffentlichungen, die außer poetischen Sachen hauptsächlich populär-historische Werke umfassen: "Footprints", Gedichte (1849); "Poems "(1850); "Adventures in fairy-land", Kindermärchen (1853); "Songs of summer" (1857); "Town and country" (1857); "Life, travels and books of Alexander von Humboldt" (1859); "Loves and heroines of the poets", geistvoll geordnete Sammlung englischer Liebesgedichte (1860); "The king's bell" (1863); "The story of little Red Riding Hood" (1864); "Under green leaves" (1865); "The children in the wood" (1866); "Putnam, the brave" (1869); "The book of the East, and other poems" (1871); schließlich das wichtige "Memoir of Edgar Allan Poe" (1875), die "Anecdote biography of Percy B. Shelley" (1876) und "H. W. Longfellow" (1882). Seine gesammelten "Poetical works" erschienen 1880.
Stoff, s. Materie.
Stoffdruckerei, s. Zeugdruckerei.
Stoffe, s. Gewebe.
Stoffel, Eugène Georges Henri Céleste, Baron von, franz. Offizier, geb. 1. März 1823 zu Arbon im Thurgau, erhielt seine Bildung auf der polytechnischen Schule zu Paris, trat in die Artillerie und zog 1856 durch ein "Militärisches Wörterbuch" die Aufmerksamkeit des Kaisers Napoleon III. auf sich, der ihn zu verschiedenen Missionen verwendete und ihn 1866 als Oberstleutnant und Militärattaché bei der kaiserlichen Botschaft nach Berlin schickte. Von hier erstattete er 1866 bis Juli 1870 eingehende, sehr sachkundige Berichte über das deutsche Heerwesen nach Paris, welche den Kaiser vom Kriege gegen Deutschland hätten abhalten müssen, wenn sie gebührend gewürdigt worden wären. Sie wurden nach dem 4. Sept. 1870, zum Teil noch versiegelt, in den Tuilerien aufgefunden und 1871 veröffentlicht ("Rapport militaire écrit de Berlin", Par. 1871; deutsch, Berl. 1872). Im Krieg 1870/71 war S. zuerst in der Operationskanzlei des Kaisers, entkam nach der Kapitulation von Sedan, befehligte beim Ausfall von Paris 30. Nov. bis 2. Dez. 1870, dann auf dem Mont Avron mit Auszeichnung die Artillerie, ward aber, weil er Thiers' Armeereorganisation opponierte und eifriger Bonapartist war, nicht befördert und nahm 1872 seinen Abschied, ja er wurde wegen Beleidigung des Berichterstatters im Prozeß Bazaine, des Generals Rivière, 1873 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er setzte die Geschichte Cäsars von Napoleon III. fort ("Histoire de Jules César: guerre civile", Par. 1887, 2 Bde.).
Stoffmühle, s. v. w. Holländer, s. Papier, S. 674.
Stoffwechsel, die Gesamtheit der chemischen Vorgänge im Organismus, auf welchen die Lebenserscheinungen beruhen, und durch welche der Organismus als solcher erhalten wird. Der Organismus lebt, indem er fortwährend Stoffe aufnimmt, diese umwandelt, assimiliert und in integrierende Teile seines Körpers verwandelt, während andre, ältere Teile des Körpers aus dem Verband, in welchem sie bis dahin standen, ausscheiden, umgewandelt und aus dem Körper entfernt werden. Unterscheidet sich das Reich der Organismen von der unbelebten Natur wesentlich durch den S., so sind wieder Pflanzen und Tiere durch die besondere Art des Stoffwechsels voneinander verschieden, aber so, daß sie durch diese Verschiedenheit innig zusammenhängen. Die Pflanzen nehmen aus Luft und Boden anorganische Verbindungen (Kohlensäure, Wasser und Ammoniak oder Salpetersäure und gewisse Salze) auf und bilden unter dem Einfluß des Lichts und unter Abscheidung von Sauerstoff organische Verbindungen von zum Teil sehr komplizierter Zusammensetzung. Über die hierbei verlaufenden Prozesse wissen wir sehr wenig. Aus Kohlensäure und Wasser entstehen Kohlehydrate, Fette und andre Verbindungen, durch Einwirkung von Ammoniak auf einige derselben wahrscheinlich die weitverbreiteten Amidosubstanzen und aus diesen eiweißartige Körper. Die Pflanzen atmen aber auch: sie nehmen Sauerstoff auf, und unter dessen Einfluß wird ein Teil der gebildeten organischen Substanz oxydiert. Immerhin tritt dieser Prozeß gegen den der Ernährung, der Bildung organischer Substanz, stark zurück, und so präsentiert sich der S. der Pflanze wesentlich unter dem Bild eines Reduktionsprozesses, bei welchem lebendige Kraft (die Wärme der Sonnenstrahlen) in Spannkraft umgesetzt wird. Im Gegensatz zu den Pflanzen nehmen die Tiere als Nahrungsmittel wesentlich organische Stoffe auf, direkt oder indirekt die wichtigsten Pflanzenbestandteile; sie sind nicht im stande, wie die Pflanzen, aus unorganischen Stoffen synthetisch organische zu bilden, vielmehr bedürfen sie der letztern, die nach verhältnismäßig geringer Wandlung zu Bestandteilen des tierischen Organismus werden und dann einer rückschreitenden Metamorphose unterliegen, unter Mitwirkung des eingeatmeten Sauerstoffs oxydiert und in Form sehr einfacher chemischer Verbindungen ausgeschieden werden. Der tierische S. ist mithin im wesentlichen ein Oxydationsprozeß, als dessen Endglieder Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, die Nah-
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Stoffwechsel - Stoffwechselgleichungen.
rungsstoffe der Pflanzen, auftreten. Die von den Pflanzen aufgespeicherte Spannkraft gibt das Tier hauptsächlich in Form von Wärme und Arbeit wieder aus. Die zum Teil sehr verwickelten Vorgänge des tierischen Stoffwechsels sind noch wenig bekannt. Die Nahrungsstoffe: Eiweißkörper, Fette, Kohlehydrate, Salze, werden durch die Verdauungssäfte mehr oder weniger verändert, die Produkte werden dem Blut und durch dieses den Geweben zugeführt, um letztere zu ernähren. Gleichzeitig findet eine Abnutzung der Gewebe statt, die Abnutzungsprodukte gelangen in das Blut, unterliegen hier einer weitern Umbildung und werden schließlich ausgeschieden: die stickstoffhaltigen Substanzen wesentlich in der Form von Harnstoff (der leicht in Kohlensäure und Wasser zerfällt) durch die Nieren, die schwefelhaltigen durch die Leber, die letzten Oxydationsprodukte, Kohlensäure und Wasser, durch Lunge und Haut. Die Energie, mit welcher der S. verläuft, ist sehr verschieden. Der Säugling verbraucht an Nahrungsmitteln täglich 1/7 seines Körpergewichts, später 1/5, der Erwachsene 1/20. Während des Schlafs ist der S. wesentlich vermindert, bei Bewegung und Arbeit beträchtlich erhöht, aber auch im hungernden Tier steht der S. nicht still, der hungernde Organismus lebt von sich selbst, bis die Möglichkeit, dies zu thun, erschöpft ist. Da das Körpergewicht des erwachsenen und gesunden tierischen Körpers konstant bleibt, so müssen die durchschnittlichen täglichen Zufuhren genau die durchschnittlichen Ausgaben decken, es muß ein Zustand des Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben vorhanden sein, und in der That haben genaue Versuche ergeben, daß bei Berechnung des Gehalts der Nahrung und der Ausscheidungsstoffe an Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Salzen im wesentlichen dieselben Zahlen erhalten werden. Ein gut beköstigter gesunder Mensch verliert in 24 Stunden bei mäßig bewegter Lebensweise durch die Atmung etwa 32, die Hautausdünstung 17, den Harn 46,5, den Kot 4,5 Proz. der gesamten Exkretionsmasse, und zwar scheidet die Atmung aus: Wasser 330, Kohlensäure 1230, die Hautausdünstung Wasser 660, Kohlensäure 9,8, der Harn Wasser 1700, Harnstoff 40, Salze 26 g, der Kot Wasser 128, andre, meist organische Substanzen 53 g. Die Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben des Körpers bezieht sich auf den Durchschnittsmenschen, der weder ungewöhnlichen äußern Einflüssen ausgesetzt ist, noch von einzelnen Funktionen, namentlich der Muskelthätigkeit, einen einseitigen Gebrauch oder Nichtgebrauch macht. Derselbe vollbringt ein bestimmtes Mittelmaß der Leistungen, d. h. von innern Bewegungen, von nach außen übertragener mechanischer Arbeit und von Wärmeeinheiten. Für die beiden letztern Verausgabungen verlangt er ein bestimmtes Äquivalent an Zufuhren. Dafür ist er im stande, diese Leistungen Tag für Tag in derselben Größe zu wiederholen, ohne daß sein Körpergewicht oder die proportionale Menge der Einzelbestandteile seines Körpers wesentliche Veränderungen erleidet. Dieses Durchschnittsverhältnis kann aber bedeutend abgeändert werden, und zwar entweder durch Veränderung der Zufuhren, dann ändern sich natürlich auch die Leistungen, ja unter Umständen sogar der Körper selbst; oder durch Veränderung der Leistungen, welche nun wiederum eine entsprechende Modifikation der Zufuhren erheischt. Wenn die Zufuhren steigen, so sind zwei Erfolge möglich. Entweder nehmen die Verausgabungen in äquivalenter Weise zu, der Körper leistet jetzt mehr (an mechanischer Arbeit und Wärmebildung), aber er verändert sein Gewicht nicht; oder die Verausgabungen steigen nicht oder doch nicht in gleichem Grad mit der Zufuhr, dann vermehrt sich das Körpergewicht, es wird mehr Stoff angesetzt. Werden die Zufuhren mäßig gemindert, so zehrt der Körper, insoweit das Bedürfnis nicht von außen her gedeckt wird, aus eigne Kosten, er verliert allmählich an Gewicht. Mit Abnahme der Körpermasse sinken auch die Umsetzung gen, überhaupt die Leistungen; es muß aber ein Punkt kommen, wo die geminderten Zufuhren hinreichen, die nunmehrigen Verausgabungen zu decken. Auf diesem neuen Beharrungszustand bleibt der mager gewordene Körper stehen, und zwar, wenn die Zufuhren nur eine mäßige Herabsetzung erfahren haben, im Zustand relativer Gesundheit. Werden endlich die Zufuhren bedeutend geschmälert oder gänzlich aufgehoben, so magert der Körper ab, um so schneller, je beträchtlicher die Nahrungsentziehung; er wird immer leistungsunfähiger und geht endlich dem Hungertod entgegen. Der Gesamtstoffwechsel bewegt sich auch im normalen Zustand innerhalb einer bedeutenden Breite, das Körpergewicht wechselt nicht unbeträchtlich. Damit gehen aber auch Schwankungen der Funktionen Hand in Hand; doch gibt es genügende Ausgleichungsmittel, welche das Bestehen des Organismus sichern und ihn den jedesmaligen Verhältnissen anpassen. Eins der wichtigsten Ausgleichungsmittel besteht darin, daß der schlecht genährte Körper wenig, der reich beköstigte viel verausgabt. Auch die Individualität ist von dem verschiedensten und mannigfachsten Einfluß auf den S. Der Einfluß des Körperzustandes auf die Intensität und Richtung des Stoffwechsels tritt besonders hervor in gewissen Krankheiten, wo der S. manchmal ganz sein gewohntes Geleise verlassen hat, z. B. in der Zuckerharnruhr. Besonders interessante Beispiele hierfür bieten die heftigern Fiebergrade. Beim Unterleibstyphus z. B. kann die tägliche Harnstoffmenge auf fast das Doppelte steigen, obschon der Kranke sich nicht bewegt und die stickstoffhaltige Zufuhr so gut wie vollständig abgeschnitten ist, er sich also unter Bedingungen befindet, unter welchen der normale Körper nur sehr wenig Harnstoff bilden würde. So verschieden auch der S. sich gestalten mag infolge äußerer Verhältnisse oder im Individuum selbst liegender Ursachen, so handelt es sich doch dabei im wesentlichen immer um dieselben Vorgänge und zwar sogar unter der abweichendsten Bedingungen der Ernährung. Das hungernde Tier so gut wie das wohlgenährte scheidet Harnstoff, Kohlensäure und Wasser aus. Das Tier mag ausschließlich von Fleischnahrung oder von Pflanzenkost leben, der Organismus mag gesund oder schwer erkrankt sein, er mag gemästet oder gehörig genährt, unzureichend beköstigt oder im Verhungern begriffen sein: er lebt zunächst immer nur auf Kosten seiner eignen Bestandteile. Der S. wird somit zunächst ausschließlich bestimmt durch den jedesmaligen Zustand der Gewebe, Organe und Säfte des Körpers, und die uns noch unbekannten vitalen Energien der Gewebe und Organe geben bei der Bestimmung des Stoffumsatzes, der Anbildung wie der Rückbildung, sowohl in Bezug auf Qualität als Quantität den Hauptausschlag. Vgl. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens (5. Aufl., Mainz 1876-86, 2 Bde.); Voit, Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung (Leipz. 1881); Wilckens, Briefe über den tierischen S. (Bresl. 1879); Seegen, Studien über S. (Berl. 1887).
Stoffwechselgleichungen, s. Respirationsapparat.
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Stohmann - Stokes.
Stohmann, Friedrich Karl Adolf, Agrikulturchemiker und Technolog, geb. 25. April 1832 zu Bremen, studierte in Göttingen und London, war 1853-1855 Assistent von Graham und arbeitete in der Folge in mehreren chemischen Fabriken. 1857 wurde er Assistent von Henneberg erst in Celle, dann in Weende bei Göttingen, und hier beteiligte er sich an den klassischen Untersuchungen Hennebergs über die Ernährung der Haustiere. 1862 begründete er die landwirtschaftliche Versuchsstation in Braunschweig, 1865 folgte er einem Ruf nach München, ging aber noch in demselben Jahr nach Halle und übernahm 1871 die Leitung des landwirtschaftlich-physiologischen Instituts in Leipzig. Er schrieb: "Handbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage von Payen, Précis de chimie technique, mit Engler, Stuttg. 1870-1874, 2 Bde.); "Biologische Studien" (Braunschw. 1873); "Handbuch der Zuckerfabrikation" (2. Aufl., Berl. 1885); "Die Stärkefabrikation" (das. 1878); "Encyklopädisches Handbuch der technischen Chemie" (auf Grundlage von Muspratts "Chemie", 4. Aufl. mit Kerl, Braunschw. 1886 ff.).
Stöhrer, Emil, Mechaniker, geb. 25. Sept. 1813 zu Delitzsch, lernte bei Wießner in Leipzig und gründete 1846 daselbst ein eignes Geschäft, welches er 1863 seinem Sohn Emil (geb. 2. März 1840) Übergab. Er gründete darauf in Dresden ein zweites Geschäft, speziell für elektro-therapeutische Apparate, übergab dasselbe 1880 ebenfalls seinem Sohn, mußte aber nach dessen Tod, 26. Dez. 1882, beide Geschäfte wieder übernehmen. Er konstruierte weitverbreitete Batterien und Induktionsapparate und 1846 den ersten mit Wechselströmen eines Magnetinduktors betriebenen Zeigertelegraphen, auch einen elektrochemischen und elektromagnetischen Doppelschreiber.
Stoiker, griech. Philosophenschule, welche sich gleichzeitig mit dem Epikureismus entwickelte und ihren Namen von dem Säulengang (stoa) hat, wo der Gründer derselben, Zenon aus Kittion auf Kypros, in Athen zu lehren pflegte (340-260 v. Chr.). Zenons Lehrbegriff ward zum Teil im Kampf mit der jüngern Akademie durch seine nächsten Schüler und Anhänger, Kleanthes aus Assos in Troas, Chrysippos aus Soli in Kilikien (280-210), bestimmter ausgebildet, während andre, wie Ariston aus Chios und Heryllos aus Karthago, sich ihm vorzugsweise nur in der Strenge der sittlichen Denkart angeschlossen zu haben scheinen. Ein allgemeines Merkmal der Lehre der S. liegt in dem Bemühen, die Philosophie in einer einfachen und gemeinverständlichen Form und mit vorherrschender Rücksicht auf das praktische Leben zu entwickeln, daher die eigentliche Bedeutung derselben in ihrer Ethik zu suchen ist, welcher sie zwar die Physik beiordnen, weil diese die allgemeinsten Grundbestimmungen für jene darbiete, die Logik aber unterordnen, so daß diese ihnen mehr für ein Werkzeug als für einen Teil der Philosophie gilt. In der Logik ward die Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis statuiert, insofern alle Vorstellungen in einem Leiden der Seele durch den Eindruck des Vorgestellten bestehen sollen. In Übereinstimmung hiermit geht auch ihre Physik von dem Satz aus, daß alles, was Ursache sei, Körper sei, welcher Begriff bei ihnen wesentlich durch den Gegensatz von Thun und Leiden bestimmt wird. Demgemäß unterscheiden sie die Materie als das qualitätslose leidende und Gott als das thätige und bildende Prinzip, so jedoch, daß nicht das eine wirklich getrennt von dem andern existiere, sondern die wirkliche Kraft in dem Stoff selbst vorhanden sei. So wie daher die Welt vernünftig und göttlich ist, so hat auch jeder einzelne Teil seinen besondern Anteil an der allgemeinen Vernunft. Diese bestimmte schon Zenon, sich an die Naturlehre des Heraklit anschließend, als ein denkendes, lebendiges Feuer, welches sich in stetigen Übergängen und nach einem bestimmten unausweichlichen Gesetz in die Elemente und die daraus entstehenden besondern Bedingungen verwandle, um nach periodischem Kreislauf wieder in die ursprüngliche Einheit zurückzukehren (Weltverbrennung). In genauem Zusammenhang mit dieser Physik steht der oberste Grundsatz der Ethik, welcher für deren höchsten Endzweck die Übereinstimmung mit der Natur erklärt. Die Unabhängigkeit der sittlichen Gesinnung stellten sie der äußerlich erscheinenden Handlung und deren zufälligen Umständen gegenüber. Einer selbständigen Fortbildung war das System an sich nicht fähig. Die wesentlichste Umbildung erfuhr die stoische Lehre durch Panaitios und Posidonios, welche auch hauptsächlich ihre Verpflanzung nach Rom bewirkten. Durch Wechselwirkung der stoischen Philosophie und des römischen Geistes aufeinander entwickelte sich hier aus ersterer eine räsonnierende praktische Popularphilosophie von zum Teil fromm-erbaulichem Charakter. Unter dem Despotismus der Cäsaren erhielt der Stoizismus eine politische Bedeutung, denn zu ihm flüchteten sich größtenteils die Oppositionsmänner; er wurde ein Gegenstand der Verfolgung, bis er mit Marcus Aurelius Antoninus auf den Kaiserthron kam und kaiserliche Fürsorge demselben noch einmal Geltung und Anhang erwarb. Nach der Zeit der Antonine verschwindet er völlig aus der Geschichte, in dem allgemeinen philosophischen und religiösen Synkretismus aufgehend, in welchen die antike Weltanschauung sich auflöste. Vgl. Tiedemann, System der stoischen Philosophie (Leipz. 1776, 3 Bde.); Ravaisson, Essai sur le stoicisme (Par. 1856); Noack in der Zeitschrift "Psyche", Bd. 5 (Leipz. 1862); Winckler, Der Stoizismus (das. 1878); Weygoldt, Die Philosophie der Stoa (das. 1883) ; Ogereau, Essai sur le système philosophique des stoiciens (Par. 1885); L. Stein, Die Psychologie der Stoa (Berl. 1886-88, 2 Bde.); Zeller, Philosophie der Griechen, Bd. 3.
Stoische Philosophie, s. Stoiker.
Stoizismns, Lehre der Stoiker (s. d.); streng moralisches oder vielmehr finsteres, freudenloses Leben.
Stoke Poges (spr. stohkpódschis), Dorfin Buckinghamshire (England), bei Slough, mit Denkmal des Dichters Gray, der hier seine Elegie schrieb, u. 109 Einw.
Stokes (spr. stohks), 1) George Gabriel, Mathematiker und Physiker, geb. 13. Aug. 1819 zu Skreen in Irland, studierte zu Cambridge und wurde 1849 Professor der Mathematik daselbst. Seit 1854 ist er auch Sekretär der Royal Society. S.' Arbeiten erstrecken sich über das Gebiet der reinen Mathematik, der Mechanik und der mathematischen und experimentellen Physik. Seine theoretischen Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich mit Hydrodynamik, der Theorie des Lichts und der Theorie des Schalles, seine experimentellen Arbeiten vorwiegend mit den Erscheinungen des Lichts. Eine seiner hervorragendsten Arbeiten ist die über die Fluoreszenz des Lichts, deren Natur er zuerst erkannte. Die frühern Beobachter, Brewster und Herschel, glaubten in der Erscheinung eine eigentümliche Zerstreuung des Lichts zu erkennen; S. wies aber nach, daß die fluoreszierenden Substanzen in der That selbst leuchtend werden, indem sie das auf sie treffende Licht in sich aufnehmen, und indem dadurch die Moleküle der Körper in Schwingungen geraten. S. begründete durch diese Ar-
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Stokessche Regel - Stolberg.
beiten gleichzeitig die richtige Theorie der Absorption des Lichts. In der Folge beschäftigte er sich viel mitder Absorptions-Spektralanalyse und untersuchte den ultravioletten Teil des Spektrums. Gesammelt erschienen seine "Mathematical and physical papers" (Cambr. 1880-83, 2 Bde.), deutsch die Vorlesungen: "Das Licht" (Leipz. 1888).
2) Whitley, engl. Keltolog, geb. 28. Febr. 1830, studierte in Dublin Rechtswissenschaft und Philologie, insbesondere Keltologie, begab sich als Barrister 1862 nach Indien (Madras), wurde zwei Jahre später zum Sekretär des Legislative Council zu Kalkutta ernannt und war 1877-82 Law Member of the Council of the governor general of India (s. v. w. Justizminister), in welcher Stellung er sich um die Gesetzgebung Indiens große Verdienste erwarb. Seine wichtigsten keltologischen Arbeiten sind: "Irish glosses" (Dubl. 1860); "Three Irish glossaries" (Kalk. 1868); "Goidelica", Sammlung altirischer Texte (2. Aufl., Lond. 1872); "Fis Adamnain" (Simla 1870); "A Cornish glossary" (Lond. 1870); "The life of Saint Meriasek, a Cornish drama" (das. 1872); "Middle-Breton hours" (Kalk. 1876); "Three middle Irish homilies" (das. 1879); "Togail Troi. The destruction of Troy" (das. 1881); "On the calendar of Oengus" (Dubl. 1881); "Saltair na Rann" (Oxf. 1883). Neuerdings erschienen von ihm "The Anglo-Indian codes" (Lond. 1887-88, 2 Bde.).
Stokessche Regel, s. Fluoreszenz.
Stoke upon Trent (spr. stóhk oponn trent), schmutzige Stadt in Staffordshire (England), im Distrikt der Potteries (s. d.), hat einen großartigen Bahnhof (mit den Bildsäulen Wedgwoods und Mintons), ein Athenäum, eine Kunstschule, Fabriken für Porzellan und Steingut (Minton, Copeland and Sons u. a.) und (1881) 19,261 Einw.
Stola (lat.), langes, faltiges, bis auf die Knöchel herabreichendes und unten mit einer Falbel (instita) verziertes Kleid der römischen Frauen, das auch vom Pontifex maximus getragen ward; jetzt Festgewand der katholischen Geistlichen, bei denen es jedoch nur aus einer langen Binde von weißer Seide oder Silberstoff besteht, die, mit drei Kreuzen am Ende versehen, bei den Priestern über beide Schultern und die Brust kreuzweise, bei den Diakonen bloß über die linke Schulter nach der rechten Hüfte zu herabhängt (s. Alba, Abbild.). Ein ähnliches Gewandstück trugen auch die ältern französischen und englischen Könige.
Stolac, Bezirksstadt in Bosnien (Kreis Moftar), an der Bregava, hat eine weitläufige, mit Türmen versehene uralte Burg, ein Bezirksgericht, (1885) 3397 meist mohammedan. Einwohner und Weinbau.
Stolberg (Stollberg), ehemalige Grafschaft am südlichen Fuß des Harzes, deren Gebiet, 429 qkm (7,8 QM.) mit 33,000 Einw., seitdem die Landeshoheit auf Preußen übergegangen ist (seit 1815), zwei Standesherrschaften, S.-Stolberg und S.-Roßla, im Regierungsbezirk Merseburg, Kreis Sangerhausen, bildet. - Die Stadt S. (S. am Harz), Hauptort der Standesherrschaft S.-Stolberg, in einem engen Waldthal an der Tyra, 297 m ü. M., hat eine evang. Kirche, ein gräfliches Konsistorium, ein Waisenhaus, ein Amtsgericht, Bergbau auf Eisen und Kupfer, eine Zigarren- und eine Pulverfabrik, 2 Sägemühlen und (1885) 2140 Einw. über der Stadt das gräfliche Residenzschloß mit ansehnlicher Bibliothek.
Stolberg (Stollberg), Stadt im preuß. Regierungsbezirk und Landkreis Aachen, an der Vicht, Knotenpunkt der Linien M'Gladbach-S., Langerwehe-Herbesthal, S.-Alsdorf, Stolberger Thalbahn, Eschweiler-Velau, S.-Münsterbusch und Morsbach-S. der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evangelische und 2 kath. Kirchen, ein uraltes Schloß (nach der Sage Jagdschloß Karls d. Gr.), ein Amtsgericht, eine Handelskammer, Sayettspinnerei, großartige Zink- und Messingindustrie, Eisengießereien, Dampfkesselfabriken, Bleihütten, Kupferhämmer, Glasfabriken mit Glasschleiferei, ein Walzwerk, Fabriken für Spiegelglas, Maschinen, Nähnadeln, Haken und Schlingen, Messing- u. Eisendraht, ferner Gerberei, Kalkbrennerei, Seifensiederei, eine große chemische Fabrik (Waldmeisterhütte) der Gesellschaft Rhenania, Bergbau auf Steinkohlen, Eisen, Blei, Galmei und Zinkblende und (1885) 11,835 meist kath. Einwohner. Die Messingindustrie der Stadt wurde im 16. und 17. Jahrh. durch aus Frankreich und Aachen vertriebene Protestanten begründet.
Stolberg, altadliges Geschlecht aus Thüringen, welches bis ins 11. Jahrh. zurückreicht, und dessen Stammland die Grafschaft S. in Thüringen ist. Schon 1412 in den Reichsgrafenstand erhoben, vermehrte es seinen Besitz durch Erwerbung der Grafschaften Hohnstein, Wernigerode, Königstein, von welch letzterer jetzt nur noch Gedern und Ortenberg dem Haus angehören, Wertheim und Rochefort in Belgien, die 1801 verloren ging, sowie des hennebergischen Fleckens Schwarza. Von den beiden Linien, in welche sich das Geschlecht früher teilte, der Harz- und der Rheinlinie, erlosch erstere 1631. Letztere teilte sich 1645 in die Linien: S.-Wernigerode, S.-Stolberg und S.-Roßla. Die erste hat außer der Grafschaft Wernigerode im Harz nebst Schwarza noch große Besitzungen in Schlesien, dem Großherzogtum Hessen und Hannover und wird gegenwärtig durch Graf Otto von S., geb. 30. Okt. 1837, repräsentiert (s. S.-Wernigerode 2). Dieser Linie gehörten an: Graf Ferdinand von S., geb. 18. Okt. 1775, gest. 20. Mai 1854 in Peterswaldau als preußischer Geheimrat, und Graf Anton von S., geb. 23. Okt. 1785, gest. 11. Juli 1854, der bis 1840 Oberpräsident der Provinz Sachsen und von 1842 bis 1848 zweiter Chef des Ministeriums des königlichen Hauses war. Dessen Sohn war Graf Eberhard von S., gest. 1872 (s. S.-Wernigerode 1). Die Linie S.-Stolberg, die ein Areal von 200 qkm besitzt, blüht in dem Hauptast, repräsentiert durch den Grafen Alfred von S., geb. 23. Nov. 1820, preußischen Standesherrn, und einem Nebenast, dessen Chef derzeit Graf Günther von S., geb. 22. Nov. 1820, ist. Ein Oheim desselben war Graf Joseph von S., geb. 12. Aug. 1804, gest. 5. April 1859 in Mecheln, bekannt durch die Stiftung des Bonifaciusvereins (s. d.). Der Stifter dieses Nebenastes war Graf Christian Günther von S., gest. 22. Juni 1765 als dänischer Geheimrat, der Vater der als Dichter bekannten Grafen Christian und Friedrich Leopold zu S. Die Linie S.-Roßla, deren Besitzungen in Preußen, dem Großherzogtum Hessen und Anhalt 300 qkm betragen, wird gegenwärtig durch Graf Botho August Karl, Standesherrn in Preußen und Hessen, geb. 12. Juli 1850, vertreten. Vgl. Graf Botho zu S.-Wernigerode, Geschichte des Hauses S. 1210-1511 (Magdeb. 1883) ; Derselbe, Regesta Stolbergica (das. 1886).
Stolberg, 1) Christian, Graf zu, Dichter, der Linie S.-Stolberg angehörig, geb. 15. Okt. 1748 zu Hamburg, Sohn des Grafen Christian Günther, studierte seit 1769 in Halle, 1772-74 in Göttingen, wo er dem Göttinger Dichterbund (s. d.) beitrat, erhielt 1777 die Amtmannsstelle zu Tremsbüttel in Holstein und vermählte sich hier mit der in vielen
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Stolberger Diamanten - Stolberg-Wernigerode.
seiner Gedichte gefeierten Luise, Witwe des Hofjägermeisters v. Gramm, einer gebornen Gräfin von Reventlow. Nach 23jähriger musterhafter Verwaltung
seines Amtes legte er dasselbe (1800) nieder und lebte
fortan auf seinem Gut Windebye bei Eckernförde. Er
starb 18. Jan. 1821. Seine kleinern "Gedichte" (Elegien, Lieder, Balladen etc.) sind mit denen seines Bruders zuerst 1779 in Leipzig (neue Aufl. 1822) erschienen; ebenso die "Schauspiele mit Chören" (1787), von
denen ihm "Belsazar" und "Otanes" angehören. Beiden Brüdern gemeinsam waren auch die "Vaterländischen Gedichte" (Hamb. 1810, 2. Aufl. 1815), in
welchen sie freilich an die neue Zeit einen veralteten Maßstab legten. Christian lieferte außerdem "Gedichte aus dem Griechischen" (Hamb. 1782) und eine
Übersetzung des Sophokles (Leipz. 1787, 2 Bde.) in
fünffüßigen Iamben, Übertragungen, die für ihre Zeit nicht ohne Wert waren. Seine sämtlichen poetischen Arbeiten befinden sich in der Ausgabe der
"Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-25, 20 Bde.);
eine Auswahl aus den Gedichten beider gab Kreiten heraus (Paderb. 1889).
2) Friedrich Leopold, Graf zu, jüngerer Bruder des vorigen, Dichter und Schriftsteller, geb. 7.
Nov. 1750 in dem holsteinischen Flecken Bramstedt, gehörte in Göttingen, wo er von 1772 an studierte,
gleichfalls zu dem erwähnten Dichterbund. Nach Beendigung der Universitätsstudien wurde er als königlicher Kammerjunker dem dänischen Hof attachiert
und bekleidete später (1777) den Posten eines Lübecker Geschäftsträgers bei der dänischen Regierung. Vermählt (1782) mit der mehrfach von ihm besungenen Agnes, einer Gräfin von Witzleben, lebte er mehrere Jahre ganz seinem häuslichen Glück und den Musen. Nach dem Tod seiner Gattin bekleidete er den Gesandtschaftsposten in Berlin und schritt hier 1790 zu
einer zweiten Vermählung mit der Gräfin Sophie von Redern. Von Berlin ging er 1791 als Präsident der fürstbischöflichen Regierung nach Eutin, wo er mit Voß den alten Bund der Freundschaft neu knüpfte
und durch ihn wieder zu litterarischer Thätigkeit angespornt wurde. Nach einer Reise durch die Schweiz und Italien legte er 1800 seine sämtlichen Ämter nieder, zog nach Münster und trat mit Weib und Kindern (die älteste, später dem Grafen Ferdinand von S.-Wernigerode vermählte Tochter ausgenommen) zur römisch-katholischen Kirche über. Von Stolbergs alten Freunden machten namentlich Voß und Jacobi ihrem Unwillen über den Abtrünnigen durch den Druck, ersterer auf ebenso derbe und bittere wie letzterer auf eine würdevolle Weise, Luft. Stolbergs
litterarische Thätigkeit beschränkte sich seitdem vorzugsweise auf seine "Geschichte der Religion Jesu
Christi" (Hamb. 1807-18, 15 Bde.; fortgesetzt von Fr. v. Kerz, Bd. 16-45, Mainz 1825-48, und von Brischar, Bd. 46-53, das. 1850-64) und ein tendenziös gefärbtes "Leben Alfreds d. Gr." (Münst.
1815, 2. Aufl. 1837), Werke, die durchgehend von
der geistigen Befangenheit ihres Urhebers zeugen, und auf asketische Produkte, die kein Blatt in feinen Lorbeerkranz flechten konnten. "Gedichte", "Schauspiele mit Chören" und "Vaterländische Gedichte"
gab er mit seinem Bruder gemeinsam heraus. Stolbergs Lyrik ist vielfach altertümelnd, in ihrer Freiheitsbegeisterung ganz vag und phrasenhaft, oft gesucht einfachen Gepräges; sie stand im allgemeinen noch unter den Einwirkungen Klopstocks. Als Prosaiker versuchte er sich auch in einem Roman: "Die Insel" (1788), und einer weitschweifigen "Reise durch Deutschland, die Schweiz, Italien u. Sizilien" (1794);
als Übersetzer trat er mit der ersten Übertragung der Iliade, einer vorzüglichen Nachdichtung von vier Tragödien des Äschylos und mehreren Schriften Platons hervor. S. starb 5. Dez. 1819 auf dem Gut Sondermühlen bei Osnabrück, nachdem er kurz zuvor "Ein Büchlein von der Liebe" (Münst. 1820, 5. Aufl. 1877)
vollendet hatte. Seine Schriften nehmen den größten Teil der "Werke der Brüder S." (Hamb. 1820-1825, 20 Bde.) ein. Vgl. Nicolovius, F. L., Graf
zu S. (Mainz 1846), mehr apologetische Parteischrift
als Lebensbeschreibung; Menge, Graf F. L. S. und
seine Zeitgenossen (Gotha 1863, 2 Bde.): Hennes, Aus Fr. L. v. Stolbergs Jugendjahren (das. 1876);
Janssen, F. L., Graf zu S. (3. Aufl., Freiberg 1882).
3) Auguste Luise, Gräfin zu, Schwester der vorigen, geb. 7. Jan. 1753 zu Bramstedt, wurde durch
ihre Brüder mit Klopstock, Miller und andern Mitgliedern des Göttinger Dichterbundes bekannt und
trat auch mit Goethe in Briefwechsel, den sie übrigens persönlich nie kennen lernte. Sie heiratete 1783 den dänischen Minister Grafen A. P. Bernstorff, wurde
1797 Witwe und starb 30. Juni 1835. Vgl. "Goethes Briefe an die Gräfin Auguste zu S." (mit Einleitung von W. Arndt, 2. Aufl., Leipz. 1881).
Stolberger Diamanten, Bergkristalle vom Auerberg im Unterharz.
Stolberg-Wernigerode, 1) Eberhard, Graf von, Präsident des preuß. Herrenhauses, geb. 11. März 1810 zu Peterswaldau bei Reichenbach i. S., Sohn
des 1854 gestorbenen Generalleutnants und Ministers Grafen Anton aus der schlesischen Seitenlinie des Hauses S., diente zuerst in der Armee, verwaltete dann die Fideikommißherrschaft Kreppelhof bei
Landeshut in Schlesien, ward 1853 erbliches Mitglied des Herrenhauses, in welchem er sich durch seine schroff feudale Gesinnung hervorthat und bald zum Präsidenten gewählt wurde, und war 1867-69 konservatives Mitglied des norddeutschen Reichstags.
1864 organisierte er die Johanniter-Lazarettpflege mit solchem Eifer und Geschick, daß ihn der König
1866 zum Kommissar und Militärinspektor der freiwilligen Krankenpflege bei der Feldarmee ernannte. In dieser Eigenschaft gründete der Graf den "Preußischen Verein zur Pflege im Feld verwundeter und erkrankter Krieger". 1869 zum Oberpräsidenten von Schlesien ernannt, starb er 8. Aug. 1872 kinderlos zu Johannisbad in Böhmen.
2) Otto, Graf von, Chef des Hauses, geb. 30. Okt. 1837 zu Gedern in Hessen, Sohn des Erbgrafen Hermann (geb. 30. Sept. 1802, gest. 24. Okt. 1841),
besuchte das Gymnasium in Duisburg und, nachdem er seinem Großvater, Grafen Heinrich, 16. Febr. 1854
gefolgt war, die Universitäten Göttingen und Heidelberg, diente 1859-61 als Offizier in der preußischen Armee, ward 1867 zum Oberpräsidenten von Hannover ernannt, welches Amt er bis 1873 mit Takt, Umsicht und großem Erfolg verwaltete, im
März 1876 Botschafter des Deutschen Reichs zu Wien
und 1. Juni 1878 Stellvertreter des Reichskanzlers
und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums. Dies Amt legte er 20. Juni 1881 nieder und ward 1884 Oberstkämmerer und stellvertreten-der Minister des königlichen Hauses, welches letztere
Amt er 1888 aufgab. 1867-78 Mitglied des Reichstags, 1872-86 Kanzler des Johanniterordens, 1872 bis 1877 Präsident des Herrenhauses und 1875 Vorsitzender der außerordentlichen Generalsynode, gehört er zur gemäßigt konservativen Partei. Er ist erster Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Vereine und des preußischen Vereins vom Roten Kreuz.
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Stolgebühren - Stollenschrank.
Stolgebühren (Jura stolae), die nach der Stola (s. d.) benannten Gebühren, welche die Geistlichen für kirchliche Handlungen, namentlich Taufen, Trauungen, Abnahme der Beichte und Begräbnisse, beziehen. Schon zu Ende des 5. Jahrh. war eine Taxe für alle geistlichen Verrichtungen vorhanden; doch floß das von den Laien dafür in den Opferstock der Kirche gelegte Geld anfangs der Kirchenkasse zu, die davon den Pfarrern ihren Anteil gab. Erst später war jeder Parochus befugt, die S. für sich allein einzunehmen. Auch in der protestantischen Kirche bilden die S. (als zufällige Einnahmen jetzt gewöhnlich Accidenzien oder Kasualien genannt) einen Teil der Einnahmen des Pfarrers; doch sind sie in Deutschland vielfach abgeschafft und durch festen Gehalt ersetzt worden.
Stoliczka (spr. -litschka), Ferdinand, Paläontolog, geboren im Mai 1838 in Mähren, war nach Vollendung seiner Studien mehrere Jahre ein thätiges Mitglied der geologischen Reichsanstalt zu Wien und wurde 1862 als Mitarbeiter an der Geological Survey ofIndia nach Kalkutta berufen. Seine Arbeiten sind meist paläontologischen Inhalts. Eine Reihe von Aufsätzen behandelt die Kreidefossilien Südindiens. Daneben publizierte er wichtige zoologische Arbeiten in den Schriften der Asiatic Society of Bengal, deren Sekretär er seit 1868 war. 1864 und 1865 machte er Forschungsreisen nach dem englischen Tibet, nahm 1873 als Geolog an der Forsythschen Gesandtschaftsreise nach Kaschgar teil, ging dann mit Oberst Gordon und Kapitän Trotter nach dem Tschatyrkul im Thianschan, über die Pamirs nach Wachan und zurück, starb aber auf dem Marsch 19. Juni 1874 in Murghi am Shayok, unfern des Sasserpasses in Ladak. Vgl. Ball, Memoir of the life and work of F. S. (Lond. 1886).
Stolidität (lat.), Albernheit, Dummheit.
Stoljetow, Nikolai Grigorjewitsch, russ. General, geb. 1834, trat 1855 als Offizier in ein Regiment der Kaukasusarmee, avancierte in derselben bis zum Oberstleutnant und ward 1867 zum Chef der Kanzlei der Militärverwaltung von Turkistan ernannt. Kurz darauf zum Obersten befördert, erhielt er 1872 das Kommando des uralischen Infanterieregiments. Nicht lange nachher ward ihm die Leitung der Amu Darja-Expedition, einer wissenschaftlichen Unternehmung und zugleich auch militärischen Rekognoszierung, übertragen. 1875 zum Generalmajor befördert, erhielt er 1877 den Auftrag, die bulgarischen Druschinen (Milizbataillone) zu organisieren, und an der Spitze von sechs bulgarischen Bataillonen nahm er an Gurkos erstem Zug über den Balkan teil, kämpfte 31. Juli 1877 bei Eski-Sagra mit und hatte den ersten Anprall Suleiman Paschas auf dem Schipkapaß auszuhalten. Auch beim zweiten Balkanübergang im Winter 1877-78 befehligte er eine Brigade. Nach dem Frieden von San Stefano ward er an der Spitze einer großen Gesandtschaft nach Kabul zum Emir von Afghanistan geschickt, um diesen zum Widerstand gegen die Engländer aufzureizen, zog sich aber mit diesem nach Turkistan zurück, als die Engländer in Afghanistan einrückten.
Stollberg, 1) Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft Zwickau, Amtshauptmannschaft Chemnitz, Knotenpunkt der Linien S.-Chemnitz und St. Egidien-Zwönitz der Sächsischen Staatsbahn, 418 m ü. M., hat 2 Kirchen, ein neues Rathaus, eine Realschule, ein Amtsgericht, eine bedeutende Strumpfwarenfabrik (800 Arbeiter), Strumpfstuhl-, Zigarren-, Metallwaren- u. Kartonagenfabrikation, Maschinenbau, mechanische Weberei und Zwirnerei, Dampfsägewerke und (1885) 6541 fast nur evang. Einwohner. Dabei das Dorf Hoheneck mit dem hoch gelegenen gleichnamigen Schloß (jetzt Arbeitshaus für Männer) und (1885) 1210 Einw. -
2) S. Stolberg.
Stollbeulen (Ellbogenbeulen), bei Pferden Geschwülste an der hintern Seite und auf der Spitze des Ellbogens, die infolge von Quetschungen der Haut und Unterhaut entstehen. Diese Quetschungsentzündung wird in einzelnen Fällen durch den Druck der Stollen des Hufeisens während des Liegens der Pferde mit untergeschlagenen Füßen hervorgerufen (daher der Name), kommt aber auch bei stellenlosen Hufeifen und unbeschlagenen Pferden vor. Die Entzündung breitet sich gewöhnlich auf das benachbarte Bindegewebe aus; die zunächst mit Blut gefüllten Hohlräume werden durch Wucherung und Verdichtung des Bindegewebes zum größten Teil wieder ausgefüllt, und die Geschwulst wird infolgedessen fest und derb (Stollschwamm). In der ersten Zeit bildet sich in der Geschwulst nicht selten eine Eiterung. Die Behandlung verlangt Abstellung der Ursache fortgesetzter Quetschung; bei frischer Entzündung sind kühlende Mittel, sonst Entleeren der Flüssigkeit, Einreibungen mit grüner Seife und Einspritzungen von Jodtinktur angezeigt. Veraltete, speckartige Stollschwämme können nur durch Ätzmittel oder auf operativem Weg entfernt werden. Besonders zweckmäßig ist das Abbinden der S., weil mit demselben die Verheilung ohne Zurücklassung einer narbigen Deformität erzielt wird. Übrigens stören S. den Dienstgebrauch der Pferde wenig, beeinträchtigen aber oft das gute Aussehen. Die alte Annahme, daß S. am häufigsten bei lungenkranken Pferden vorkommen, ist unbegründet.
Stolle, Ludwig Ferdinand, Belletrist, geb. 28. Sept. 1806 zu Dresden, studierte in Leipzig die Rechte und Staatswissenschaften, widmete sich dann zu Grimma und seit 1855 in Dresden der Litteratur und starb in letzterer Stadt 29. Sept. 1872. Durch die Herausgabe des humoristisch-politischen Volksblattes "Der Dorfbarbier" (1844-63) in weitern Kreisen bekannt geworden, fand er mit feinen zahlreichen historischen und humoristischen Romanen, von denen wir nur "1813" (Leipz. 1838, 3 Bde.), "Elba und Waterloo" (das. 1838, 3 Bde.), "Deutsche Pickwickier" (das. 1841, 3 Bde; 3. Aufl. 1878), "Napoleon in Ägypten" (das. 1843, 3 Bde.) und "Die Erbschaft in Kabul" (das. 1845) namentlich anführen, wie mit seinen Erzählungen und Novellen ("Frühlingsglocken", "Moosrosen" etc.) zahlreiche Leser. Sie wurden unter dem Titel: "Des Dorfbarbiers ausgewählte Schriften" (2. Aufl., Leipz. 1859-64, 30 Bde.; neue Folge, Plauen 1865, 12 Bde.) gesammelt. Außer "Gedichten" (Grimma 1847) gab er auch die lyrische Sammlung "Palmen des Friedens" (Leipz. 1855, 5. Aufl. 1873) heraus und schrieb zuletzt das Idyll "Ein Frühling auf dem Lande" (das. 1867).
Stollen, ein möglichst horizontaler, vom Tag ausgehender, nach Umständen verzweigter unterirdischer Grubenbau, welcher verschiedenen Zwecken dient; in der Poetik ein Teil der Strophe der alten Minnelieder (s. Aufgesang und Abgesang).
Stollenrösche, der vom Mundloch eines Stollens bis zum nächsten Wasserlauf geführte Graben.
Stollenschrank, ein auf Pfosten (Stollen) ruhender Schrank mit Doppelthüren, im Mittelalter und in der Renaissancezeit vornehmlich in den Rheinlanden verfertigt. Die Pfosten waren meist durch eine Rückwand und unten durch ein Querbrett verbunden. S. Tafel "Möbel", Fig. 10.
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Stollhofen - Stolze.
Stollhofen, Dorf im bad. Kreis Baden, unweit des Rheins, hat (1885) 1139 Einw., ehemals Mittelpunkt der Stollhofer Linien, die, jetzt vollständig verschwunden, im spanischen Erbfolgekrieg vom Markgrafen Lndwig von Baden bis zu seinem Tod (1707) behauptet, nachher von den Franzosen genommen wurden.
Stolnik (russ.), Titel eines Hofbeamten im moskowitischen Großfürsten- und Zartum; Truchseß.
Stolo(lat.), in der Botanik s. v. w. Ausläufer (s. d.).
Stolp, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Köslin, an der Stolpe, Knotenpunkt der Linien Stargard i. P.-Zoppot und Neustettin-Stolpmünde der Preußischen Staatsbahn, 35 m ü. M., hat 3 evang. Kirchen (darunter die Marienkirche mit hohem Turm und die im 13. Jahrh. erbaute Schloßkirche), eine altlutherische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein altes Schloß und (1885) mit der Garnison (3 Eskadrons Husaren Nr. 5) 22,442 Einw. (darunter 542 Katholiken und 867 Juden), welche Eisengießerei und Maschinenbau, Tabaks-, Zigarren-, Bernsteinwaren und Lederfabrikation, Wollspinnerei, Dampftischlerei, Ziegelbrennerei, Lachsfischerei etc. betreiben; auch hat S. 2 große Mahl- und 5 Sägemühlen. Der Handel, unterstützt durch eine Reichsbanknebenstelle, ist lebhaft in Getreide, Vieh, Spiritus, Holz, Fischen und Gänsen. S. ist Sitz eines Landgerichts, zweier Oberförstereien, einer Mobiliar-Brandversicherungsgesellschaft und hat ein Gymnasium, verbunden mit Realprogymnasium, ein Fräuleinstift, ein Invalidenhaus, ein Krankenhaus, ein Militärlazarett und 2 Hofpitäler. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die sieben Amtsgerichte zu Bütow, Lauenburg, Pollnow, Rügenwalde, Rummelsburg, Schlawe und S.
Wappen von Stolp.
Stolpe, Küstenfluß in Hinterpommern, entspringt aus dem Stolper See im Regierungsbezirk Danzig, nimmt die Bütow, Kamenz und Schottow auf, ist flößbar und mündet nach einem Laufe von 150 km bei Stolpmünde in die Ostsee.
Stolpen, Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft Dresden, Amtshauptmannschaft Pirna, an der Wesenitz und der Linie Neustadt-Dürrröhrsdorf der Sächsischen Staatsbahn, auf steilem Basaltberg, hat ein Amtsgericht, ein dreitürmiges altes Schloß, in welchem die Gräfin Cosel (s. d.) 1716-65 gefangen saß, Messerfabrikation und (1885) 1367 Einw.
Stolpmünde, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Köslin, Kreis Stolp, an der Mündung der Stolpe in die Ostsee und an der Linie Neustettin-S. der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Navigationsvorschule, ein Seebad, 2 Dampfschneidemühlen, Schiffahrt, Holz- und Spiritushandel und (1885) 1974 fast nur evang. Einwohner. Vgl. Zessin, Das Ostseebad S. (Stolp 1885).
Stolze, Friedrich, Frankfurter Dialektdichter, geb. 21. Nov. 1816 zu Frankfurt a. M., ward von seinem Vater zum Kaufmannsstand bestimmt, verließ diesen aber nach des Vaters Tod, um sich den schönen Wissenschaften zuzuwenden, und ließ sich nach mehrfachen Reisen als Schriftsteller in seiner Vaterstadt nieder, wo er von 1852 an die im Dialekt geschriebene "Frankfurter Krebbelzeitung" und daneben seit 1860 mit dem Maler Schalk die "Frankfurter Laterne" herausgab, die beide 1866 bei der Besetzung Frankfurts durch die Preußen unterdrückt wurden. S. lebte seitdem in Stuttgart, dann in der Schweiz, kehrte aber nach erfolgter Amnestie nach Frankfurt zurück, wo er die Redaktion der "Frankfurter Laterne" von neuem übernahm. Er veröffentlichte: "Skizzen aus der Pfalz" (Frankf. 1849); "Gedichte in hochdeutscher Mundart" (das. 1862); "Gedichte in Frankfurter Mundart" (das. 1865, 6. Ausl. 1883; 2. Bd., 1884); "Novellen und Erzählungen in Frankfurter Mundart" (das. 1880-85, 2 Bde.) u. a.
Stolz kommt mit der Eitelkeit (s. d.) darin überein, daß er, wie diese, als Wirkung des Ehrtriebs auf den Besitz persönlicher Vorzüge Wert legt, unterscheidet sich aber von dieser dadurch, daß dieselben nicht eben durchaus unbedeutende oder gar nur vermeintlich besessene (wirkliche oder vermeintliche körperliche Schönheit u. dgl.) Güter sind, sondern wahre und tatsächlich besessene, sogar sittlich wertvolle Güter (Charakterfestigkeit, wissenschaftliche oder künstlerische Leistungsfähigkeit u. dgl.) sein können. Geht derselbe so weit, daß er, um sich zu behaupten, lieber äußere Vorteile opfert, so heißt er edler S. Überschätzt er seinen Wert oder läßt sich durch das Gefühl desselben zur Geringschätzung andrer verleiten, so geht er in Hochmut (wie die Eitelkeit in gleichem Fall in Hoffart) über.
Stolz, Alban, bekannter kathol. Theolog, geb. 8. Febr. 1808 zu Bühl im Badischen, ward 1833 zum Priester geweiht und gab seit 1843, wo er Repetent am theologischen Konvikt zu Freiburg i. Br. wurde, den vielgelesenen "Kalender für Zeit und Ewigkeit" heraus. Seit 1848 war er Professor der Pastoraltheologie und Pädagogik an der theologischen Fakultät. Mehr jedoch wirkte er durch eine Unzahl von asketischen und kirchenpolitischen Schriften, wie er denn überhaupt als der originellste und fruchtbarste aller populären Vertreter des deutschen Ultramontanismus gelten darf. Er starb 16. Okt. 1883. Von größern Werken sind anzuführen: "Spanisches für die gebildete Welt" (8. Aufl., Freiburg 1885); "Besuch bei Sem, Ham und Japhet" (5. Aufl., das. 1876), beides Reisefrüchte. Die meisten seiner zahlreichen Schriften (gesammelt, Freiburg 1871-87, 15 Bde.) wurden in fremde Sprachen übersetzt. Vgl. Hägele, Alban S. (3. Aufl., Freiburg 1889).
Stolze, Heinrich August Wilhelm, Begründer des nach ihm benannten stenographischen Systems, geb. 20. Mai 1798 zu Berlin, besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium daselbst, um sich zum Studium der Theologie vorzubereiten, mußte aber beschränkter Vermögensverhältnisse wegen 1817 eine Anstellung im Büreau der Berliner Feuerversicherungsanstalt annehmen. Schon 1815 beim Eintritt in die Prima wurde S. auf den Gedanken geführt, zur Erleichterung der Arbeitslast sich mit der Kurzschrift bekannt zu machen, und der große Umfang seiner neuen Berufsarbeiten lenkte ihn 1818 abermals und ernstlicher auf die Stenographie. Er erlernte 1820 das Mosengeilsche System, fand es aber feinen Erwartungen nicht entsprechend. Von da ab versuchte er selbst neue Wege einzuschlagen und machte die Stenographie zum Gegenstand seiner besondern Beschäftigung, indem er alle ihm zugänglichen ältern und neuern Systeme der Kurzschrift durcharbeitete. Das Studium der Lautphysiologie und der damals jungen Sprachwissenschaft zeigte ihm, welche Kürzungsvorteile eine Stenographie aus der Beachtung des Wesens der Laute und aus dem Anschluß an die Etymologie ziehen könne. Durch das Erscheinen von Gabelsbergers Redezeichenkunst und W. v. Humboldts Werk über die
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Stolze - Stölzel.
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues wurde S. aus die Idee der symbolischen Vokalbezeichnung geführt. Er gab 1835 seine Stelle bei der Feuerversicherungsanstalt auf und widmete sich ganz der Ausarbeitung seiner Stenographie, welche 1840 abgeschlossen und 1841 mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums in dem "Theoretisch-praktischen Lehrbuch der deutschen Stenographie" (Berl.) veröffentlicht ward. Weitere Publikationen von S. sind: "Ausführlicher Lehrgang der deutschen Stenographie" (Berl. 1852, 9. Aufl. 1886); "Anleitung zur deutschen Stenographie" (das. 1845, 52. Aufl. 1889); "Stenographisches Lesebuch" (das. 1852, 2. Aufl. 1861); "Normalübertragung der Aufgaben etc." (das. 1865). Seit 1852 war S. Vorsteher des stenographischen Büreaus des Hauses der Abgeordneten in Berlin und starb daselbst 8. Jan. 1867. Vgl. Michaelis, Nachruf an W. S. (Berl. 1867); Derselbe, Festrede zur Übergabe der S.-Büste etc. (das. 1882); Kreßler, W. Stolze (das. 1884); Käding, Die Denkmäler Stolzes (das. 1889). Das Ziel, welches S. im Auge hatte, war nicht die Schaffung eines Werkzeugs zum Redennachschreiben, sondern das höhere der Herstellung eines allgemeinen Erleichterungsmittels bei jeder ausgedehntern Schreibthätigkeit. Vollständigkeit und Genauigkeit der Lautbezeichnung galten ihm ebensosehr als Grundbedingungen wie die Kürze. Erst später, nachdem die Stolzesche Stenographie in den preußischen Kammern Eingang als Mittel zum Nachschreiben der Reden gefunden, fügte S. für diesen Zweck weitere Bestimmungen hinzu, die aber nicht erschöpfend waren und sich als hinderlich bei der Erreichung des eigentlichen Ziels erwiesen. Systemreformen von 1868 und 1872 gingen daher wieder auf Stolzes ursprüngliches Ziel zurück, eine weitere von 1888 schuf abermals wesentliche Vereinfachungen. In dieser neuesten Gestalt ist das System etwa viermal kürzer als die gewöhnliche Schrift und erfordert ungefähr 10 Unterrichtsstunden. Seine Zeichen bildete S. nach Gabelsbergers Vorgang aus Teilzügen der gewöhnlichen Schrift und verteilte dieselben nach bestimmt ausgesprochenen Grundsätzen auf das Alphabet. Die meisten Vokale bezeichnet er symbolisch durch Stellung des Wortbildes zur Schriftlinie, durch kurzen oder langen Bindestrich sowie durch Druck oder Nichtdruck im begleitenden Konsonanten. In der hierbei durchgeführten Idee, den sonst bedeutungslosen Bindestrich als Träger der Vokalsymbolik zu verwenden, liegt neben Erhebung der Kurzschrift zu höherer Bestimmung Stolzes Hauptverdienst um die Fortbildung der Stenographie. Endlich werden gewisse häufig vorkommende Wörter und Silben durch feststehende, aus Teilen des Ganzen gebildete Abkürzungen (Siglen) bezeichnet. Das Stolzesche System ist auf eine Reihe fremder Sprachen übertragen worden, nämlich auf das Niederländische, Schwedische, Englische; Lateinische, Italienische, Französische, Portugiesische, Spanische; Russische, Serbische; Magyarische. Eine nennenswerte staatliche Fürsorge genießt die Stolzesche Stenographie nicht, sie verdankt ihre Ausbreitung fast allein der Privatthätigkeit ihrer Anhänger. In einigen Lehranstalten Preußens und der Schweiz wird sie fakultativ, in mehreren preußischen Militärschulen obligatorisch gelehrt; die amtliche Kommission zur Prüfung der Stenographielehrer in Budapest prüft sowohl Kandidaten, welche das Stolzesche, als solche, die das Gabelsbergersche System vortragen wollen. Im deutschen, schwedischen und ungarischen Reichstag, im preußischen, anhaltischen und württembergischen Landtag, in mehreren preußischen Provinziallandtagen und im Großen Rat zu Bern dient die Stolzesche Stenographie wie deren Übertragungen teils allein, teils neben andern Systemen zur amtlichen Aufnahme der gehaltenen Reden. Zur größten Verbreitung als Verkehrsschrift ist das Stolzesche System in der Schweiz gelangt; ferner besitzt es in seinem Ursprungsland Preußen sowie in ganz Nord- und Mitteldeutschland außer Sachsen das Übergewicht, während es in Österreich und Süddeutschland neben der staatlich gepflegten Redezeichenkunst Gabelsbergers nicht aufgekommen ist. Von den Stolzeschen Lehrmitteln wurden mehr als 1/4 Mill. Exemplare abgesetzt. Infolge der oben erwähnten Systemrevisionen von 1868, 1872 und 1888, denen sich ein Teil der Schule widersetzte, enstand eine Spaltung in die kleine, unter sich wieder geteilte altstolzesche und die numerisch bedeutend überwiegende neustolzesche Richtung. Beide Richtungen zusammen zählen gegenwärtig 450 Vereine (der älteste und zugleich erste des europäischen Kontinents der zu Berlin seit 1844) mit 10,500 Mitgliedern und werden durch 20 Fachzeitschriften vertreten, deren älteste, das "Archiv für Stenographie", seit 1849 erscheint. Nach Gegenden und Provinzen sind diese Vereine in Verbänden zusammengefaßt. Jede der beiden Stolzeschen Richtungen besitzt eine eigne Organisation; an der Spitze der Neustolzeaner steht der Vorstand des Verbandes Stolzescher Stenographenvereine (Sitz Berlin), während die vereinigten altstolzeschen Körperschaften in dem Vorstand der Verbände (Sitz Berlin) eine leitende Stelle besitzen. Aus dem Stolzeschen System sind mehrere abgeleitete Systeme hervorgegangen, z. B. die von Erkmann (1876), Velten (1876), Lentze (1881). Vgl. "Systemurkunde der deutschen Kurzschrift von W. S." (Berl. 1888); Stolze, Anleitung zur deutschen Stenographie (52. Aufl., das. 1889); Derselbe, Ausführlicher Lehrgang der deutschen Stenographie (9. Aufl., das. 1886); Frei, Lehrbuch der deutschen Stenographie (9. Aust., Wetzikon 1889); Käding, Der Unterricht in der Stolzeschen Stenographie (2. Aufl., Berl. 1885); Knövenagel und Ryssel (Altstolzeaner), Vollständiges praktisches Lehrbuch der deutschen Stenographie (7. Aufl., Hannov. 1886); Simmerlein, Das Kürzungswesen in der stenographischen Praxis (4. Aufl., Berl. 1887); Knövenagel, Redezeichenkunst oder deutsche Kurzschrift? (3.Aufl., Hannover 1880); F. Stolze, Gabelsberger oder S.? (Berl. 1864); Häpe, Die Stenographie als Unterrichtsgegenstand (Dresd. 1863); Kaselitz, Kritische Würdigung der deutschen Kurzschriftsysteme von S., Gabelsberger und Arends (Berl. 1875); Miller, Die Stenographien von S. und Faulmann (Wien 1886); Steinbrink, Zur Entstehungsgeschichte des Stolzeschen Systems (im "Archiv für Stenographie" 1885); Müller, Die Organisationsbestrebungen der Stolzeschen Schule (Berl. 1883); Krumbein, W. S. und der Entwicklungsgang seiner Schule (Dresd. 1876); Mitzschke, Museum der Stolzeschen Stenographie (2. Aufl., Berl. 1877); Alge, Geschichte der Stenographie in der Schweiz (Gossau 1877); "Serapeum der Stolzeschen Stenographie" (Berl. 1874, Nachtrag 1876).
Stölzel, 1) Karl, Technolog, geb. 17. Febr. 1826 zu Gotha, studierte in Jena und Heidelberg Staatswirtschaftslehre, dann Naturwissenschaft und besonders Chemie in Berlin und unter Liebigs Leitung in Gießen. Er habilitierte sich 1849 in Heidelberg als Privatdozent, war in der Folge Lehrer an den Gewerbeschulen zu Kaiserslautern und Nürnberg und
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Stolzenau - Stopfbüchse.
wurde 1868 als Professor der chemischen Technologie und Metallurgie an die technische Hochschule in München berufen. S. war auch bei den Weltausstellungen zu London 1851, Paris 1867 und Wien 1873 amtlich beschäftigt und an der Berichterstattung über die letzten beiden beteiligt. Sein Hauptwerk ist die "Metallurgie" (Braunschw. 1863-86, 2 Bde.).
2) Adolf, Rechtsgelehrter, Bruder des vorigen, geb. 28. Juni 1831 zu Gotha, studierte in Marburg und Heidelberg, war 1860-66 Richter beim Kasseler Stadtgericht und Obergericht, trat dann in den preußischen Staatsdienst und wurde 1872 zum Kammergerichtsrat, 1873 zum Ministerialrat in Berlin ernannt, wo er gleichzeitig seit 1875 als Mitglied der obersten Justizprüfungsbehörde fungiert, deren Präsident er seit 1886 ist. Von seinen zahlreichen rechtswissenschaftlichen Arbeiten sind hervorzuheben das im Verein mit andern anonym herausgegebene "Handbuch des kurhessischen Zivil- und Zivllprozeßrechts" (Kassel 1860-61, 2 Bde.); "Die Lehre von der operis novi nunciatio und dem interdictum quod vi aut clam" (Götting. 1863): "Kasseler Stadtrechnungen aus der Zeit von 1468 bis 1553" (Kassel 1871); "Die Entwickelung des gelehrten Richtertums in deutschen Territorien" (Stuttg. 1872) ; "Das Recht der väterlichen Gewalt" (Berl. 1874); "Das Eheschließungsrecht im Geltungsbereich des preußischen Gesetzes vom 9. März 1874" (das. 1874 u. öfter); "Wiederverheiratung eines beständig von Tisch und Bett getrennten Ehegatten" (das. 1876); "Deutsches Eheschließungsrecht nach amtlichen (Ermittelungen als Anleitung für die Standesbeamten" (das. 1876 u. öfter); "Karl Gottlieb Svarez" (das. 1885); "Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, dargestellt im Wirken ihrer Landesfürsten und obersten Justizbeamten" (das. 1888, 2 Bde.). Schon 1872 zum Ehrendoktor der Universität Marburg promoviert, wurde S. 1887 zum ordentlichen Honorarprofessor der Universität Berlin ernannt.
Stolzenau, Flecken und Kreishauptort im preuß. Regierungsbezirk Hannover, an der Weser, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, ein Amtsgericht, Branntweinbrennerei, Seifenfabrikation, Lachsfischerei, Wollhandel, Schiffahrt und (1885) 1483 Einw.
Stolzenfels, Bergschloß im preuß. Regierungsbezirk und Kreis Koblenz, am linken Rheinufer, bei dem Dorf Kapellen, war im Mittelalter häufig die Residenz der Erzbischöfe von Trier und ward 1689 von den Franzosen in Trümmer gelegt. 1836-45 ward das Schloß nach Schinkels Plan im mittelalterlichen Stil in großartiger Weise neu aufgeführt und im Innern mit allerlei Kunstwerken, darunter Freskomalereien von Deger, Lasinsky, Stilke etc., geschmückt.
Stolzer Tritt, in der Reitkunst, s. Piaffe.
Stolzit, s. Wolframbleierz.
Stoma (griech.), Mund, Mündung.
Stomachika (lat.), die Verdauung anregende Mittel, s. Digestivmittel.
Stomachus (lat.), der Magen.
Stomakace (griech.), Mundfäule, s. Mundkrankheiten.
Stomatitis (griech.), Entzündung der Mundschleimhaut, s. Mundkrankheiten.
Stomatoskop (griech.), Instrument zur Untersuchung des Mundes, besonders der Zähne, beruht auf einer Durchleuchtung derselben mittels galvanisch weißglühenden Drahts, der von einem Glasmantel umgeben ist, oder mittels des Drummondschen Kalklichts und soll die ersten Anfänge von Erkrankungen erkennbar machen; vgl. Beleuchtungsapparate.
Stone (engl., spr. stohn, "Stein"), Handelsgewicht, s. Avoirdupois.
Stone (spr. stohn), Stadt in Staffordshire (England), am Trent, mit Brauereien und (1881) 5669 Einw.
Stonehaven (spr. stóhn-hewen), Hauptstadt von Kincardineshire (Schottland), an der Mündung des Carron in die Nordsee, hat einen kleinen Hafen, Fischerei und (1881) 3957 Einw. Dabei das Schloß Dunnottar (s. d.).
Stonehenge (spr. stohn-hendsch, "hängender Stein"), eins der imposantesten vorgeschichtlichen Bauwerke bei Amesbury in der englischen Grafschaft Wilts auf der Heide von Salisbury. Der Bau bestand einstmals aus einem kreisrunden Säulengang von ca. 88 m im Durchmesser, welcher einen Kreis von einzeln stehenden mächtigen Steinen (Menhirs) umgab. Innerhalb dieses zweiten Kreises folgte ein eiförmiger Ring aus Trilithen (zwei aufrecht stehende Steine, welche eine Felsplatte tragen) und in diesem wiederum Menhirs in gleicher Anordnung. Dieser vierfache Ring von unbehauenen oder nur roh zugehauenen Granitblöcken war von einem Wassergraben umgeben. Ungefähr 30 m von dem äußern Ring entfernt ragt ein einzeln stehender Felsblock empor; am Horizont schließt ein andrer gewaltiger Ring von Felsblöcken dieses merkwürdige Bauwerk, welches die meisten Archäologen als ein von einer Nekropole umgebenes Heiligtum betrachten, ein.
Stonington, Hafenstadt im nordamerikan. Staat Connecticut, Grafschaft New London, am Long Island-Sound, hat Seebäder, Dampfschiffsverbindung mit New York und Boston und (1880) 1755 Einw.
Stonsdorf (Stohnsdorf), Dorf im preuß. Regierungsbezirk Liegnitz, Kreis Hirschberg, östlich von Warmbrunn, hat eine evang. Kirche, ein Schloß, Bierbrauerei, Likörfabrikation und (1885) 680 Einw.; dabei der Prudelberg, 470 m hoch, mit wunderbaren Felspartien.
Stonyhurst (spr. stóhni-hörrst), Jesuitenseminar und Schule in Lancashire (England), in einem Seitenthal des Ribble, 10 km nördlich von Blackburn, 1794 gegründet.
Stoof, altes Hohlmaß, besonders in den russischen Ostseeprovinzen, =1,275-1,530 Liter.
Stoos (Stoß), Luftkurort im schweizer. Kanton Schwyz, 1293 m ü. M., südöstlich von Brunnen, hoch über dem Vierwaldstätter See, unterhalb der Fronalp.
Stoósz, Bergstadt im ungar. Komitat Abauj-Torna, hat (1881) 1076 slowakische und deutsche Einwohner, Eisenwerke und Messerfabriken. 1 km entfernt liegt (622 m ü. M.) der klimatische Kurort S. mit Wasserheilanstalt u. eisenhaltigen Quellen.
Stopfbüchse (Stopfbuchse), Maschinenelement, welches eine Öffnung in einer Gefäßwand dampf-, luft- oder wasserdicht machen soll, wenn durch dieselbe eine bewegliche Stange, z. B. die Kolbenstange einer Dampfmaschine, hindurchgeht. Es hat in der Regel die nebenstehende Form; a ist die Gefäßwand mit dem Stopfbüchsenunterteil, b die Brille, welche durch Schrauben gegen erstere angedrückt werden kann. Der
Stopfbüchse.
350 Stopfen - Storch.
Raum c enthält das Dichtungsmaterial (Packung), aus Hanfzöpfen mit Talg oder einer mit Talkum gefüllten Baumwollschnur oder aus Asbest bestehend. Durch Anziehen der Schrauben wird die vollkommene Dichtigkeit hergestellt. Die vielfach gemachten Versuche, die bisher gebräuchlichen, oft zu erneuernden Packungsmaterialien durch eine dauerhaftere Metallliderung, wie bei den Kolbendichtungen, zu ersetzen, haben bisher noch zu keinem brauchbaren Resultat geführt.
Stopfen, eine Nadelarbeit, durch welche die fehlenden oder zerrissenen Fäden einer Strickarbeit oder eines Gewebes ersetzt werden. Man bedient sich beim S. einer Strickarbeit desselben Materials, aus dem das beschädigte Stück hergestellt ist. Zum S. eines Kleiderstoffs nimmt man am besten ausgezogene Fäden eines neuen Stücks desselben Stoffes. Bei leinenen Geweben verwendet man Glanzgarn, bei baumwollenen Stopfgarn (Twist). Die Stopffäden dürfen nur lose gedreht sein, damit sie gut füllen. Die Stopfnadeln sind lang, vom Anfang bis zum Ende fast gleich stark, haben ovales Öhr und stumpfe Spitze. Da die Stopfe möglichst genau das Gewebe nachahmen soll, gibt es verschiedene Stopfstiche (Leinen-, Köper-, Damast-, Tüll-, Strickstopfstiche etc.). Die Gewebestopfen unterscheiden sich durch die zur Herstellung des Musters verschiedene Anzahl der aufgenommenen Fäden. Die Strickstopfe bildet Maschen, die Tüllstopfe ahmt die eigentümliche, aber gleichmäßige Art des Gewebes nach. Zur Herstellung einer Gewebestopfe zieht man zuerst die parallel nebeneinander liegenden Kettenfäden ein und danach die quer durchlaufenden Einschlagfäden, mit welchen man das Muster bildet. Beide müssen so weit durch den Stoff gezogen werden, wie derselbe schadhaft ist. Alle Gewebestopfen werden auf der linken Seite ausgeführt. Zum S. einer Strickerei verwendet man außer der Maschen- auch die Gitterstopfe, welche vollkommen der Leinwandstopfe gleicht. Die Fäden des Tülls laufen in drei Richtungen. Man zieht zuerst die schrägen, sich kreuzenden Fäden ein und dann die wagerechten, welche die andern befestigen.
Stopfer, s. Steckling.
Stoppelrübe, s. Raps.
Stoppelschwamm, Pilz, s. v. w. Hydnum repandum.
Stoppine (ital.), ein früher zur Entzündung von Geschützladungen dienendes Ende Zündschnur in Papierhülse, auch die Zündschnur selbst.
Stor (schwed.), in zusammengesetzten Ortsnamen vorkommend, bedeutet "groß".
Stör (Acipenser L.), Gattung aus der Ordnung der Schmelzschupper und der Familie der Störe (Acipenserini), Fische mit gestrecktem, mit fünf Reihen großer, gekielter Knochenschilder bedecktem Körper, gestreckter, unbeweglicher Schnauze, unten mit vier Barteln und unterständigem, weit nach hinten gerücktem, kleinem, zahnlosem Maul. Der Kopf ist von Knochenplatten dicht und vollständig eingehüllt, und über dem Kiemendeckel befindet sich jederseits ein Spritzloch. Die nicht mit Knochen belegten Hautstellen sind durch kleinere oder größere Knochenkerne oder Knochenspitzen rauh. Die zwei Flossenpaare sowie die drei unpaarigen Flossen werden von gegliederten, biegsamen Knochenstrahlen gestützt, nur die beiden Brustflossen besitzen außerdem einen starken Knochen als ersten Flossenstrahl. Die kurze Rückenflosse steht dicht vor der Afterflosse, das nach aufwärts gebogene, den obern Lappen der großen Schwanzflosse bildende Schwanzende ist sensenförmig gekrümmt. Der gemeine Stör (A. Sturio L., s. Tafel "Fische II", Fig. 20), bis 6, meist nur 2 m lang, mit mäßig gestreckter Schnauze, einfachen Bartfäden, dicht aneinander gereihten, großen Seitenschildern und vorn und hinten niedrigen, in der Mitte hohen Rückenschildern, ist oberseits bräunlich, unterseits weiß, bewohnt den Atlantischen Ozean, die Nord- und Ostsee und das Mittelmeer, geht, um zu laichen, bis Mainz, Minden, Böhmen, Galizien und liefert viel Elbkaviar und Hausenblase. Der Sterlett (A. Ruthenus L.), 1 m lang, bis 12 kg schwer, mit langgestreckter, dünner Schnauze, ziemlich langen, nach innen gefransten Bartfäden, nach hinten an Höhe zunehmenden und in eine scharfe Spitze endigenden Rückenschildern, ist oberseits dunkelgrau, unterseits heller, bewohnt das Kaspische und Schwarze Meer und steigt in der Donau bis Ulm empor; er liefert Kaviar und Hausenblase. Der Scherg (Sternhausen, Sewruga, A. stellatus Pall.), 2 m lang, bis 25 kg schwer, mit sehr langer, schwertförmiger, spitzer Schnauze, einfachen Bartfäden, voneinander getrennten Seiten- und nach hinten an Höhe zunehmenden, in eine Spitze endigenden Rückenschildern, ist auf dem Rücken rötlichbraun, oft blauschwarz, an den Seiten und am Bauch weiß, bewohnt das Schwarze und Kaspische Meer und liefert Kaviar und Hausenblase. Der Osseter (Esther, Waxdick, A. Gueldenstaedtii Brandt), 2-4 m lang, mit kurzer, stumpfer Schnauze, einfachen Bartfäden u. sternförmigen Knochenplättchen, ist dem S. ähnlich gefärbt, bewohnt die Flußgebiete des Schwarzen und Kaspischen Meers, gelangt bisweilen nach Bayern, liefert Kaviar und Hausenblase. Der Hausen (A. Huso L.), bis 8 m lang und 1600 kg schwer, mit kurzer Schnauze, platten Bartfäden, vorn und hinten niedrigen, in der Mitte höhern Rückenschildern und kleinen, voneinander getrennt stehenden Seitenschildern, ist oberseits dunkelgrau, unterseits schmutzig weiß, bewohnt das Schwarze Meer und liefert die größte Menge des russischen Kaviars, auch Hausenblase. Die Störe leben am Grunde der Gewässer und bewegen sich in Sand oder Schlamm halb eingebettet langsam fort, mit der Schnauze Nahrung suchend. Diese besteht aus Würmern, Weichtieren und Fischen, welch letztere sie jagend verfolgen. Sie wandern in Gesellschaften von März bis Mai, legen ihre zahlreichen Eier am Grunde der Flüsse ab und kehren bald ins Meer zurück, während die Jungen lange, vielleicht zwei Jahre, in den Flüssen verweilen. Im Spätherbst gehen sie wieder in die Flüsse, um, mit den Köpfen in den Schlamm vergraben, Winterschlaf zu halten. Durch die rücksichtslose Verfolgung hat die Zahl der Störe stark abgenommen. Die großartigsten Fischereien befinden sich in den Strömen, welche ins Schwarze und Kaspische Meer münden, an den Mündungen der Wolga, des Dnjestr, Dnjepr, der Donau und in der Meerenge von Jenikale oder Kaffa. Das Fleisch aller Störe ist wohlschmeckend und kommt frisch, gesalzen und geräuchert in den Handel. Es wurde schon von den Alten hochgeschätzt, und in England und Frankreich gehörte es zu den Vorrechten der Herrscher, Störe für den eignen Bedarf zurückzuhalten.
Stör, Fluß in der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, entspringt südwestlich von Neumünster, ist 75 km lang (40 km schiffbar) und mündet rechts unterhalb Glückstadt bei Störort in die Elbe.
Storax, Storaxbalsam, s. Styrax.
Storaxbaum, Pflanzengattung, s. v. w. Styrax; amerikanischer S., s. Liquidambar.
Storch (Ciconia L.), Gattung aus der Ordnung der Reiher- oder Storchvögel und der Familie der Störche (Ciconiidae) , verhältnismäßig plump ge-
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Storch - Storchschnabel.
baute Tiere mit langem, kegelförmigem, geradem, an den scharfen Schneiden stark eingezogenem Schnabel, hohen, weit über die Fersengelenke hinauf unbefiederten Beinen, unten breiten Zehen, deren äußere und mittlere bis zum ersten Gelenk durch eine Spannhaut verbunden sind, stumpfen, glatten Krallen, langen, breiten, ziemlich stumpfen Flügeln, in welchen die dritte und vierte Schwinge am längsten sind, kurzem, abgerundetem Schwanz und oft nackten Stellen an Kopf und Hals. Sie sind über alle Erdteile verbreitet, am häufigsten in den heißen; sie bevorzugen ebene, wasserreiche, waldige Gegenden, ruhen nachts und nisten auf Bäumen, einzelne aber mit Vorliebe auf Gebäuden. Sie fliegen sehr schön, gehen schreitend, waten gern im Wasser, schwimmen aber nur im Notfall; ihre Stimme besteht nur in Zischen, dafür klappern sie mit dem Schnabel besonders in der Erregung sehr laut. Sie leben gesellig, manche als halbe Haustiere, ohne indes jemals ihre Selbständigkeit aufzugeben. Sie stellen allen Tieren nach, welche sie bewältigen können, und sind sehr raubgierig; einzelne fressen auch Aas. Der weiße S. (Adebar, Ebeher, Honoter, Haus-, Klapperstorch, C. alba L.), 110 cm lang, 225 cm breit, ist weiß mit Ausnahme der schwarzen Schwingen und längsten Deckfedern; die Augen sind braun, der kahle Fleck um dieselben grauschwarz, Schnabel und Füße sind rot. Er bewohnt Europa mit Ausnahme des höchsten Nordens, auch Vorderasien, Persien, Japan, die Atlasländer und die Kanaren, ist aber höchst selten in England, in fast ganz Griechenland seit dem Unabhängigkeitskrieg ausgerottet; häufig findet er sich in Norddeutschland und Westfalen; im Gebirge ist er unbekannt. Im Winter durchschweift er ganz Afrika und Indien. In Norddeutschland erscheint er etwa Mitte März und weilt bis Mitte August. Er baut sein Nest aus groben Reisern auf starken Bäumen, am liebsten auf den Dächern der Häuser in Städten und Dörfern, und das wiederkehrende Paar bezieht stets das alte Nest wieder. Er nährt sich von Fröschen, Schlangen, Eidechsen, nackten Schnecken, Fischen, Regenwürmern, Mäusen, Maulwürfen, jungen Hasen, mancherlei Insekten (Bienen!), plündert aber auch die Nester aller Bodenbrüter, verschlingt die Eier und die Jungen und zeigt bisweilen große Mordlust. Die unverdaulichen Bestandteile seiner Nahrung speit er in Gewöllen aus. Der angeschossene S. kann Menschen und Hunden gefährlich werden. Die Ehe des Storchenpaars wird im allgemeinen für das ganze Leben geschlossen, doch hat man mehrfach Fälle von Untreue beobachtet. Das einmal begründete Nest wird von demselben Paar lange Jahre benutzt, aber jährlich ausgebessert. Mitte oder Ende April legt das Weibchen 2-5 weiße Eier und brütet sie in 28-31 Tagen aus. Vor dem Abzug versammeln sich alle Störche einer Gegend, und unter großem Geklapper bricht endlich das ganze Heer auf. Man kann die Jungen leicht zähmen, so daß sie auf dem Hof unter dem andern Geflügel herumlaufen. Der schwarze S. (C. nigra Bechst.), 105 cm lang, 198 cm breit, ist schwärzlich, mit grünem und Purpurschiller, an Brust und Bauch weiß; das Auge ist braun, Schnabel und Fuß rot. Er bewohnt Mittel- und Südeuropa, viele Länder Asiens, im Winter Afrika, brütet in ruhigen Waldungen der norddeutschen Ebene, weilt bei uns von Ende März bis August, hat die Lebensweise des Hausstorchs, ist aber viel scheuer und wird oft der Fischerei schädlich. Bei uns brütet er einzeln, in Ungarn aber bildet er Siedelungen, in welchen 20 und mehr Nester in kurzen Entfernungen voneinander stehen. Das Weibchen legt 2-5 Eier und brütet dieselben in vier Wochen aus. Der S. ist allenthalben ein gern gesehener Gast, der mitunter selbst abergläubische Achtung genießt, indem sein Nest das Haus gegen Blitz und Feuersgefahr schützen soll. Auch bei den mohammedanischen Völkern wird er sehr respektiert, weil er zur Verminderung schädlicher Reptilien viel beiträgt. In der Mythologie repräsentiert der S. die regnerische winterliche Jahreszeit. Aus der Wolke oder dem Winter kommt die junge Sonne, das Heldenkind, heraus, daher der deutsche Kinderglaube, daß die Störche die Kinder aus dem Wasser bringen.
Storch, Ludwig, Schriftsteller, geb. 14. April 1803 zu Ruhla bei Eisenach, studierte in Göttingen und Leipzig Theologie, wandte sich jedoch, von Not und Beruf getrieben, früh der schriftstellerischen Laufbahn zu, welche sich äußerlich zu einer vielbewegten gestaltete und ihm den Segen einer ruhigen Existenz und eines festen Aufenthalts nicht zu gewähren vermochte. Am längsten hielt es ihn in Leipzig und Gotha. Seit 1866 lebte er zu Kreuzwertheim in Franken, wo er 5. Febr. 1881 starb. Storchs Talent ist ein begrenztes; doch erfreuen seine "Erzählungen und Novellen" (Leipz. 1853-62, 31 Bde.), wenn sie auch des tiefern poetischen Gehalts ermangeln, ebenso wie seine "Gedichte" (das. 1854) als der Ausdruck eines patriotisch und freisinnig gestimmten Geistes und eines warm empfindenden Gemüts. Die beliebtesten unter den erzählenden Schriften waren: "Der Freiknecht" (Leipz. 1829, 3 Bde.); "Die Freibeuter" (das. 1832, 3 Bde.); "Der Jakobsstern" (Frankf. 1836 bis 1838, 4 Bde.); "Die Heideschenke" (Bunzl. 1837, 3 Bde.); "Max von Eigl" (Leipz. 1844, 3 Bde.); "Ein deutscher Leinweber" (das. 1846-50, 9 Bde.) und "Leute von gestern" (das. 1852, 3 Bde.). Seinen "Poetischen Nachlaß" gab Alex. Ziegler (Eisenach 1882) heraus.
Storchnest, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Posen, Kreis Lissa, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Demeritenhaus (Disziplinarstrafanstalt für Geistliche) und (1885) 1693 Einw.
Storchschnabel, Pflanzengattung, s. Geranium.
Storchschnabel (Pantograph, früher auch Affe), ein zuerst von Christ. Scheiner 1635 in seiner "Pantographia seu ars delineandires quaslibet" beschriebenes Instrument zur Übertragung von Zeichnungen in verkleinertem oder vergrößertem Maßstab. Die jetzt üblichste Einrichtung zeigt die beistehende Figur. AB, BC, CD, DA sind vier Lineale, die in den Punkten A, B, C, D drehbar miteinander verbunden sind. Eine Ecke C, auf dem Zeichentisch befestigt, bildet den Drehpunkt (Pivot), die diagonal gegenüberliegende Ecke A trägt den Fahrstift, welcher mittels einer Handhabe auf der zu reduzierenden Zeichnung geführt wird. D und B sind mit Kugeln oder Rollen versehen. Eine fünfte, parallel AD verstellbare Leitschiene trägt den Zeichenstift G, welcher mit AG in gerader Linie liegt. Er wird so eingestellt, daß der Abstand GC zu CA sich verhält wie der Maßstab der reduzierten Zeichnung zur Originalzeichnung. Soll eine Zeichnung vergrößert werden, so wird G der Fahrstift und A der Zeichenstift. Die Schienen erhalten eine einfache Teilung mit Nonien oder eine transversale Teilung. Bei den schweben-
352
Storchschnabelgewächse - Störungen.
den Pantographen fällt die Schiene AD fort, das Instrument hängt mittels Drähte an einem kranenartigen Gestell, so daß nur der Fahrstift auf der Zeichnung ruht. Das Instrument ist mit einer Libelle, das Gestell mit Dosenniveau versehen.
Storchschnabelgewächse, s. Geraniaceen.
Storchvögel (Reihervögel), s. v. w. Watvögel.
Storck, Wilhelm, Romanist und Übersetzer, geb. 5. Juli 1829 zu Letmathe in Westfalen, studierte von 1850 an in München, Münster und Bonn, später noch in Berlin Philologie und wurde 1859 außerordentlicher, 1868 ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Litteratur an der Akademie zu Münster, wo er außer seiner Fachwissenschaft zeitweise auch Sanskrit sowie Provencalisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch lehrt. Litterarisch hat er sich namentlich als Übersetzer verdienten Ruf erworben. Seinem Werk "Lose Ranken. Ein Büchlein Catullischer Lieder" (Münst. 1867) und dem "Buch der Lieder aus der Minnezeit" (das. 1872) folgten als sein Hauptwerk "Luis de Camoens' sämtliche Gedichte. Zum erstenmal deutsch" (Paderb. 1880-85, 6 Bde.), denen sich "Hundert altportugiesische Lieder" (das. 1885) und "Ausgewählte Sonette von Anthero de Quental" (das. 1887) anschlossen. S. hat auch Ausgaben der Gedichte von L. Ponce de Leon (Münst. 1853), Juan de la Cruz und Teresa de Jesus (das. 1854) sowie des Minnesängers von Sahsendorf (das. 1868) besorgt.
Store (franz., spr. stör), s. v. w. Rouleau (s. d.).
Store (engl., spr. stohr), Vorrat, Lager.
Storfjord (auch Wijbe Jans Water), Meerbusen im südlichen Teil von Spitzbergen, zwischen der Hauptinsel einerseits, Barentsinsel und Edgeinsel anderseits. Zwischen den Inseln führen die Walter Thymen-Straße und der Helissund nach O. Im SO. liegen die Tausend Inseln.
Störkanal, s. Elde.
Storkow, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Beeskow-S., am Dolgensee und am Storkower Kanal, der, 28 km lang, aus dem Scharmützelsee in die Dahme führt, hat eine evang. Kirche, ein Amtsgericht, eine Dampfmahl- und Ölmühle, Tabaksfabrikation und (1885) 2025 Einw. Die Herrschaft S. kam 1555 durch Kauf an Brandenburg.
Storm, Theodor Woldsen, Dichter und Novellist, geb. 14. Sept. 1817 zu Husum in Schleswig, studierte Rechtswissenschaft zu Kiel und Berlin, wo er mit dem Brüderpaar Theodor und Tycho Mommsen in nähere Verbindung trat, und ließ sich nach abgelegter Staatsprüfung 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt nieder, verlor aber 1853 als Deutschgesinnter sein Amt und ward hierauf erst als Gerichtsassessor zu Potsdam, dann als Landrichter zu Heiligenstadt angestellt. Nach der Befreiung Schleswig-Holsteins ging er 1864 nach Husum zurück, wo er zunächst zum Landvogt, 1867 zum Amtsrichter und 1874 zum Oberamtsrichter befördert wurde. Seit 1880 als Amtsgerichtsrat quiesziert, siedelte er nach dem Kirchdorf Hademarschen über, wo er 3. Juli 1888 starb. S. nimmt unter den Lyrikern, besonders aber unter den Novellisten der Gegenwart einen vordersten Rang ein. Als ersterer führte er sich mit dem im Verein mit den beiden Mommsen herausgegebenen "Liederbuch dreier Freunde" (Kiel 1843) in die Litteratur ein; "Sommergeschichten und Lieder" (Berl. 1851) und ein Band "Gedichte" (das. 1852, 8. Aufl. 1888) folgten nach. Besonders letztere brachten ihm stets wachsende Anerkennung ein. Der Dichter S. erweist sich als eine tiefsinnige, dabei frische und warmblutige Natur, welche den tausendmal besungenen uralten Themen der Lyrik den Stempel des eigensten Empfindens und Genießens aufdrückt. Reicher und mannigfaltiger noch sind seine Gaben auf dem Gebiet der Novellistik. Nachdem er 1852 mit der vielgelesenen, poetisch duftigen Novelle "Immensee" (31. Aufl., Berl. 1888) aufs glücklichste debütiert, ließ er zahlreiche andre Erzählungen und Novellen erscheinen, die sämtlich Stimmungsbilder von einer Tiefe, Zartheit und Kraft der Empfindung sind, wie sie nur eine ursprüngliche und echte Dichternatur schaffen kann. Der Kreis des Lebens, den er darzustellen liebt, ist eng, aber innerhalb dieses engen Kreises waltet Lebensfülle und Lebensglut; der norddeutsche Menschenschlag mit seiner Eigenart, seinem tiefinnerlichen Phantasie- und Gemütsreichtum findet sich in Storms Geschichten in einer fast unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Charaktere geschildert. Dabei ist seine Vor-tragsweise künstlerisch fein und durchgebildet. Die Titel seiner meist vielfach aufgelegten Novellen sind: "Im Sonnenschein", drei Erzählungen (Berl. 1854); "Ein grünes Blatt", zwei Erzählungen (das. 1855); "Hinzelmeier" (das. 1856); "In der Sommermondnacht" (das. 1860); "Drei Novellen" (das. 1861); "Lenore" (das. 1865); "Zwei Weihnachtsidyllen" (das. 1865); "Drei Märchen" (Hamb. 1866; 3. vermehrte Aufl. u. d. T.: "Geschichten aus der Tonne", 1888); "Von jenseit des Meers" (Schlesw. 1867); "Zerstreute Kapitel" (Berl. 1873); "Novellen und Gedenkblätter" (Braunschw. 1874); "Waldwinkel etc." (das. 1875); "Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links" (das. 1877); "Aquis submersus" (Berl. 1877); "Carsten Curator" (das. 1878); "Neue Novellen" (das. 1878); "Drei neue Novellen" ("Eekenhof" etc., das. 1880); "Die Söhne des Senators" (das. 1881); "Der Herr Etatsrat" (das. 1881); "Schweigen" und "Hans und Heinz Kirch" (das. 1883); "Zur Chronik von Grieshuus" (das. 1884); "Ein Bekenntnis" (das. 1887); "Der Schimmelreiter" (das. 1888) etc. Außerdem besitzen wir von S. eine wertvolle kritische Anthologie: "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius" (4. Aufl., Braunschw. 1877). Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien in 18 Bänden (Braunschw. 1868-88). Vgl. Erich Schmidt, Theodor S. (in "Charakteristiken", Berl. 1886), und die Biographien von Schütze (das. 1887) und Wehl (Altona 1888).
Stormarn, Landschaft im südlichen Teil der preuß. Provinz Schleswig-Holstein, bildet ein Dreieck, welches im N. durch die Stör von dem eigentlichen Holstein, im O. durch die Trave von Wagrien und durch die Bille von Sachsen-Lauenburg, im SW. durch die Elbe von Hannover geschieden wird. Sie war mit Holstein stets denselben Fürsten unterthan. Ein Teil derselben bildet jetzt den Kreis S. mit Wandsbeck als Kreisstadt.
Storno (Ritorno), s. v. w. Ristorno (s. d.).
Stornoway (spr. stórno-ue), Hafenstadt auf der Ostküste der Hebrideninsel Lewis, mit großartigem Fischereibetrieb (Kabeljau, Heringe und Leng) und (1881) 2627 Einw. Zu seinem Hafengebiet gehören (1887) 695 Fischerboote. S. ist Sitz eines deutschen Konsuls.
Storozynetz, Hauptort einer Bezirkshauptmannschaft in der Bukowina, am Sereth, mit Bezirksgericht und (1880) 4852 Einw.
Storthing, die reichsständige Versammlung von Norwegen (s. d., S. 250).
Störungen (Perturbationen), in der Astronomie die durch die Anziehung der übrigen Körper des Sonnensystems bewirkten Änderungen in der Bewegung der Planeten und Kometen um die Sonne
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Story - Stosch.
sowie der Monde um ihre Hauptplaneten. Gehörte nur ein einziger Planet zur Sonne, so würde sich dieser genau nach den beiden ersten Keplerschen Gesetzen (s. Planeten, S. 109) bewegen. Durch die Anziehung der Massen der übrigen Planeten wird aber der Planet gezwungen, von dieser Bewegung abzuweichen. Ein Teil dieser Abweichungen wiederholt sich nach Verlauf eines gewissen Zeitraums sowohl der Art als der Größe nach, es sind dies die periodischen S.; andre, die säkularen S., gehen immer in derselben Richtung weiter und veranlassen also dauernde Änderungen der Planetenbahnen. Laplace hat gezeigt, daß die großen Achsen der Planetenbahnen und daher auch die Umlaufszeiten keinen säkularen S. unterworfen sind; auch die Exzentrizitäten und Neigungen der Bahnen unterliegen nicht eigentlichen säkularen, aber doch periodischen S. von so langer Dauer, daß sie den Charakter säkularer haben. Dagegen sind die Längen der Perihelien und der Knoten säkularen S. unterworfen und können daher im Lauf der Jahrtausende alle Werte von 0-360° annehmen. Die S. der großen Planeten sind von Leverrier untersucht worden, der auch durch eine umgekehrte Störungsrechnung den Planeten Neptun entdeckte. Weit beträchtlicher als die S., welche die großen Planeten erleiden, die ziemlich weit voneinander entfernt sind und sich nahezu in derselben Ebene bewegen, sind diejenigen, welche die kleinen Planeten und die Kometen erfahren, weil sie nicht selten in die Nähe größerer Planeten, namentlich des Jupiter, kommen. Die S. des Mondes rühren fast ausschließlich von der Sonne her, die von den Planeten verursachten sind sehr unbedeutend. Die bemerkenswertesten S. des Mondes sind: die von Ptolemäos (130 n. Chr.) entdeckte Evektion (s. d.), die Variation, von Abul Wefa im 10. Jahrh. und später von Tycho Brahe entdeckt, welche ihren größten Wert, 0,65° Länge, in den vier Oktanten, d. h. den zwischen den Syzygien und Quadraturen in der Mitte liegenden Punkten, erreicht, in letztern aber verschwindet, und die jährliche Gleichung, welche die Länge des Mondes 6 Monate lang vermehrt und 6 Monate lang vermindert, in der mittlern Entfernung der Erde von der Sonne (Anfang April und Oktober) aber verschwindet. Bemerkenswert sind noch ein paar kleine S. des Mondes, die von der Sonnenparallaxe und der Abplattung der Erde abhängen, so daß man umgekehrt aus der Mondbewegung diese Größen berechnen kann (vgl. Erde und Sonne). Vgl. Dziobek, Die mathematischen Theorien der Planetenbewegungen (Leipz. 1888).
Story, 1) Joseph, nordamerikan. Staatsmann und Rechtsgelehrter, geb. 18. Sept. 1779 zu Marblehead bei Boston, ward als Advokat in seiner Vaterstadt 1805 in das Unterhaus von Massachusetts gewählt, 1811 zum Richter an dem alljährlich sich in Washington zur Kongreßzeit versammelnden Bundesgerichtshof berufen und 1829 zum Professor der Rechte an der Harvard-Universität zu Cambridge bei Boston ernannt. Als solcher hatte er über Naturrecht, Völkerrecht, See- und Handelsrecht, Billigkeitsrecht und Staatsrecht der Vereinigten Staaten zu lesen und verfaßte über fast alle diese Disziplinen Lehrbücher, die auch in England für klassisch gelten. Das für Deutschland bedeutendste unter diesen Werken sind die "Commentaries on the constitution of the United States" (4. Aufl., Bost. 1873, 2 Bde.; deutsch im Auszug, Leipz. 1838). Nach diesen sind hervorzuheben seine "Miscellaneous writings, literary, critical. juridical and political" (Bost. 1835). S. starb 10. Sept. 1845 in Cambridge. Vgl. W. Story, Life and letters ofJ. S. (Lond. 1851).
2) William Wetmore, nordamerikan. Bildhauer und Dichter, Sohn des vorigen, geb. 19. Febr. 1819 zu Salem in Massachusetts, studierte Rechtswissenschaft und war eine Zeitlang als praktischer Jurist thätig, wandte sich dann aber ausschließlich der Kunst und Litteratur zu und ließ sich 1848 in Rom nieder, wo er noch lebt. S. schuf teils Idealgestalten, welche sich durch Größe der Auffassung, geistige Vertiefung und meisterhafte Marmorbearbeitung auszeichnen, wie z. B. Kleopatra, Sappho, Judith, Medea, eine Sibylle, Moses, Saul, teils Porträtstatuen, wie z. B. die seines Vaters, Peabodys (London), E. Everetts (Boston) und das Nationaldenkmal in Philadelphia. Von seinen poetischen Werken nennen wir: "Nature and art" (1844); "Poems" (1847; neue Ausg. 1885, 2 Bde.); "A Roman lawyer in Jerusalem" (1870, Versuch einer Rettung des Verräters Judas); die "Tragedy of Nero" (1875); die Dichtungen: "Ginevra da Siena" (1866, in "Blackwood's Magazine"), "Vallombrosa" (1881), "He and she, or a poet's portfolio" (1883, 8. Aufl. 1886) und "Fiammetta, a summer idyl" (1885). Außer der Biographie seines Vaters (s. S. 1) schrieb er noch: "Roba di Roma, or walks and talks about Rome" (Lond. l862, 7. Aufl. 1875), wozu 1877 eine Fortsetzung unter dem Titel : "Castel St. Angelo" erschien; "Proportions of human figure; the new canon" (1866); "Graffiti d'Italia" (1869, 2. Aufl. 1875) u. a.
Stosch, 1) Philipp, Baron von, Kunstkenner, geb. 22. März 1691 zu Küstrin, widmete sich theologischen und humanistischen Studien und suchte dann auf Reisen seine Kenntnis der alten Kunstdenkmäler auszubilden. Später lebte er als englischer Agent in Rom und seit 1731 in Florenz, wo er 7. Nov. 1757 starb. Er hinterließ einen reichen Schatz von Kunstsachen aller Art, Landkarten, Kupferstichen, Zeichnungen (324 Folianten, jetzt in der kaiserlichen Bibliothek zu Wien), Bronzen, Münzen, besonders aber geschnittenen Steinen, deren Katalog Winckelmann ("Description des pierres gravées du feu baron de S.", Flor. 1760) herausgab. Friedrich II. kaufte 1770 die Hauptsammlung, mit Ausnahme der etrurischen Gemmen, die nach Neapel verkauft waren, der Prinz von Wales die Sammlung von Abgüssen neuerer Münzen. Eine Auswahl von Gemmen aus dem Stoschschen Kabinett, das Merkwürdigste der alten Mythologie zusammenfassend, findet sich in Schlichtegrolls "Dactyliotheca Stoschiana" (Nürnb. 1797-1805, 2 Bde.) erläutert. Vgl. Justi, Briefe des Barons Phil. v. S. (Marb. 1872).
2) Albrecht von, Chef der deutschen Admiralität, geb. 20. April 1818 zu Koblenz, erhielt seine Erziehung im Kadettenkorps und trat 1835 als Sekondeleutnant in das 29. Infanterieregiment, ward 1856 Major im Großen Generalstab, 1861 Chef des Generalstabs des 4. Armeekorps und Oberst, 1866 Generalmajor. Im Kriege gegen Österreich war er Oberquartiermeister der zweiten Armee, vom Dezember 1866 bis 1870 Direktor des Militärökonomiedepartements im Kriegsministerium, ward 1870 Generalleutnant, erhielt im Krieg 1870/71 den schwierigen Posten eines Generalintendanten der deutschen Heere und erwarb sich auf demselben durch seine musterhafte Leitung des Verpflegungswesens die allergrößten Verdienste. Im Dezember 1870 ward er zum Generalstabschef des Großherzogs von Mecklenburg und nach dem Friedensschluß zum Generalstabschef bei der in Frankreich bleibenden Okkupationsarmee
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Stoß - Stösser.
ernannt. Am 1. Jan. 1872 ward er Chef der deutschen Admiralität und Staatsminister sowie Mitglied des Bundesrats und 1875 zum General der Infanterie und Admiral befördert. S. entwickelte eine große Energie und Thatkraft, indem er wissenschaftliche Institute (Seewarte, hydrographisches Büreau und Marineakademie) schuf, die deutsche Kriegsflotte beträchtlich vergrößerte, den Bau der Schiffe auf einheimischen Werften ermöglichte und die straffe Disziplin der preußischen Landarmee auf die Marine übertrug. Das letztere Bestreben stieß allerdings vielfach auf Widerstand seitens der ältern Seeoffiziere. Auch für das Unglück des Großen Kurfürsten wurde S. verantwortlich gemacht, zumal er den Admiral Batsch (s. d.) eifrig in Schutz nahm. Er erhielt 20. März 1883 auf sein Gesuch den Abschied und lebt in Östrich am Rhein.
Stoß , das Zusammentreffen eines in Bewegung befindlichen Körpers mit einem andern ebenfalls in Bewegung oder in Ruhe befindlichen Körper. In Beziehung auf die Richtung, in welcher beide Körper zusammentreffen, macht man folgende Unterschiede. Man nennt den S. zentral, wenn die Richtung, in welcher er erfolgt, mit der Verbindungslinie der Schwerpunkte beider Körper zusammenfällt; ist diese Bedingung nicht erfüllt, so nennt man ihn exzentrisch. Ferner nennt man den S. gerade, wenn die Richtung, in welcher er erfolgt, auf der Berührungsfläche beider Körper senkrecht steht; ist dies nicht der Fall, so nennt man ihn schief. Treffen zwei Massen (m und m'), die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten (v und v') in derselben Richtung fortbewegen, in geradem, zentralem S. zusammen, so üben sie, während sie sich berühren, einen Druck aufeinander aus, infolge dessen die Geschwindigkeit des vorangehenden vermehrt, die des nachfolgenden vermindert wird. Da dieser Druck auf beide Massen während derselben Zeit wirkt, so müssen sich die hervorgebrachten Geschwindigkeitsveränderungen umgekehrt verhalten wie die Massen. Sind also c und c' die Geschwindigkeiten der Körper nach dem S., so verhält sich $c-v:v'-c'=m':m$, woraus folgt, daß $mc+m'c'=mv+m'v'$. Das Produkt einer Masse mit ihrer Geschwindigkeit nennt man ihre "Bewegungsgröße"; die vorstehende Gleichung drückt also aus, daß die Summe der Bewegungsgrößen vor und nach dem S. die nämliche ist. Sind die beiden Körper unelastisch, so gehen sie, nachdem jeder eine Abplattung erfahren hat, vereinigt mit gemeinschaftlicher Geschwindigkeit weiter, d. h. es ist $c'=c$ und folglich $(m+m')c=mv+m'v'$. Die gemeinsame Geschwindigkeit nach dem S. ($c$) ergibt sich demnach, wenn man die Summe der Bewegungsgrößen durch die Summe der Massen dividiert. Bewegen sich die Körper in entgegengesetzter Richtung, so ist die Geschwindigkeit des einen negativ zu rechnen. Mit dem S. unelastischer Körper ist ein Verlust an lebendiger Kraft verbunden, welcher für die Zusammendrückung der Körper, Erzeugung von Wärme, Schall etc. verbraucht wird. Sind die Körper dagegen vollkommen elastisch, so gleicht sich die Formänderung sofort wieder aus, indem jeder Körper seine ursprüngliche Gestalt wieder annimmt; ein Verlust an lebendiger Kraft findet also hier nicht statt, sondern die Summe der lebendigen Kräfte muß vor und nach dem S. die nämliche sein, d. h. es muß $mc^2+m'c'^2=mv^2+m'v'^2$ sein. Diese Bedingung, mit der obigen, daß die Summe der Bewegungsgrößen ungeändert bleibt, zusammengenommen, erlaubt auch in diesem Fall, die Endgeschwindigkeiten c und c' zu bestimmen. Sind z. B. die elastischen Massen einander gleich, so geht jede nach dem S. mit derjenigen Geschwindigkeit weiter, welche die andre vor dem S. besaß: sie vertauschen ihre Geschwindigkeiten. Eine ruhende Billardkugel z. B., welche von einer bewegten zentral getroffen wird, nimmt die Geschwindigkeit der letztern an, während diese an ihrer Stelle in Ruhe bleibt.
Stoß, in der Schweiz die Viehzahl, welche auf ein Kuhrecht gehalten werden kann (s. Alpenwirtschaft); in der Jägersprache der Schwanz des Auerhahns (s. Spiel, S. 142).
Stoß, 1) fahrbarer Paß der Appenzeller Alpen (997 m), führt von Altstätten (470 m) im St. Gallischen Rheinthal steil hinauf zur Paßhöhe und nun mit geringem Gefälle abwärts nach Gais (934 m). Hier 17. Juni 1405 Sieg der Appenzeller über Herzog Friedrich von Österreich. -
2) Luftkurort, s. Stoos.
Stoß, Veit, Bildhauer und -Schnitzer, geboren um 1438 oder 1440 zu Nürnberg, ging 1477 nach Krakau und war dort bis 1496 thätig. Er schuf daselbst von 1477 bis 1484 den Hochaltar für die Marienkirche, in dessen Mittelschrein Tod und Himmelfahrt der Maria in überlebensgroßen, vollrunden Figuren, auf dessen Flügeln Szenen aus dem Leben Christi und der Maria in Reliefs dargestellt sind. Nach dem Tode des Königs Kasimir IV. 1492 arbeitete S. dessen Grabmal aus rotem Marmor für die Kathedrale zu Krakau. Gleichzeitig entstand die in Marmor ausgeführte Grabplatte des Erzbischofs Zbigniew Olesnicki im Dom zu Gnesen und bald darauf der Altar des heil. Stanislaus für die Marienkirche zu Krakau. 1496 kehrte S. nach Nürnberg zurück, wo er ebenfalls eine sehr fruchtbare Thätigkeit in der Anfertigung von in Holz geschnitzten Altären, Gruppen und Einzelfiguren entfaltete, deren Umfang zur Zeit noch nicht festgestellt ist. Seine Hauptwerke sind: ein Relief mit der Krönung der Madonna im Germanischen Museum zu Nürnberg, eine Statue der Madonna in der Frauenkirche, der Englische Gruß in der Lorenzkirche (1518 von Anton Tucher gestiftet), vom Gewölbe des Chors herabhängend und die Figuren des Engels und der Maria in einem mit sieben Medaillons geschmückten Kranz darstellend (von einem der Medaillons die Figur der Maria auf Tafel "Bildhauerkunst VI", Fig. 3), die Meisterschöpfung des Künstlers, und die Rosenkranztafel im Germanischen Museum. In den Köpfen seiner Figuren spricht sich innige und zarte Empfindung aus; doch ist die Formengebung noch gebunden und der Faltenwurf von der krausen Manier des spätgotischen Stils beherrscht. S. war ein unruhiger Bürger, welcher dem Rat von Nürnberg viel Verdruß bereitete. Wegen Fälschung wurde er gebrandmarkt und beging Verrat an seiner Vaterstadt, den er mit Gefängnis büßen mußte. Er starb 1533. Vgl. Bergau, Der Bitdschnitzer Veit S. und seine Werke (Nürnb. 1884).
Stöße, die Wände der Stollen und Schächte.
Stößen, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Merseburg, Kreis Weißenfels, hat eine evang. Kirche, eine Zuckerfabrik und (1885) 1404 Einw.; nahebei Braunkohlengruben.
Stösser, Franz Ludwig von, bad. Staatsmann, geb. 21. Juni 1824 zu Heidelberg aus einer alten, aus Straßburg stammenden Beamtenfamilie, studierte in Heidelberg Rechts-, Staats- und Finanzwissenschaft und ward 1855 als Universitätsamtmann und Mitglied des Spruchkollegiums an der dortigen Universität angestellt. 1859 wurde er Amtsvorstand in Eppingen und 1862 in Konstanz, wo er als Mitbegründer des Volkswirtschaftlichen Vereins für die
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Stößer - Stoy.
Errichtung von Vorschußvereinen eifrig thätig war und zu den Führern der deutschen Partei gehörte. Nachdem er 1866-69 den Posten eines Stadtdirektors von Heidelberg bekleidet hatte, wurde er zum Rat im Ministerium des Innern und zum Landeskommissar für die Kreise Mosheim, Heidelberg und Mosbach befördert. Seit 1871 Mitglied der Zweiten Kammer, wurde er 1876 zum Präsidenten des Ministeriums des Innern an Jollys Stelle ernannt. Nachdem er das Gemeindesteuerwesen zum Abschluß gebracht hatte, legte er Anfang 1880 der Zweiten Kammer einen Gesetzentwurf über die Prüfungen der katholischen Geistlichen vor, der aber nicht den Beifall der liberalen Mehrheit der Kammer fand und erst in veränderter Gestalt angenommen wurde. Bei Gelegenheit der Vereinfachung der badischen Staatsverwaltung ward daher S. 20. April 1881 seines Ministerpostens enthoben u. zum Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts ernannt und mit der Leitung des evangelischen Oberkirchenrats beauftragt.
Stößer, f. v. w. Habicht.
Stoßfuge, beim Vermauern von Steinen die senkrechte Fuge im Gegensatz zur wagerechten Lagerfuge; bei Bogen die mit der Bogenlinie konzentrische Fuge. Vgl. Gewölbe, S. 311.
Stoßheber, s. Hydraulischer Widder.
Stoßherd, s. Aufbereitung, S. 53.
Stoßmafchine, f. Hobelmaschinen, S. 588, und Lochen.
Stoßvogel, s. v. w. Habicht.
Stoßwerk, s. v. w. Prägmaschine, s. Münzwesen, S. 895.
Stötteritz, Dorf in der sächs. Kreis- u. Amtshauptmannschaft Leipzig, südöstlich bei Leipzig, hat Eisengießerei und Maschinenfabrikation, Dampfbierbrauerei, Zigarrenfabrikation, Ziegelei u. (1885) 4980 Einw. In der Nähe die Irrenanstalt von Thonberg (s. d.).
Stottern und Stammeln, Bezeichnung der fehlerhaften Sprachweisen, regelwidrigen Lautbildungen und Lautverbindungen, welche nicht auf einem Mangel in dem anatomischen Bau der Sprachorgane, sondern lediglich auf mangelhafter Beherrschung derselben durch den Willen beruhen. Dieser Fehler ist namentlich bei jüngern Individuen sehr häufig. Er tritt zurück oder verschwindet, wenn das stotternde Individuum für sich allein spricht, wenn es singt, mit Pathos deklamiert etc. Sobald aber diese den Stotternden unbefangen machenden Einflüsse wegfallen, so tritt ein Mißverhältnis zwischen den Bewegungen ein, welche zur Lautbildung, und denjenigen, welche zur Ausatmung dienen. Der Stotternde verweilt nämlich bei seinen Sprechversuchen unwillkürlich auf der jeweiligen Artikulation der Sprachorgane zu lange und vermag den Vokal nicht unmittelbar anzufügen, so daß der exspiratorische Fluß der Sprache durch die zur Lautbildung erforderlichen Muskelaktionen nicht momentan, wie im normalen Sprechen, sondern anhaltend unterbrochen wird. Merkel bezeichnet daher das Stottern einfach als einen Sprachfunktionsfehler, der darin besteht, daß die Muskelkontraktionen, die wir zum Zweck der Lautbitdung vornehmen, nicht von den Ausatmungsbewegungen überwunden werden können, wie es eigentlich geschehen sollte. Das Mißverhältnis beruht wahrscheinlich zum großen Teil auf einem angebornen Moment, welches wir nicht näher kennen, zum Teil aber sicher auch in einer falschen Erziehung und Gewöhnung der für die Sprache thätigen Muskelgruppen. Die Beseitigung des Stotterns erfordert immer längere Zeit und Geduld, zumal wenn das Übel schon lange gedauert hat und der Stotternde über die erste Jugend hinaus ist. Der Stotternde muß tief einatmen, mit voller Lunge und mit enger Stimmritze ausatmen lernen; die gewaltsame Aktion der lautbildenden Organe muß mechanisch verhindert und der Fluß der Rede durch rhythmische Hilfsmittel herbeigeführt und erhalten werden. Zu diesem Zweck müssen besondere sprachgymnastische Übungen unter der Leitung eines mit der Natur des Stotterns vertrauten Lehrers angestellt werden. Abgesehen von dem eigentlichen Stottern, gibt es auch noch eine Unfähigkeit, gewisse Sprachlaute zu bilden; diesen Sprachfehler pflegt man als Stammeln zu bezeichnen. Die Fehler, welche man hierzu rechnen muß, sind fast so zahlreich, als es verschiedene Buchstaben gibt. Bemerkenswert ist ein Stammeln, welches in fehlerhafter Verbindung von Silben und Wörtern besteht und bei Kindern, namentlich bei Mädchen von 9-10 Jahren, öfter als Symptom des Veitstanzes vorkommt. Gebildetere Personen, welche in der Jugend an einem solchen Fehler litten, lernen zuweilen allmählich den Fluß der Rede dadurch herstellen, daß sie beliebige fremdartige Töne, Silben oder selbst Wörter (in welchen besonders der Laut ng und gn vorwaltet) stellenweise ihrer Rede beimischen und damit die Pausen und Unterbrechungen ausfüllen, welche sonst entstehen würden. Vgl. Merkel, Anthropophonik (Leipz. 1856); Kußmaul, Die Störungen der Sprache (2. Aust., das. 1881); Gutzmann, Das Stottern (2. Aufl., Berl. 1887); Coen, Therapie des Stammelns (Stuttg. 1889); Derselbe, Das Stotterübel (das. 1889).
Stotternheim, Dorf im sachsen-weimar. Verwaltungsbezirk I (Weimar), an der Linie Sangerhausen-Erfurt der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, eine Saline (Luisenhall) mit Solbad und (1885) 1301 Einw.
Stou, 2239 m hoher Berggipfel der Karawanken in Kärnten.
Stour (spr. staur), Name mehrerer Flüsse in England, deren wichtigster bei Harwich in die Nordsee fällt.
Stourbridge (spr. staur-bridsch), Stadt im nördlichen Worcestershire (England), südwestlich von Dudley, am Stour, hat wichtige Fabrikation von Glas und Glaswaren, Töpferwaren, feuerfesten Ziegeln und Schmelztiegeln, Eisenwerke und (1885) 9757 Einw.
Stourdza, s. Sturdza.
Stourport (spr. staur-port), Fabrikstadt in Worcestershire (England), an der Mündung des Stour in den Severn, mit Spinnerei, Teppichweberei und (1881) 3358 Einw.
Stout (engl., spr. staut), in England gebrautes starkes, dunkles Bier, wird vielfach gemischt mit dem hellern Ale oder Bitter getrunken ("s. and bitter").
Stowe (spr. stoh), Harriet Eliz., s. Beecher 2).
Stowmarket (spr. stohmarket), Stadt in der engl. Grafschaft Suffolk, am schiffbaren Gipping, hat Fabrikation von Kunstdünger und landwirtschaftlichen Geräten und (1881) 4052 Einw.
Stoy, Karl Volkmar, namhafter Pädagog, geb. 22. Jan. 1815 zu Pegau, studierte in Leipzig und Göttingen Theologie, habilitierte sich 1843 als Privatdozent der Philosophie in Jena, wo er zugleich ein pädagogisches Seminar sowie eine Erziehungsanstalt gründete, ward 1845 Professor der Philosophie, 1857 Schulrat; 1865 folgte er einem Ruf an die Universität zu Heidelberg, begab sich mit Urlaub 1867 nach Bielitz, um dort ein Lehrerseminar nach seinen Grundsätzen einzurichten, und kehrte 1868 nach Heidelberg zurück. Seit 1874 wirkte er wieder als Professor und Schulrat in Jena und starb daselbst 23. Jan. 1885.
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Strabane - Stradivari.
Seiner philosophischen Richtung nach gehört S. zur Schule Herbarts. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: "Schule und Leben" (Jena 1844-51, 5 Hefte); "Hauspädagogik in Monologen und Ansprachen" (Leipz. 1855); "Haus- und Schulpolizei" (Berl. 1856); "Zwei Tage in englischen Gymnasien" (Leipz. 1860); "Encyklopädie, Methodologie und Litteratur der Pädagogik" (2. Aufl., das. 1878); "Organisation des Lehrerseminars" (das. 1869); "Philosophische Propädeutik" (das. 1869-70, 2 Tle.) und zahlreiche Aufsätze in der "Allgemeinen Schulzeitung", die S. 1870-82 herausgab. Vgl. Fröhlich, Stoys Leben, Lehre und Wirken (Dresd. 1885); Bliedner, S. und das pädagogische Universitätsseminar (Leipz. 1886).
Strabane (spr. strebänn), Stadt in der irischen Grafschaft Tyrone, am Mourne (Lifford gegenüber), mit Leinweberei, Flachshandel und (1881) 4196 Einw.
Strabismus (griech.), s. Schielen.
Strabon, griech. Geograph, geboren um 60 v. Chr. zu Amasia in Kappadokien aus einer griechischen Familie, unternahm ausgedehnte Reisen im Gebiet des Mittelmeers, östlich bis Armenien, westlich bis Etrurien und kam 29 v. Chr. nach Italien, wo er sich in Rom längere Zeit aufhielt. Am besten waren ihm aus eigner Anschauung Kleinasien, Griechenland, Italien und Ägypten bekannt. Sein Werk "Geographica" (17 Bücher) ist neben dem des Ptolemäos die Hauptquelle der alten Geographie; namentlich wurde die Kenntnis des westlichen und nördlichen Europa durch S. sehr gefördert. Von den Ausgaben sind die von Kramer(Berl. 1844-52, 3 Bde.; kleine Ausg. 1852, 2 Bde.), Müller und Dübner (Par. 1853-56, 2 Bde.) und Meineke (Leipz. 1852-53, 3 Bde.) hervorzuheben. Die beste Übersetzung des Werkes ist die von Groskurd (Berl. 1831-33, 4 Bde.).
Strabotomie (griech.), Schieloperation.
Stracchino (spr. strackino), s. Käse, S. 584.
Strachwitz, Moritz Karl Wilhelm, Graf von, Dichter, geb. 13. März 1822 zu Peterwitz in Schlesien, studierte zu Breslau und Berlin und lebte dann auf seinem Gut Schebetau in Mähren seiner Muse. Auf einer Reise in Venedig erkrankt, starb er bereits 11. Dez. 1847 in Wien. Seine Gedichte: "Lieder eines Erwachenden" (Bresl. 1842, 5. Aufl. 1854), "Neue Gedichte" (das. 1848, 2. Aufl. 1849) und "Gedichte" (Gesamtausg., das. 1850; 7. Aufl., Berl. 1878) bekunden ein selbständiges, kräftiges Talent und eine männlich starke Individualität, welche in der Begeisterung für das Edle wie im Kampf gegen das Gemeine gleiche Tiefe der Empfindung offenbarte, so daß sein früher Tod einen Verlust für die deutsche Dichtung in sich schloß. Auch nach formeller Seite reihen sich S.' Gedichte durch ihre hohe künstlerische Durchbildung, Prägnanz und Frische des Ausdrucks den besten lyrischen Dichtungen der Neuzeit an.
Strack, 1) Johann Heinrich, Architekt, geb. 24. Juli 1805 zu Bückeburg, absolvierte das Feldmesserexamen und kam dann in das Atelier Schinkels. 1834 machte er mit Ed. Meyerheim eine Studienreise in die Altmark, als deren Ausbeute die "Architektonischen Denkmäler der Altmark Brandenburg" mit Text von Kugler (Berl. 1833) erschienen. 1838 wurde er Baumeister und war nun bis 1843 als Lehrer der Architektur an der Artillerie- und Ingenieurschule, seit 1839 als solcher an der Kunstakademie und später in gleicher Eigenschaft an der Bauakademie zu Berlin thätig. Studienreisen führten ihn mit Stüler nach England und Frankreich, mit Rauch nach Dänemark. 1845 ward ihm die Oberleitung des Baues des Schlosses Babelsberg bei Potsdam übertragen. Im Winter 1853/54 begleitete er den Prinzen Friedrich Wilhelm (Kaiser Friedrich) auf einer Reise durch Italien und Sizilien und baute für denselben 1856-58 das alte Palais König Friedrich Wilhelms III. in Berlin aus. 1862 weilte er im Auftrag der preußischen Regierung mehrere Monate in Athen, wo er das Dionysostheater am Abhang der Akropolis auffand; 1866-76 erbaute er die Berliner Nationalgalerie, und gleichzeitig entstand das Siegesdenkmal auf dem Königsplatz. Von seinen weitern Bauten sind zu nennen: die Petri- und Andreaskirche in Berlin und Schloß Frederiksborg bei Kopenhagen. Er starb 12. Juni 1880 in Berlin. Von bleibendem Wert ist seine Schrift "Das griechische Theater" (Berl. 1863).
2) Hermann, protestant. Theolog, geb. 6. Mai 1848 zu Berlin, studierte daselbst und in Leipzig, wurde 1872 Lehrer in Berlin, arbeitete 1873-76 mit Unterstützung der preußischen Regierung in St. Petersburg und ist seit 1877 außerordentlicher Profefsor der Theologie in Berlin. Unter seinen Schriften sind zu nennen: "Prolegomena critica in Vetus Testamentum hebraicum" (Leipz. 1873); "Katalog der hebräischen Bibelhandschriften in St. Petersburg" (das. 1875, zusammen mit Harkowy); "Prophetarum posteriorum codex Babylonicus Petropolitanus" (das. 1876); "Die Sprüche der Väter" (2. Aufl., Berl. 1888); "Hebräische Grammatik" (2. Aufl., Karlsr. 1885); "Elementarschule und Lehrerbildung in Rußland" (in "Rußlands Unterrichtswesen", Leipz. 1882); "Lehrbuch der neuhebräischen Sprache und Litteratur" (mit Siegfried, das. 1884); die Streitschrift "Herr Adolf Stöcker" (das. 1886); "Einleitung in das Alte Testament" (3. Aufl., Nördling. 1888) und gab mit Zöckler den "Kurzgefaßten Kommentar zu den Heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments" (das. 1888 ff.) heraus. 1885 begründete er die Zeitschrift für Judenmission "Nathanael".
Strada (ital.), Straße; S. ferrata, Eisenbahn.
Stradbroke (spr. sträddbrok), große Insel an der Südostküste der britisch-austral. Kolonie Queensland, welche mit der Moretoninsel, von der sie durch den Rouskanal getrennt ist, die Moretonbai (s. d.) bildet; hat einen Leuchtturm. Beide Inseln sind auf der Westküste bewohnt.
Stradella, Stadt in der ital. Provinz Pavia. Kreis Voghera, am Aversa und an der Eisenbahn Alessandria-Piacenza, mit Industrie in Seide, Leder, Weinstein und Weingeist und (1881) 6344 Einw.
Stradella, Alessandro, Sänger und Komponist, geb. 1645 zu Neapel, wo er auch seine Ausbildung erhielt, begab sich später nach Venedig und von dort, nachdem er die Geliebte eines vornehmen Venezianers entführt hatte, nach Rom. Hier entging er mit Glück einem von seinem Nebenbuhler gegen ihn veranstalteten Attentat und floh nach Turin, wo er bei einem zweiten, von Venedig aus gegen ihn unternommenen Mordversuch schwer verwundet wurde. Ein dritter sollte für ihn verhängnisvoll werden; denn als er 1678 einem Ruf nach Genua gefolgt war. um für den Karneval die Oper "La forza dell' amor paterno" in Szene zu setzen, wurde er am Tag nach seiner Ankunft auf seinem Zimmer erdolcht gefunden. über sein Leben und seine Werke, unter denen er selbst das Oratorium "San Giovanni Battista" als sein vorzüglichstes bezeichnet hat, gibt P. Richards Arbeit "S. et les Contarini" (in der Pariser Musikzeitung "Le Menestrel" 1865, Nr. 51; 1866, Nr. 18) ausführliche und zuverlässige Auskunft.
Stradioten, s. Stratioten.
Stradivari, Antonio, der größte Meister des
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Straelen - Strafe.
Violinbaues, geb. 1644 zu Cremona aus einer alten Cremoneser Patrizierfamilie, war Schüler von Niccolo Amati, zeichnete seine ersten, für seinen Meister gearbeiteten Violinen mit dessen Namen, verheiratete sich 1667 und fing wohl um dieselbe Zeit an für eigne Rechnung zu arbeiten. Von seinen Söhnen wurden zwei ebenfalls Geigenbauer, nämlich Francesco, geb. 1. Febr. 1671, gest. 11. Mai 1743, und Omobono, geb. 14. Nov. 1679, gest. 8. Juli 1742. Beide arbeiteten mit dem Vater gemeinsam und waren selbst fast schon Greise, als ihr Vater 18. Dez. 1737 starb. S. baute eine sehr große Zahl Instrumente und zwar ebenso vorzügliche Celli wie Violinen, Bratschen und Violen der ältern Art (Gamben etc.), Lauten, Guitarren, Mandolinen etc. ; seine letzte bekannte Violine ist von seiner Hand mit 1736 datiert. Sein Sohn Francesco zeichnete von 1725 ab mit seinem Namen, Omobono arbeitete einige Instrumente mit ihm zusammen, "sotto la disciplina d'A. S."; er scheint mehr mit der Beschaffung des Materials und dem Vertrieb als mit dem Bau der Instrumente zu thun gehabt zu haben. Vater und beide Söhne ruhen in einem gemeinschaftlichen Grab. Vgl. Fétis, Antoine S. (Par. 1856); Lombardini, Ceuni sulla celebre scuola cremonese etc." (1872); Niederheitmann, Cremona (2. Aufl., Leipz. 1884).
Straelen, Flecken im preuß. Regierungsbezirk Düsseldorf, Kreis Geldern, unweit der Niers und an der Linie Venloo-Haltern der Preußischen Staatsbahn, hat eine kath. Kirche, Seiden- und Samtweberei, Ölmühlen und (1885) 5928 meist kath. Einwohner.
Strafabteilungen, in Preußen die durch das Militärstrafgesetz von 1873 in Militärgefängnisse umgewandelten Strafanstalten, in welchen an degradierten Unteroffizieren und Gemeinen Festungs- (jetzt Gefängnis-) Strafe vollstreckt wurde.
Strafanstalten, s. Gefängniswesen.
Strafaufschub (Aufschub des Strafverfahrens), die vorläufige Aussetzung der Vollstreckung einer rechtskräftig zuerkannten Strafe. Solange ein Strafurteil noch nicht rechtskräftig ist, d. h. solange es noch durch ein ordentliches Rechtsmittel, wie Berufung oder Revision, angefochten werden kann, ist die Strafe nicht vollstreckbar. Wird innerhalb der dazu gesetzten Frist ein solches Rechtsmittel eingelegt, so kann die erkannte Strafe nicht vollstreckt werden, bis über das Rechtsmittel entschieden ist (sogen. Suspensiveffekt des Rechtsmittels). Ist aber eine Strafe rechtskräftig erkannt, so ist sie zu vollstrecken, doch kann nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 488) ein S. gewährt werden, wenn durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seiner Familie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwachsen würden. Der S. darf aber in solchen Fällen den Zeitraum von vier Monaten nicht übersteigen; er kann an eine Sicherheitsleistung oder an andre Bedingungen geknüpft werden. In einigen andern Fällen muß ein S. eintreten; so, wenn der Verurteilte eine Freiheitsstrafe zu verbüßen hat und in Geisteskrankheit verfällt, ebenso bei andern Krankheiten, wenn von der Strafvollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen steht, oder wenn dieser sich in einem körperlichen Zustand befindet, bei welchem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist (Strafprozeßordnung, § 487). Bei Todesurteilen tritt insofern stets ein S. ein, als sie nicht eher vollstreckt werden dürfen, bis die Entschließung des Staatsoberhaupts, und in denjenigen Sachen, in denen das Reichsgericht in erster Instanz erkannt hat, die Entschließung des Kaisers ergangen ist, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machen zu wollen. An schwangern oder geisteskranken Personen dürfen Todesurteile nicht vollstreckt werden. Durch einen Antrag auf Wiederaufnahme (s. d.) des Verfahrens wird dle Vollstreckung des Urteils nicht gehemmt. Das Gericht kann jedoch einen S. oder eine Unterbrechung der Vollstreckung anordnen. Strafbefehl (Strafmandat, Strafverfügung), bei Übertretungen und geringfügigen Vergehen der Erlaß des Strafrichters, welcher dem Beschuldigten ohne vorgängiges Gehör eine bestimmte Strafe festsetzt. Diese Strafe wird vollstreckbar, wenn der Beschuldigte nicht binnen einer Woche nach der Zustellung Einwendung (Einspruch) dagegen erhebt. Im Fall eines Einspruchs wird zur Hauptverhandlung geschritten. Nach der deutschen Strafprozeßordnung darf die in dem S. angedrohte Strafe nicht über 150 Mk. Geldstrafe oder sechs Wochen Freiheitsstrafe hinausgehen. Bei Übertretungen können auch Polizeibehörden Strafbefehle erlassen und Haft bis zu 14 Tagen oder Geldstrafe verfügen. Derartige Strafbefehle heißen Strafverfügungen im Gegensatz zum S. des Amtsrichters und zum Strafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörde. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 447 ff., 453 ff.; Österreichische, § 460 ff.
Strafbescheid, die von einer Verwaltungsbehörde bei Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefalle erlassene Straffestsetzung. Binnen einer Woche kann in solchen Fällen von dem Beschuldigten auf gerichtliche Entscheidung angetragen werden. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 459 ff.
Strafbills, engl. Ausnahmegesetze, welche in Bezug auf besondere Verbrechen und aufrührerische Zustände erlassen werden.
Strafe, das wegen eines begangenen Unrechts über den Thäter verhängte Übel oder Leiden. Unter den Begriff der S. in diesem weitesten Sinn fällt zunächst diejenige S., welche ein Ausfluß der Erziehungsgewalt und eines gewissen Aufsichtsrechts ist, wie es namentlich dem Lehrer den Schülern, dem Dienstherrn dem Gesinde, dem Lehrherrn dem Lehrling gegenüber zusteht. Ferner gehört hierher die eigentliche Disziplinarstrafe, welche die vorgesetzte Dienstbehörde vermöge ihrer Disziplinargewalt (s. d.) dem Unterbeamten gegenüber bei Ordnungswidrigkeiten auszusprechen befugt ist; ebenso die Ordnungsstrafe, welche eine öffentliche Behörde androhen und in Vollzug setzen kann, um die Befolgung amtlicher Verfügungen zu erzwingen, z. B. bei Vorladungen zu Terminen u. dgl. Auch die Konventionalstrafe, d. h. die vertragsmäßig festgesetzte S. für den Fall der Nichterfüllung einer übernommenen Verbindlichkeit, fällt unter den Begriff der S. in dieser Allgemeinheit. Im engern Sinn aber versteht man unter S. nur die sogen. Rechtsstrafe, d. h. diejenige S., welche unmittelbar auf eine Gesetzesvorschrift zurückzuführen und gegen den Übertreter der letztern auszusprechen ist. Hierbei ist dann wiederum zwischen Privatstrafe und öffentlicher S. zu unterscheiden, je nachdem die S. an den Verletzten oder an den Staat zu verbüßen ist, und zwar sind die Privatstrafen in der Gegenwart auf ein Minimum reduziert. Die öffentlichen Strafen aber werden wiederum in Polizeistrafen und Kriminalstrafen eingeteilt, je nachdem es sich nur um die Übertretung einer polizeiltchen Vorschrift oder um das Zuwiderhandeln gegen ein eigentliches Strafgesetz handelt. Nach den Strafmitteln wird zwischen Todesstrafe, Frei-
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Straferkenntnis - Strafgerichtsbarkeit.
heits- und Vermögensstrafen unterschieden. Die früher üblichen qualifizierten Todesstrafen sind ebenso wie die verstümmelnden und die in körperlicher Züchtigung bestehenden Leibesstrafen, wenigstens in allen zivilisierten Ländern, abgeschafft. Ehrenstrafen kommen nach Abschaffung gewisser beschimpfender Strafarten, wie z. B. der Prangerstrafe, nur noch als Nebenstrafen, d. h. als die Folgen anderweiter, in erster Linie erkannter Strafen, vor. Das Strafensystem des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs (§ 13 ff.) insbesondere ist folgendes. A. Hauptstrafen: 1) Die mittels Enthauptung zu vollstreckende Todesstrafe (s. d.). 2) Freiheitsstrafen: a) Zuchthausstrafe, entweder lebenslänglich oder zeitig, im Mindestbetrag von einem und im Höchstbetrag von 15 Jahren. Die dazu Verurteilten sind zu den in der Strafanstalt eingeführten, nach Befinden auch zu öffentlichen Arbeiten außerhalb der Strafanstalt anzuhalten. Die Zuchthausstrafe zieht die dauernde Unfähigkeit zu öffentlichen Ämtern, zum Dienst im Heer und in der Marine nach sich. b) Gefängnisstrafe (Höchstbetrag 5 Jahre, Mindestbetrag ein Tag). Die dazu Verurteilten können in der Gefangenanstalt auf eine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene Weise, außerhalb der Anstalt jedoch nur mit ihrer Zustimmung beschäftigt werden. Auf ihr Verlangen sind die Gefängnissträflinge in angemessener Weise zu beschäftigen. c) Festungshaft, lebenslänglich oder zeitig und zwar im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von 15 Jahren. Dieselbe besteht lediglich in Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der Gefangenen; sie wird in Festungen oder in andern dazu bestimmten Räumen vollzogen (sogen. Custodia honesta). Dabei wird achtmonatige Zuchthausstrafe einer einjährigen Gefängnisstrafe, achtmonatige Gefängnisstrafe einer einjährigen Festungshaft gleich geachtet. d) Haft, einfache Freiheitsentziehung im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von 6 Wochen. 3) Geldstrafe, deren Mindestbetrag bei Verbrechen und Vergehen auf 3 Mk., bei Übertretungen auf 1 Mk. fixiert ist. 4) Verweis, der ausnahmsweise bei jugendlichen Personen unter 18 Jahren und nur bei besonders leichten Vergehen und Übertretungen zulässig ist. Die Deportation (s. d.) ist dem Strafsystem des deutschen Strafgesetzbuchs unbekannt. B. Nebenstrafen: 1) Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (s. d.); 2) Polizeiaufsicht (s. d.); 3) Ausweisung (s. d.) von Ausländern; 4) Überweisung (s. d.) an die Landespolizeibehörde; 5) Einziehung oder Konfiskation von Verbrechensgegenständen. Gegen Militärpersonen kommen nach dem deutschen Militärstrafgesetzbuch (§ 14 ff.) folgende Strafen (Militärstrafen) zur Anwendung: Die Todesstrafe, welche im Feld stets, außerdem nur dann, wenn sie wegen eines militärischen Verbrechens erkannt worden, durch Erschießen zu vollstrecken ist; als Freiheitsstrafen Arrest (s. d.), Gefängnis und Festungshaft. Ist Zuchthausstrafe verwirkt, oder wird auf Entfernung aus dem Heer oder der Marine oder auf Dienstentlassung erkannt, oder wird das militärische Dienstverhältnis aus einem andern Grund aufgelöst, so geht die Strafvollstreckung auf die bürgerlichen Behörden über. Wo die allgemeinen Strafgesetze Geld- und Freiheitsstrafe wahlweise androhen, darf, wenn durch die strafbare Handlung zugleich eine militärische Dienstpflicht verletzt worden ist, auf Geldstrafe nicht erkannt werden. Endlich kommen als besondere Ehrenstrafen gegen Militärpersonen vor: Entfernung aus dem Heer oder der Marine, gegen Offiziere Dienstentlassung, gegen Unteroffiziere Degradation und gegen Unteroffiziere und Gemeine Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes.
Straferkenntnis, s. Urteil.
Strafford, Thomas Wentworth, Graf von, engl. Staatsmann, geb. 13. April 1593 aus einer alten Familie der Grasschaft York, trat 1621 in das Unterhaus, wo er der Politik Jakobs I. und Karls I. Opposition machte. Bald aber veranlaßte ihn sein Ehrgeiz, seinen Frieden mit dem Hof zu machen; nach Buckinghams Ermordung ernannte ihn der König 1628 zum Peer und 1629 zum Mitglied des Geheimen Rats und Präsidenten der Regierung der Nordprovinzen. Wentworth ward bald neben dem Bischof Laud die festeste Stütze Karls I., dessen Bestrebungen, die Macht der Krone bis zur Unumschränktheit zu steigern, an ihm den kräftigsten Helfer fanden. 1632 als Statthalter nach Irland gesandt, brachte er dort, allerdings nur durch despotische Herrschaft, das Ansehen des Königtums zu unbedingter Anerkennung. Beim Ausbruch des schottischen Aufstandes 1638 drängte er dem irischen Parlament die Bewilligung reichlicher Subsidien für die Unterdrückung der Bewegung ab und ward hierfür von Karl I. zum Grafen von S. und Lord-Lieutenant von Irland erhoben. Nach der Auflösung des Kurzen Parlaments von 1640 kommandierte er während des Kampfes gegen die Schotten die königlichen Truppen in Yorkshire. Als dann aber der König sich genötigt sah, das Parlament wieder zu berufen, erhob 11. Nov. 1640 das Haus der Gemeinen gegen ihn die Anklage auf Hochverrat, weil er dem König zum Kriege gegen das Volk und zur Untergrabung der Grundgesetze des Reichs geraten habe. S. verteidigte sich sehr geschickt, und seine Freisprechung bei den Lords schien gesichert, als das Unterhaus auf Haslerighs Antrag den Weg des gerichtlichen Verfahrens verließ und durch die Bill of attainder den verhaßten Minister wegen Hochverrats zum Tod verdammte. Die Lords, vom Volk terrorisiert, traten mit 7 Stimmen Mehrheit diesem Beschluß bei; als der König schwankte, denselben zu bestätigen, beschwor S. ihn in einem großherzigen Brief, ihn um seines eignen Heils willen zu opfern. Da unterzeichnete der Monarch 10. Mai 1641 das Urteil, und Straffords Haupt fiel 12. Mai 1641 unter dem Schwerte des Henkers. Nach der Restauration Karls II. wurde seine "Ehre wiederhergestellt"; sein ältester Sohn erhielt Titel und Peerswürde des Vaters. Seine Briefe etc. wurden 1740 in 2 Bänden veröffentlicht. Vgl. Lally-Tollendal, Vie du comte de S. (Lond. 1795, 2 Bde.; Par. 1814); Cooper, Life of Thom. Wentworth Earl of S. (Lond. 1874).
Strafgerichtsbarkeit (Kriminalgerichtsbarkeit, peinliche Gerichtsbarkeit, Jurisdictio criminalis), die Befugnis zur Ausübung der Rechtspflege auf dem Gebiet des Strafrechts. Als Ausfluß der Staatsgewalt kann die Ausübung der S. nur dem Staat und seinen Organen zustehen, wie dies im deutschen Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 (§ 15) ausdrücklich erklärt ist. Diese Ausübung der S. ist aber regelmäßig den ordentlichen Gerichten und nur ausnahmsweise in leichtern Fällen den Polizeibehörden übertragen. Nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 453 ff.) darf sich die Strafgewalt der letztern nur auf Übertretungen erstrecken, auch kann die Polizeibehörde keine andre Strafe als Geldstrafe oder Haft bis zu 14 Tagen aussprechen; indes ist dem Beschuldigten derartigen Strafverfügungen der Polizeibehörde gegenüber nachgelassen, binnen einer Woche nach der Bekanntmachung der Strafe auf gerichtllche Entscheidung anzutragen. Wer die S. aus-
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Strafgerichtsverfassung - Strafprozeß
zuüben hat, ist in der Gerichtsverfassung (s. Gericht), und wie, d. h. in welcher Form, sie auszuüben ist, im Strafprozeßrecht bestimmt (s. Strafprozeß). Die dabei zur Anwendung kommenden Strafnormen bilden den Gegenstand des Strafrechts (s. d.).
Strafgerichtsverfassung, s. Gericht, S. 166.
Strafgefetzbuch, umfassendes Gesetz über die von der Staatsgewalt zu ahndenden verbrecherischen Handlungen und über die Strafen, welche dieselben nach sich ziehen. Von den einzelnen Verbrechen handelt der besondere Teil, während die allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze in dem allgemeinen Teil dargestellt sind. Der allgemeine Teil des deutschen Strafgesetzbuchs insbesondere handelt im ersten Abschnitt von den Strafen, im zweiten vom verbrecherischen Versuch, im dritten von der Teilnahme am Verbrechen und im vierten Abschnitt von den Gründen, welche die Strafe ausschließen oder mildern. Im besondern Teil sind dann die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen sowie deren Bestrafung behandelt (s. Strafrecht).
Strafgewalt, s. Strafrecht, S. 362.
Strafkammer, s. Landgericht.
Strafkolonien, s. Kolonien, S. 956, und Deportation.
Strafkompanie (Disziplinartruppen), in Frankreich, Italien und Rußland Truppenteile, in welche Soldaten strafweise versetzt werden.
Strafliste, s. Strafregister.
Strafmandat, s. Strafbefehl.
Strafpolitik, s. Strafrecht, S. 362.
Strafprozeß (Strafverfahren, Kriminalprozeß, franz. Procédure oder Instruktion criminelle), das gerichtliche Verfahren, welches in denjenigen Fällen Platz greift, in denen es sich um die Untersuchung und Bestrafung von Verbrechen handelt; auch Bezeichnung für das Strafprozeßrecht, d. h. für die Gesamtheit der Rechtsgrundsätze, welche jenes Verfahren normieren. Die Zusammenstellung solcher Normen in einem ausführlichen Gesetz wird Strafprozeßordnung genannt, so die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Febr. 1877, die österreichische Strafprozeßordnung vom 23. Mai 1873 und der Code d'instruction criminelle Napoleons I. von 1808. Der S. gehört im weitesten Sinn zum Strafrecht und wird ebendeswegen auch als sogen. formales Strafrecht dem materiellen Strafrecht (s. d.) gegenübergestellt. Während der bürgerliche oder Zivilprozeß, in welchem über Privatstreitigkeiten zu entscheiden ist, ursprünglich von den Römern dem Privatrecht zugerechnet wurde und diesem jedenfalls auch heute noch nahesteht, kann über die ausschließlich öffentlich-rechtliche Natur des Strafprozesses ein Zweifel nicht obwalten. Während nämlich die Mehrzahl der Privatrechtsansprüche ohne gerichtliche Hilfe durch freiwillige Leistung von seiten des Schuldners erfüllt wird, kann der Strafanspruch des Staats gegen Übelthäter ohne förmliches Verfahren niemals verwirklicht werden. Niemand kann sich unter Verzichtleistung auf den Prozeß einer öffentlichen Strafe freiwillig unterwerfen oder auf ein Strafurteil des Richters verzichten, denn die Rechte, in welche die Strafe eingreift, sind vom Standpunkt des einzelnen aus unverzichtbar; eine Regel, die eine geringfügige Ausnahme bei Geldbußen nur insoweit erleidet, als bei Polizeiübertretungen der Schuldige sich einem Zahlungsbefehl (sogen. Strafmandat) freiwillig unterwerfen kann. Der Unterschied zwischen Zivilprozeß und S. tritt, zusammenhängend mit diesem Prinzip, auch darin hervor, daß der Strafrichter der materiellen Wahrheit in ganz anderm Maß bei der Prüfung der Thatsachen und der Handhabung der Prozeßregeln nachzustreben hat, als dies im Zivilverfahren zulässig ist, wo die sogen. formale Wahrheit eine hervorragende Rolle spielt. So ist z. B. im Zivilverfahren der Wahrhaftigkeit eines den klägerischen Anspruch anerkennenden Beklagten nicht weiter nachzuforschen, während das Geständnis eines Angeklagten immer noch einer Prüfung von seiten des Richters zu unterwerfen ist, ehe die Verurteilung zur Strafe ausgesprochen werden kann. Auf den untersten Stufen staatlicher Kultur sehen sich diese beiden Grundformen des Prozesses allerdings sehr ähnlich, weil das Verbrechen zunächst als Schadenzufügung aufgefaßt wird und der unmittelbar Verletzte mit der Geltendmachung seiner Forderungen auch gleichzeitig die staatlichen Interessen vertritt. Auf dieser Stufe steht der altgermanische S. mit seinem Grundsatz: "Wo kein Ankläger ist, da ist auch kein Richter". Die Verwirklichung des staatlichen Strafrechts ist dabei von dem Verhalten der Parteien abhängig (sogen. Privatklageprozeß im engern Sinn). Auf einer höhern Entwicklungsstufe steht das Strafverfahren da, wo jeder Bürger, unabhängig von einer ihm selbst widerfahrenen Verletzung, als Ankläger die Rechte der staatlichen Gesamtheit wahrnehmen kann. Dieser Art waren die Einrichtungen in den antiken Republiken, zumal in Griechenland und Rom; insbesondere bietet uns das Recht der römischen Republik in ihrer Blütezeit ein klassisch vollendetes Muster des staatsbürgerlichen Anklageprozesses dar. Wenn freilich der Sittenverfall um sich greift und Verbrechen häufig werden, so muß die Anklagethätigkeit der einzelnen Staatsbürger als unzulänglich erscheinen. Die gewöhnlichen Folgen des staatsbürgerlichen Anklageprozesses in solchen Zeiten sind alsdann: zunehmende Straflosigkeit, Bestechung des Anklägers durch reiche Verbrecher, Erpressungsversuche durch Androhung einer Anklage gegen Unschuldige, die ein gerichtliches Verfahren fürchten, Aussetzung von Prämien oder Denunziantenbelohnungen, um von Staats wegen eigennützige Menschen zur Anklägerschaft anzureizen. Schon die Römer hatten, wie auch die Athener, alle Schattenseiten der staatsbürgerlichen Anklage in den spätern Zeiten zu erfahren. Gleichwohl blieb auch das ältere kirchlich-kanonische Recht bei dieser Organisation der Strafverfolgung stehen. Erst im 13. Jahrh. tritt in dem deutschen auf volks-tümlicher Basis ruhenden Anklageprozeß ein bemerkenswerter Umschwung ein. Schon in den ältesten Anschauungen der christlichen Kirche lag nämlich die sittliche Anforderung begrün-det, daß der sündige Christ zur Selbstbeschuldigung im Beichtstuhl und zur Reinigung mittels Buße durch sein Gewissen verpflichtet sei. In ihren Sendgerichten wahrte die Kirche diese Anzeigepflicht in der Anwendung auf Dritte. Sie hielt in ihrer Gerichtsbarkeit darauf, daß gewisse stark verdächtigte Personen sich durch Eid zu reinigen hatten von den gegen sie vorliegenden Beschuldigungen (sogen. Reinigungseid). Diese vereinzelten, übrigens auch schon im römischen Recht bemerkbaren Anfänge eines amtlichen Einschreitens wurden nun durch Innocenz III. seit dem Ende des 12. Jahrh. auf dem dritten lateranischen Konzil der Anknüpfungspunkt zu einer Ausbildung des sogen. Inquisitionsprozesses (Untersuchungsprozesses). Ursprünglich war dieser Inquisitionsprozeß als Ausnahme gedacht neben dem Fortbestand des ältern Anklageverfahrens als der Regel. Dennoch entsprach das neue Verfahren so sehr den vorhandenen Bedürf-
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Strafprozeß (geschichtliche Entwickelung).
nissen, daß es nicht nur in den geistlichen Gerichtshöfen bald herrschend wurde, sondern auch in der weltlichen Justiz mehr und mehr die Oberhand gewann. Der Richter hatte hiernach von Amts wegen überall einzuschreiten und alle Verhältnisse der Beschuldigung und Verteidigung kraft seines Amtes zu erforschen. Von bestimmten Rechten der Parteien konnte somit keine Rede sein. Man unterschied dabei die Generalinquisition als das einleitende Stadium von der Spezialinquisition als der Untersuchung, die ihre Richtung bereits gegen bestimmte Personen genommen hatte. Zugleich ward bei der Ketzerinquisition die Heimlichkeit des Verfahrens vorgeschrieben und, unter Anknüpfung an das römische Recht, die Folter angewendet. So war gegen das Ende des Mittelalters der Inquisitionsprozeß in den kontinentalen Ländern herrschend geworden, mit ihm die Schriftlichkeit des Verfahrens an Stelle der Mündlichkeit und die Entwickelung eines Instanzenzugs. Eine Ausnahme machte nur England, wo im Zusammenhang mit dem Schwurgericht (s. d.) sich die altgermanischen Prozeßeinrichtungen in wesentlichen Stücken erhielten, so daß England noch gegenwärtig der einzige Kulturstaat ist, in dem sich der alte Anklageprozeß, wenn schon mannigfach modifiziert, bis zur Gegenwart erhalten hat. Die (peinliche) Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (die sogen. Carolina) schloß sich in ihrem strafprozessualischen Inhalt eng an die bestehenden Verhältnisse der damaligen Zeit an. Sie begünstigte namentlich die Schriftlichkeit, worin man damals ein Schutzmittel gegen willkürliche Verfolgungen erblicken mußte, und schrieb deswegen die Zuziehung von Gerichtsschreibern (Aktuaren) als wesentlichen Prozeßorganen vor. Ein hervorragendes Verdienst erwarb sich die Carolina dadurch, daß sie das in Deutschland völlig zerrüttete Beweisverfahren neu ordnete, indem von ihr eine feste Beweistheorie aufgestellt wurde. Niemand sollte ohne ausreichenden, vollen Beweis verurteilt werden. Einen vollen Beweis lieferten aber nur das Geständnis, die übereinstimmende Aussage mindestens zweier Zeugen oder der richterliche Augenschein, wohingegen eine Verurteilung auf Grund sogen. Anzeigen oder Indizien ausgeschlossen wurde. Jeder unvollständige, auch der zur Verurteilung nicht genügende Indizienbeweis konnte jedoch durch peinliche Frage (Folter) ergänzt werden, so daß das auf der Folter abgelegte und hinterher bestätigte Geständnis die Verurteilung begründete.
So gestaltete sich der S. seit der Mitte des 17. Jahrh. in der Hauptsache für ganz Deutschland zu derjenigen Form des Verfahrens, welche der sächsische Jurist Carpzov bezeugt: der reine Untersuchungsprozeß, daher erstes Einschreiten des Richters, dem die Kriminalpolizei untergeben ist, Voruntersuchungsführung des Richters im Sinn der durch Zwangsmittel oder Kunstgriffe herbeizuführenden Geständnisse, genaue Aufzeichnung aller Ermittelungen in den Kriminalakten, nach der Erschöpfung der Beweisaufnahme Aktenschluß, Einforderung einer Verteidigungsschrift in den schwersten, Zulassung einer solchen in minder schweren Fällen, Versendung der Akten von den Untersuchungsgerichten (Inquisitoriaten) an das urteilende Gericht, das entweder in der Sache selbst nach Lage der Akten auf Vortrag eines Referenten endgültig erkennt, oder weitere Beweisaufnahme anordnet, oder die peinliche Frage erkennt. An Rechtsmitteln kennt der Untersuchungsprozeß nur das der weitern Verteidigung zu gunsten des Inquisiten. Die Urteilsvollstreckung leitet der Untersuchungsrichter. Die alte Beweistheorie fand ihren Mittelpunkt in der Folter. Sobald diese (zuerst durch Friedrich d. Gr.) in Deutschland abgeschafft wurde, was allgemein gegen das Ende des 18. Jahrh. geschah, mußte das Gebäude des Inquisitionsprozesses ins Wanken kommen. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zumal nachdem man durch Montesquieu und Voltaire mit den englischen Einrichtungen bekannt geworden war, bestand auf dem Kontinent eine dem alten S. ungünstige Meinung innerhalb der gebildeten Klassen. Die Überlieferung des alten Inquisitionsprozesses war indessen so fest in Deutschland eingewurzelt, daß die Kriminalordnung von Preußen (1805) und der bayrische S. (1813) gleichwie auch Österreich an dem alten Verfahren noch im 19. Jahrh. zäh festhielten. Erst mit der allgemeinen Bewegung der Geister 1848 vollzog sich der längst notwendig gewordene Bruch. Die meisten deutschen Staaten führten ein öffentliches und mündliches Anklageverfahren ein, und die Grundrechte des deutschen Volkes bestimmten die wesentlichen Grundsätze der Reform. Längst vor 1848 hatten aber Theorie und Wissenschaft die Notwendigkeit einer durchgreifenden Besserung der Strafprozeßeinrichtungen dargethan. Das Muster, das man 1848 und in den folgenden Jahren vorzugsweise zu befolgen sich entschloß, bot der französische Prozeß, der in den linksrheinischen Landesteilen deutscher Staaten aus dem Napoleonischen Zeitalter bestehen geblieben war. Frankreich selbst hatte im ersten Beginn der Revolution 1789 mit der Beseitigung des alten Strafprozesses Ernst gemacht. Während das Verfahren selbst den deutschen Zuständen des Strafprozeßrechts sich erheblich näherte, hatte Frankreich aus dem Mittelalter eine Magistratur ererbt, deren Stellung nachmals von entscheidender Bedeutung und Vorbildlichkeit für den gesamten europäischen Kontinent werden sollte: die Staatsanwaltschaft (ministère public), hervorgegangen aus den königlichen Prokuratoren, welche die fiskalischen Interessen der Krone bei den Gerichten wahrzunehmen ursprünglich bestimmt gewesen waren und nach und nach einen erheblichen Einfluß auf den Gang des Strafprozesses erlangt hatten. Aus diesen Elementen der königlichen Prozeßvertretung formte die französische Revolution die Staatsbehörde, zu deren wesentlichen Funktionen die Betreibung der öffentlichen Anklage (action publique), die Sammlung der Belastungsbeweise, die Vornahme schleuniger, einen Aufschub nicht gestattender Beweiserhebungen, die Vertretung der Anklage im öffentlichen Verfahren, die Einlegung von Rechtsmitteln und die Vollstreckung der Urteile gehören. Der französische Prozeß, im Code d'instruction criminelle von 1808 zum Abschluß gekommen, bedeutet den Untersuchungsprozeß mit äußerlicher Anklageform. Das Wesen des echten Anklageprozesses bedingt nämlich die Annahme des Parteibegriffs und die Gleichheit der Parteirechte. Davon kann aber nach französischem Recht keine Rede sein. Der Staatsanwalt ist eine Behörde, unabhängig vom Richter, für etwaige Ausschreitungen der gerichtlichen Disziplin nicht unterworfen, dem Wort nach beauftragt mit der Wahrung des Gesetzes, ohne Garantien der persönlichen Unabhängigkeit, absetzbar und den Weisungen der Justizminister unterthan, dennoch aber wiederum in manchen Dingen dem richterlichen Amt bezüglich der Geschäftsführung übergeordnet, wofern er als Organ der Justizaufsicht thätig zu sein hat. Diesem französischen Muster entsprechend ist denn auch in den deutschen Gesetzen die öffentliche Anklagebehörde in Deutschland seit 1848
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Strafprozeß - Strafrecht.
in der Mehrzahl der deutschen Staaten eingerichtet worden. Die Staatsanwaltschaft ist demgemäß das ausschließlich berechtigte Organ der Strafverfolgung. Eine Beschränkung des sogen. Anklagemonopols liegt nur darin, daß nach einmal erhobener Anklage der Richter die Untersuchung auch gegen den Antrag der Staatsanwaltschaft weiter fortführen und verurteilen kann, nach französischem Recht sogar die Staatsbehörde zur Erhebung der Anklage durch die Appellhöfe angehalten werden darf, daß ferner in gewissen fiskalischen Angelegenheiten (z. B. in Zollstrafsachen und Steuerkontraventionen) administrative Organe an die Gerichte gehen können, und daß bei sogen. Antragsdelikten die Staatsbehörde an den Strafantrag des Verletzten gebunden ist. Die Mängel der kontinentalen Prozeßorganisation treten vorwiegend darin hervor, daß die Staatsbehörde durch unterlassene Anklageerhebung gleichsam mitbeteiligt wird an der Ausübung des Begnadigungsrechts und, in Abhängigkeit von den jeweilig herrschenden Parteiströmungen, wenig geneigt sein wird, den Ausschreitungen des Beamtentums wirksam entgegenzutreten. Auf den deutschen Juristentagen wurde daher wiederholt die Zulassung der sogen. subsidiären Privatanklage für diejenigen Fälle befürwortet, in denen die Staatsbehörde ihr Einschreiten verweigert. In dem Zeitraum zwischen 1848 und 1877 war übrigens das Strafprozeßrecht in Deutschland sehr verschiedenartig gestaltet. Eine Gruppe von Gesetzgebungen behielt die ältern, auf der Basis der Inquisitionsprozedur ruhenden Gesetze bei und verknüpfte damit in äußerlicher Weise die Einrichtungen der Staatsanwaltschaft, des Schwurgerichts, der Öffentlichkeit und Mündlichkeit im Hauptverfahren (so in Preußen und Bayern). Eine zweite Gruppe verhielt sich gegen alle Reformen ablehnend (z. B. Mecklenburg). Eine dritte Klasse ließ neue, einheitlich gearbeitete Strafprozeßordnungen ergehen, indem man sich bald den französischen Mustern enger anschloß (so in Hannover, Rheinhessen), bald die Erfahrungen des englischen Rechts verwertete (Braunschweig), bald in mehr selbständiger Behandlung das Prozeßrecht ordnete (Baden, Württemberg, Sachsen). Diesen Verschiedenheiten ist schließlich durch die Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Febr. 1877 in Verbindung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz 27. Jan. 1877 ein Ende gemacht worden. Auch dieses neue Recht ruht auf der Grundlage des französischen Strafprozesses. Die Grundzüge des gegenwärtigen Rechtszustandes sind folgende: 1) Dreiteilung der Strafgerichtsbarkeit in der untern Instanz in der Weise, daß die leichten Straffälle von Amtsgerichten unter Zuziehung von Schöffen, die mittelschweren Vergehen von den Strafkammern der Landgerichte, die schweren Verbrechen von Geschwornen abgeurteilt werden (s. Gericht, S. 166). 2) Einrichtung der Staatsanwaltschaft (s. d.) wesentlich nach französischem Muster. Nur ausnahmsweise bei Beleidigungen und leichten Körperverletzungen tritt der Privatkläger an die Stelle des Staatsanwalts. 3) Beibehaltung der schriftlichen und geheimen Voruntersuchung im Gegensatz zu den in England geltenden Regeln der Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Der zur Führung der Voruntersuchung bei den Landgerichten bestellte Untersuchungsrichter darf an dem Hauptverfahren nicht teilnehmen. Notwendig ist die Voruntersuchung indes nur bei den schwurgerichtlichen Fällen. 4) Beweiserhebung im Hauptverfahren durch den Richter im Gegensatz zu der englischen Form des Kreuzverhörs, wonach die Parteien selbst die von ihnen vorgeführten Zeugen befragen unter Zulassung der Gegenfrage von seiten des Prozeßgegners. 5) Beibehaltung des Verhörs der Angeklagten, das dem englischen Recht fremd blieb. 6) Beseitigung aller die richterliche Überzeugung einschränkenden Beweisregeln mit alleiniger Ausnahme der auf die Vereidigung der Zeugen und Sachverständigen bezüglichen Vorschriften, während in England ein gerichtsgebräuchliches System von Beweisregeln bestehen blieb. 7) Öffentlichkeit (s. d.) und Mündlichkeit des Hauptverfahrens; erstere neuerdings etwas eingeschränkt. 8) Das Institut der notwendigen, erforderlichen Falls von Amts wegen zu veranlassenden Verteidigung in schweren Verbrechensfällen. 9) Beseitigung des Rechtsmittels der Berufung gegen landgerichtliche Erkenntnisse, was die hauptsächlichste, ihrem Wert nach zweifelhafte Abweichung vom französischen Recht bildet. Die Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteile der landgerichtlichen Strafkammern wird vielfach angestrebt. Gegenwärtig ist die Berufung nur gegen Erkenntnisse der Schöffengerichte zulässig. Sie geht an die Strafkammer des Landgerichts. Urteile der Strafkammern der Landgerichte und der Schwurgerichte sind nur durch das Rechtsmittel der Revision (s. d.) anfechtbar. Die Revision befaßt sich lediglich mit der Rechtsfrage, nicht mit der Thatfrage. 10) Erweiterung des Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens zum teilweisen Ersatz der Berufung und zur Anfechtung der Thatfrage. Besondere Verfahrensregeln gelten gegen ungehorsam Ausbleibende (sogen. Kontumazialverfahren). Auch bestehen Ausnahmegerichte für den Fall des Belagerungszustandes und für Anklagen auf Hochverrat gegen das Reich, für welche der höchste Reichsgerichtshof kompetent ist.
[Litteratur.] Für das ältere Recht vor 1848: Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren (4. Aufl., Heidelb. 1846, 2 Bde.); Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtspflege (Gieß. 1821 u. 1824); Martin, Lehrbuch des Kriminalprozesses (5. Aufl. von Temme, Leipz. 1857). Für das Übergangsstadium von 1848-77: Planck, Systematische Darstellung des deutschen Strafverfahrens auf Grundlage der neuen Strafprozeßordnungen seit 1848 (Götting. 1857); Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprozesses (das. 1861-68). Für die neue deutsche Reichsstrafprozeßordnung: Kommentare von Dalke (2. Aufl., Berl. 1880), Hahn (2. Aufl., das. 1884 ff.), Keller (2. Aufl., Lahr 1882), Löwe (5. Aufl., Berl. 1888), Puchelt, Schwarze, Thilo u. a.; v. Holtzendorff, Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts, in Einzelbeiträgen mehrerer Verfasser (das. 1877-79, 2 Bde.); Lehrbücher des deutschen Strafprozeßrechts von v. Bar (das. 1878), Dochow (3. Aufl., das. 1880), John (2. Aufl., Leipz. 1882), Meves (3. Aufl., Berl. 1880), Stenglein (Stuttg. 1887) u. a. Für den österreichischen S.: Ullmann, Österreichisches Strafprozeßrecht (2. Aufl., Innsbr. 1882); Herbst, Österreichisches Strafprozeßrecht (Wien 1872); Kommentare zur österreichischen Strafprozeßordnung von Mayer (das. 1876, 4 Bde.), Mitterbacher (das. 1882) u. a. Für den französischen Prozeß: das klassische Werk von Faustin Hélie, Traité de l'instruction criminelle (2. Aufl., Par. 1866-67, 8 Bde.); Richard-Maisonneuve, Droit pénal et d'instruction criminelle (4. Aufl., das. 1881). Für England: H. Stephen, Criminal law (4. Aufl., Lond. 1887); Glaser, Das englisch-schottische Strafverfahren (Erlang. 1851).
Strafrecht (Kriminalrecht, früher auch "peinliches Recht" , lat. Jus poenale , franz. Droit criminel, engl. Criminal Law, ital. Diritto criminale),
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Strafrecht (Allgemeines).
im objektiven Sinn der Inbegriff der Rechtsnormen über strafbare Verbrechen; im subjektiven Sinn die Befugnis, wegen verübten Unrechts Strafe zu verhängen (Strafgewalt, Strafzwang, Jus puniendi). Das S. im objektiven Sinn enthält die Grundsätze, welche der Staat bei der Ausübung seines Rechts, zu strafen (S. im subjektiven Sinn), zur Anwendung zu bringen hat. Wie nun jeder Teil der Rechtswissenschaft sich philosophisch, dogmatisch, historisch und rechtspolitisch behandeln läßt, so wird auch bezüglich des Strafrechts zunächst zwischen natürlichem (allgemeinem, philosophischem) und positivem (dogmatischem) S. unterschieden. Ersteres enthält die strafrechtlichen Grundsätze, welche wir durch Denken als die der Idee der Gerechtigkeit und den sozialen Verhältnissen entsprechenden erkennen, letzteres dagegen ist das geltende S. eines bestimmten Staats. Die historische Behandlung des Strafrechts beschäftigt sich mit seiner geschichtlichen Entwickelung, während die strafrechtspolitische Untersuchung (Kriminalpolitik, Strafpolitik) sich mit der zweckmäßigen Weiterentwickelung der einzelnen Strafrechtsinstitute befaßt. Was das positive S. anbetrifft, so haben gegenwärtig fast alle zivilisierten Staaten umfassende strafrechtliche Kodifikationen aus- und durchgeführt, deren Ergebnis sich in einem einheitlichen Strafgesetzbuch darstellt. Daneben enthalten aber Spezialgesetze (Nebengesetze) noch besondere Strafvorschriften, und so entsteht der Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderm S. in diesem Sinn. Das S. ist ein Teil des öffentlichen Rechts, und zwar gehören, um die Strafgewalt des Staats wirksam werden zu lassen, drei Materien des öffentlichen Rechts zusammen: das S. enthält die Strafgebote und -Verbote der Staatsgewalt, die Strafgerichtsverfassung schafft die staatlichen Organe für ihre Anwendung (s. Gericht), und der Strafprozeß (s. d.) regelt ihre Thätigkeit. Strafprozeß und Strafgerichtsverfassung werden wohl auch unter der Bezeichnung "formelles S." zufammengefaßt, indem man alsdann das eigentliche S. als "materielles S." bezeichnet. Jede Verwirklichung des staatlichen Strafrechts setzt ferner dreierlei voraus: 1) eine durch die gesetzgebende Macht ergangene Strafdrohung; 2) ein in Gemäßheit dieser Androhung vom Richter nach den Formen des Strafprozesses ergangenes Strafurteil; 3) eine in Gemäßheit des Strafurteils bewirkte Strafvollstreckung. Jeder dieser Sätze enthält auch gleichzeitig eine Negation. Keine Strafe kann nämlich auf Grund freiwilliger Unterwerfung eines sich selbst Anklagenden oder bei Ergreifung auf frischer That vollzogen werden, so daß eine sogen. Lynchjustiz mit dem Bestand eines geordneten Staatswesens unverträglich ist. Anderseits kann aber auch der Richter niemals eine Strafe erkennen, die nicht auf gewisse Handlungen oder Unterlassungen im voraus angedroht war (nulla poena sine lege poenali); ein Grundsatz, der von so großer Wichtigkeit ist, daß er vielfach in die Urkunden des neuern Verfassungsrechts aufgenommen wurde. Im konstitutionellen Staat liegt dabei der Nachdruck darauf, daß Strafdrohungen nur in der Form des Gesetzes, nicht auch in Gestalt sogen. Verordnungen der Monarchen oder der Verwaltungsbehörden ergehen dürfen, noch viel weniger aber der Richter befugt ist, gemeinschädliche oder unsittliche Handlungen auf Grund einer von ihm angenommenen Strafwürdigkeit mit Strafe zu belegen. Wie aber der Richter an die Schranken des Gesetzes überall gebunden ist, so bleibt auch wiederum der Gesetzgeber an die Schranken der Rechtsidee gebunden. Die wissenschaftliche Entwickelung der letztern und die notwendige Begrenzung der Strafgesetzgebung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtswissenschaft. Die wesentlichen Schranken, welche der Betätigung der Strafgesetzgebung gegenwärtig auf Grundlage allgemein wissenschaftlicher Erkenntnis gezogen werden, sind aber folgende: 1) Zeitliche, insofern das Gesetz niemals hinterher bezogen werden darf auf früher straflos gewesene Handlungen. Mißbräuchlich waren daher die in der englischen Rechtsgeschichte vorkommenden Bills of attainder, wonach im Weg der Gesetzgebung gewisse Handlungen nicht für die Zukunft für strafbar erklärt, sondern hinterher bestraft wurden. In der Hauptsache gilt also der Satz, daß Strafgesetze keine rückwirkende Kraft haben in Beziehung auf die früher vor ihrer Geltung begangenen, straflos oder minder strafbar gewesenen Handlungen. 2) Örtliche Grenzen. Der Wille des Strafgesetzgebers ist nur innerhalb des von ihm beherrschten Staatsgebiets verpflichtend; niemand hat das Recht, Ausländern im Ausland bindende Befehle zu erteilen: das Gesetz ist territorial. Von diesem Grundsatz gibt es indessen Ausnahmen, welche sich einerseits aus dem praktischen Bedürfnis eines wirksamen Rechtsschutzes, anderseits aus dem mangelhaften Zustand des Völkerrechts ergeben. Jeder Staat bestraft seine Unterthanen heutzutage wegen gewisser auch im Ausland begangener Verbrechen, und meistenteils werden ausnahmsweise auch Ausländer wegen einzelner im Ausland begangener Missethaten schwersten Ranges (z. B. Hochverrat, Münzverbrechen) einer Ahndung unterworfen. Die Begrenzung dieser Strafgewalt gegenüber dem Ausland ist jedoch noch heute eine der schwierigsten und streitigsten Angelegenheiten der Wissenschaft. Während nämlich einige von einem sogen. Territorialitätsprinzip ausgehen und danach die im Ausland begangenen Missethaten grundsätzlich straflos lassen wollen, huldigen andre (Mohl, Geyer, Carrara) einer Anschauung, die als Weltrechtsprinzip (Weltordnungsprinzip) bezeichnet wird und den Ort der That regelmäßig gar nicht beachtet, endlich wieder andre dem sogen. Personalitätsprinzip, wonach wenigstens die Unterthanen des Staats an die heimischen Strafgesetze auch im Ausland überall gebunden bleiben sollen. 3) Gegenständliche Schranken. Das einfach Unsittliche oder Irreligiöse scheidet aus dem Gebiet der Strafgesetzgebung aus, was um so wichtiger für das heutige S. ist, als in frühern Zeiten die Strafgesetzgebung überall mit religiösen und kirchlichen Elementen stark versetzt war, vornehmlich im Mittelalter, wo der Einfluß des kanonischen Rechts überwog. Der Strafzwang des Staats wird ferner nur da angewendet, wo der Zivilzwang nicht ausreicht, d. h. der Zwang zur Erfüllung, zur Erstattung, zum Ersatz und zur Herausgabe. In letzterer Beziehung lehrt uns aber die Geschichte des Strafrechts, daß die Ansichten über das Verbrecherische in einer starken Umwandlung begriffen sind. Vom Standpunkt des gegenwärtigen Wissens aus ist zu sagen, daß die Grenze der kriminalistischen Handlungen gegenüber der zivilrechtlichen Materie nach einer einfachen, allgemein gültigen Formel nirgends gezogen werden kann. Der Strafgesetzgeber hat vielmehr notwendig, wenn er die verbrecherischen Handlungen richtig erkennen will, zwei Gesichtspunkte zu vereinigen: den ethischen, wonach nur die jeweilig unsittlichen Handlungen dem Volksbewußtsein auch als verbrecherisch erscheinen können, und den kriminalpolitischen, wonach eine empfindliche, dauernde Schädigung oder Gefährdung
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Strafrecht (Theorien).
der gesellschaftlichen Gesamtordnung von gewissen Handlungen zu besorgen ist. Wie verschieden in diesem Stück die Denkweise der Kulturvölker ist, zeigt sich am deutlichsten darin, daß die Römer den Diebstahl nur als eine Privateigentumsverletzung mit zivilen Folgen (von Ausnahmen abgesehen) behandelten, während für uns der Diebstahl das wichtigste aller Verbrechen geworden ist. Betrachtet man ferner die Masse der regelmäßig als verbrecherisch erklärten Handlungen, so wird man nicht umhin können, drei Gruppen von Tatbeständen zu sondern: 1) solche Verbrechen, deren Inhalt ein nach Ort und Zeit besonders wandelbarer ist und sich in hohem Maß veränderlich zeigt. Es sind dies vorzugsweise die sogen. politischen oder Staatsverbrechen, in denen sich das nationale Element der einzelnen Gesetzgebungen kundgibt. Weil diese Thatbestände als schlechthin unsittlich nicht gelten können, begründen sie auch keine Ablieferungspflicht unter zivilisierten Staaten; 2) solche Verbrechen, die vergleichungsweise einen annähernd gleichen Inhalt zu allen Zeiten gehabt haben und deswegen das kosmopolitische Element der Rechtsordnung repräsentieren: Mord, Totschlag, Fälschung, Betrug, Notzucht etc.; 3) solche, bei denen die rechtswidrige Verletzung des Privatwillens die Schädigung der allgemeinen Interessen überwiegt und deswegen die Bestrafung von dem Antrag des Verletzten abhängig gemacht wird (sogen. Antragsdelikte). In dieser letztern Gruppe liegen die Berührungspunkte zwischen zivilem u. kriminellem Unrecht.
Mit dem eigentlichen Grund und Zweck der Strafe beschäftigen sich die Strafrechtstheorien. Es besteht aber in dieser Hinsicht durchaus keine wissenschaftliche Übereinstimmung. Die bisherigen, äußerst zahlreichen Straftheorien sind nach folgenden Gesichtspunkten klassifiziert worden: I. Relative Theorien (Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittel betrachten, durch welches der Staat berechtigt ist, die ihm obliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. II. Absolute Theorien(Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auch Vergütungstheorien, im Unterschied von Verhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig von gewissen Zweckbestimmungen, als schlechthin pflichtmäßige Bethätigung der im Staat waltenden sittlichen Idee auffassen. III. Gemischte Theorien (auch Vereinigungstheorien), welche sowohl die absolute Notwendigkeit der Strafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben.
Die wichtigsten relativen Theorien waren: die Abschreckungstheorie, wonach durch den Strafvollzug andre von dem Begehen von Verbrechen abgehalten werden sollen; die Androhungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlich von Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch die Strafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werden sollen, von Bauer Warnungstheorie genannt. Hierher gehören ferner die sogen. Präventionstheorie, welche den einzelnen Verbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechen abhalten will, also eine "Spezialprävention" im Gegensatz zu der "Generalprävention" der Androhungstheorie beabsichtigt, namentlich von Grolman aufgestellt; dann die Besserungstheorie Röders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmung des verbrecherischen Willens vermöge der strafweisen Nacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durch Strafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker und die Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehr gegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone im vorigen Jahrhundert aufgestellt und in Deutschland von Martin verteidigt ward. - Zu den absoluten Theorien zählen vorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt auf den kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübel und Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke, Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels, wonach das Verbrechen Negation des Rechts und die Strafe Negation der Negation, also Affirmation des Rechts, sein soll. Auch die Theorie der religiösen Sühnung der göttlichen Weltordnung, wie solche von ultramontanen oder lutherisch-orthodoxen Rechtslehrern verfochten wird, gehört hierher. - Die Vereinigungstheorien (vertreten von Abegg, Berner, Heinze, Merkel u. a.) beruhen auf einer doppelten Entwickelungsreihe. Entweder wird die Nützlichkeitsrelation als Grund der Strafe anerkannt und der Verfolgung der Nützlichkeitszwecke eine Schranke an der Gerechtigkeitsidee gegeben, oder die Gerechtigkeit soll das sittliche Fundament der Strafe abgeben, wobei aber die Zweckwidrigkeit eine Grenze für die Verwirklichung der Rechtsidee bezeichnet. Endlich hat man auch (Abegg) den Identitätsbeweis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit auf dem Boden des Strafrechts zu führen unternommen. Zum endgültigen Austrag ist der Streit um die Strafrechtstheorie noch nicht gebracht worden.
Was Deutschland anbelangt, so beruhte der ältere Strafrechtszustand vor dem 16. Jahrh. auf denselben formellen Grundlagen wie das gesamte Recht überhaupt: auf ältern germanischen Rechtsgewohnheiten, auf der spezifischen Wirkung kirchlich-kanonischer Anschauungen, endlich auf der Rezeption des römischen Rechts. Merkwürdig genug gelangte Deutschland 1532 unter Karl V. zu einem einheitlichen Straf- und Strafprozeßgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina = C. C. C.), welches unter den Denkmälern der deutschen Rechtsgesetzgebung früherer Jahrhunderte unzweifelhaft den hervorragendsten Platz verdient. Diese notdürftig, mit großen Schwierigkeiten erreichte, den Fortbestand alter germanischer Gewohnheiten und des römischen Rechts aber anerkennende Gesetzgebungseinheit zersetzte sich im 18. Jahrh. vollständig, insofern der Gerichtsgebrauch die alten, mit der fortschreitenden Humanität unvereinbaren Leibesstrafen beseitigte. Friedrich d. Gr. erkannte zuerst die Notwendigkeit einer umfassenden neuen Kodifikation. Das alte gemeine Recht wurde mehr und mehr durch die Partikularstrafgesetzbücher aus den einzelnen Ländern verdrängt, und so entstand der Unterschied zwischen gemeinem und partikulärem deutschen S. Dem vorigen Jahrhundert gehören das Josephinische Gesetzbuch von 1787 und das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 an. Von weitreichendem Einfluß ward der französische Code pénal von 1810,. welcher in Frankreich noch gegenwärtig, wenn schon mannigfach modifiziert, in Gültigkeit ist (auch in Holland und in revidierter Gestalt selbst in Belgien). Verhältnismäßig minder bemerkbar war dieser Einfluß in den vor 1848 entstandenen deutschen Strafgesetzbüchern, unter denen das bayrische, dessen Urheber Feuerbach war, hervorragt und das braunschweigische von 1840 und badische von 1845 besonders erwähnenswert sind (außerdem: Königreich Sachsen 1838, Hannover 1840 und Hessen-Darmstadt 1841). Dagegen war nach 1848 der Einfluß des französischen Rechts dadurch gesteigert, daß man in der Eile sich zur Annahme des französischen Strafprozeßmusters bestimmen ließ. Kein Gesetzbuch hat sich jedoch dem
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Strafrechtstheorien - Strafregister.
Code pénal in seiner Technik so eng angeschlossen wie das preußische vom 14. April 1851, das nach 1866 und 1867 auch in den neueinverleibten Landesteilen zur Geltung gelangte. Der Periode von 1848 bis 1870 gehören außerdem folgende Strafgesetzbücher an: Nassau 1849, Thüringen (nebst Anhalt, aber ohne Altenburg) 1850, Oldenburg 1858, Bayern 1861, Lübeck 1863, Hamburg 1869. In einigen wenigen Ländern (Mecklenburg, Bremen, Schaumburg-Lippe, Kurhessen) hatte sich das alte gemeine Recht im Gerichtsgebrauch erhalten. Schon 1848 erkannte man allgemein das Willkürliche der strafgesetzlichen Zersplitterung in Deutschland; die Grundrechte verordneten ein einheitliches deutsches Strafgesetzbuch, und auch der erste deutsche Juristentag in Berlin erklärte auf v. Kräwels Antrag die Strafrechtseinheit für notwendig. In die norddeutsche Bundesverfassung ging dieser nationale Wunsch als Verfassungsartikel über. Auf der äußerlichen Grundlage des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 ruhend, entstand alsdann das ehemalige norddeutsche Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870, das demnächst nach Begründung des Kaisertums in veränderter Redaktion als deutsches Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 noch einmal publiziert ist, seit 1. Jan. 1872 in ganz Deutschland gilt und auch im Reichsland eingeführt wurde.
Nicht alles S. ist für Deutschland einheitlich geordnet. Neben dem Reichsstrafrecht besteht ein Landesstrafrecht innerhalb derjenigen Materien, die von Reichs wegen nicht geordnet wurden oder der Gesetzgebung der einzelnen Staaten ausdrücklich überlassen blieben. Im großen und ganzen trägt das Reichsstrafgesetzbuch den Grundzug der Milde, die hauptsächlichsten Mängel des preußischen Strafgesetzbuchs sind beseitigt. Solange jedoch das vom Reichstag erforderlich erachtete Strafvollzugsgesetz fehlt, bleibt die strafrechtliche Einheit unvollständig. Einzelnen fühlbaren Mißgriffen des Strafgesetzbuchs hat die Strafrechtsnovelle vom 26. Febr. 1876 abgeholfen. Ein Militärstrafgesetzbuch ist 20. Juni 1872 für das Deutsche Reich erlassen. Der Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuchs und das ungarische von 1878 schließen sich dem deutschen an. Gegenwärtig gilt in Österreich noch das Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852. Neuere Strafgesetzbücher sind die der schweizerischen Kantone Zürich (1871), Genf (1874), Schwyz (1881) u. a., das Strafgesetzbuch der Niederlande (1881), Belgien (1867), Dänemark (1866), Schweden (1864), Island (1869), Ungarn (1878), Bosnien (1881), Rußland (1866), Spanien (1870), Rumänien (1864) und Serbien (1860). In England fehlt ein Strafgesetzbuch.
[Litteratur.] Unter den ältern Lehrbüchern des deutschen Strafrechts sind die Werke von Feuerbach, Grolman, Mittermaier, Wächter, Heffter und Abegg hervorzuheben. Neuere Lehrbücher von Berner (15. Aufl., Leipz. 1888), Hugo Meyer (4. Aufl., Erlang. 1886), Schütze (2. Aufl., Leipz. 1874), v. Bar (Bd. 1, Berl. 1882), v. Lißt (2. Aufl., das. 1884) und v. Wächter (Vorlesungen, Leipz. 1881). Vgl. auch v. Holtzendorff, Handbuch des deutschen Strafrechts in Einzelbeiträgen (verschiedene Verfasser, Berl. 1871^77). Kommentare des Reichsstrafgesetzbuchs von Oppenhoff (11. Aufl., Berl. 1888), Schwarze (5. Aufl., Leipz. 1884), Olshausen (2. Aufl., Berl. 1886, 2 Bde.), Rüdorff (13. Aufl., das. 1885) u. a. Grundrisse zu Vorlesungen von Binding (3. Aufl., Leipz. 1884), Geyer (Münch. 1884 f.) u. a. Herbst, Handbuch des österreichischen Strafrechts (7. Aufl., Wien 1883, 2 Bde.); Janka, Österreichisches S. (Prag 1884); Nypels, Le droit pénal francais progressif et comparé (Par. 1864). Zeitschriften: "Der Gerichtssaal" (seit 1874 verschmolzen mit der von v. Holtzendorff seit 1861 herausgegebenen "Allgemeinen deutschen Strafrechtszeitung"); Goltdammers "Archiv für preußisches (und seit 1871 auch für deutsches) S."; "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (seit 1881); "Rivista penale di dottrina, legislazione e giurisprudenza" (seit 1874). Die Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen werden unter dem Titel: "Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen" von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft herausgegeben.
Strafrechtstheorien, s. Strafrecht, S. 363.
Strafregister (Strafliste), das amtliche Verzeichnis der in dem Bezirk der Registerbehörde ergehenden gerichtlichen Verurteilungen. Wird dann aus diesem allgemeinen S. ein Auszug angefertigt, enthaltend die Bestrafungen einer einzelnen bestimmten Person, so erhält man die Strafliste (das Strafregister, Strafverzeichnis) ebendieser Person. Ein solches S. ist für die rechtliche Beurteilung einer Person vielfach von großer Wichtigkeit. Für das Deutsche Reich ist jetzt durch Verordnung des Bundesrats vom 16. Juni 1882 die Führung von Strafregistern allgemein vorgeschrieben (vgl. "Zentralblatt für das Deutsche Reich", S. 309). In diese S., welche nach bestimmten Formularen zu führen sind, werden alle durch richterliche Strafbefehle, polizeiliche Strafverfügungen, Strafurteile der bürgerlichen Gerichte, einschließlich der Konsulargerichte, sowie durch Strafurteile der Militärgerichte ergehenden rechtskräftigen Verurteilungen eingetragen und zwar wegen eigentlicher Verbrechen und Vergehen sowie wegen folgender Übertretungen: Bruch der Polizeiaufsicht oder der Ausweisung aus dem Reichsgebiet, Landstreicherei, Bettelei, das strafbare Verhalten derjenigen Personen, welche sich dem Spiel, dem Trunk oder dem Müßiggang dergestalt hingeben, daß sie in einen Zustand geraten, in welchem zu ihrem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu deren Ernährung sie verpflichtet, durch Vermittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß, gewerbsmäßige Unzucht unter Verletzung polizeilicher Vorschriften, Arbeitsscheu der aus öffentlichen Armenmitteln Unterstützten und selbstverschuldete Obdachlosigkeit. Ausgenommen sind die Verurteilungen in den auf Privatklage verhandelten Sachen, in Forst- und Feldrügesachen, wegen Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle und wegen gewisser militärischer Verbrechen und Vergehen. In die S. sind ferner die Beschlüsse der Landespolizeibehörden über die Unterbringung verurteilter Personen in ein Arbeitshaus oder deren Verwendung zu gemeinnützigen Arbeiten, desgleichen die aus dem Ausland eingehenden Mitteilungen über dort erfolgte Verurteilungen einzutragen. Bezüglich derjenigen Verurteilten, deren Geburtsort nicht zu ermitteln oder außerhalb des Reichsgebiets gelegen ist, wird das S. bei dem Reichsjustizamt in Berlin geführt, während im übrigen die Registerführung den zuständigen Behörden bezüglich aller Personen obliegt, deren Geburtsort im Bezirk derselben gelegen ist. Diese Behörden sind in Preußen und in den meisten übrigen deutschen Staaten die Staatsanwalte bei den Landgerichten, in Bayern und in Bremen die Amtsanwalte, in Sachsen und Baden die Amtsgerichte, in Württemberg die Ortsvorstände jeder Gemeinde und in Elsaß-Lothringen die Gerichtsschreibereien der Landgerichte. Die Auf-
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Strafsachen - Strafverfahren.
sicht und Leitung der Registerführung liegt unter allen Umständen der Staatsanwaltschaft bei den Landgerichten ob. Die nötigen Mitteilungen über die erfolgten Verurteilungen sind von den betreffenden Behörden an die Registerbehörde des Geburtsorts oder, sofern diese Behörde der mitteilenden Behörde nicht bekannt ist, an die Staatsanwaltschaft desjenigen Landgerichts, zu dessen Bezirk der Geburtsort gehört, zu richten. Ist der Geburtsort nicht zu ermitteln oder außerhalb Deutschlands gelegen, so ergeht die Mitteilung an das Reichsjustizamt. Diese Strafnachricht erfolgt nach vorschriftsmäßigem Formular. Gerichtlichen und andern öffentlichen deutschen Behörden ist auf jedes eine bestimmte Person betreffende Ersuchen über den Inhalt der S. kostenfrei amtliche Auskunft zu erteilen. Ersuchen und Auskunft erfolgen nach vorgeschriebenem Formular. Inwieweit auswärtigen Behörden solche Auskunft zu erteilen, bestimmt die jeweilige Landesregierung und in Ansehung des bei dem Reichsjustizamt geführten Registers der Reichskanzler. Eine internationale Regelung dieser Sache steht in Aussicht. Vgl. Hamm, Die Einführung einheitlicher S. (Mannh. 1876).
Strafsachen, diejenigen Rechtsangelegenheiten, bei welchen es sich um die Untersuchung und Bestrafung von Verbrechen handelt. Ihre Behandlungsweise bestimmt sich nach den Rechtsgrundsätzen über den Strafprozeß (s. d.).
Strafsenat, Abteilung des Reichsgerichts (s. d.) oder eines Oberlandesgerichts (s. d.), welche mit der Bearbeitung von Strafsachen betraut ist.
Strafurteil (Straferkenntnis), die in einer strafrechtlichen Untersuchung erteilte richterliche Entscheidung, teilt sich in Haupt- oder Endurteile (sententiae detinitivae) und Zwischenurteile (s. interlocutoriae). Die erstern sind Entscheidungen in der Hauptsache, durch die ein Strafprozeß zu Ende gebracht wird; die andern werden gegeben, bevor die Untersuchung das zur Fällung eines Endurteils nötige Resultat geliefert hat, wie z. B. ein Beschluß über Eröffnung des Hauptverfahrens, über Zulässigkeit der Untersuchungshaft, Ablehnung eines Richters etc. Im engern Sinn versteht man jedoch unter S. nur dasjenige gerichtliche Urteil, welches das Hauptversohren abschließt (Endurteil), sei es durch Verurteilung, sei es durch Freisprechung, sei es endlich durch Einstellung des Verfahrens. Manche Kriminalisten bezeichnen endlich als S. lediglich das verurteilende Endurteil (s. Urteil).
Strafverfahren, sowohl Bezeichnung für eine einzelne strafrechtliche Untersuchung als für das Verfahren überhaupt, welches zum Zweck der Untersuchung und Bestrafung von verbrecherischen Handlungen stattfindet. Die Einleitung eines Strafverfahrens (einer strafrechtlichen Untersuchung, eines Straf-, Kriminalprozesses) ist heutzutage der Regel nach Sache der Staatsanwaltschaft. Nur ausnahmsweise ist es dem Verletzten überlassen, sein durch strafbares Unrecht angeblich verletztes Recht vor Gericht selbst zu verfolgen, so nach deutschem Strafprozeßrecht bei einfachen Beleidigungen und bei leichten Körperverletzungen im Weg der Privatklage (s. d.). Die Staatsanwaltschaft, bei leichtern Vergehen und Übertretungen die Amtsanwaltschaft, schreitet ein auf erstattete Anzeige, welche jedoch nicht nur bei dem Staats- oder Amtsanwalt, sondern auch bei den Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sowie bei den Amtsgerichten angebracht werden kann. Bei Antragsverbrechen (s. d.), welche nur auf Antrag des Verletzten strafrechtlich verfolgt werden, bedarf es eines förmlichen Antrags. Das S. selbst zerfällt in ein Vorverfahren und ein Hauptverfahren. Ersteres hat den Zweck, festzustellen, ob gegen eine bestimmte Person wegen eines bestimmten Verbrechens das Hauptversohren zu eröffnen sei. Zweck des Hauptverfahrens dagegen ist es, festzustellen, ob der Angeklagte des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig sei. Bezüglich des Vorverfahrens ist zwischen dem Vorbereitungsverfahren (Ermittelungs-, Skrutinialverfahren) und der Voruntersuchung (s. d.) zu unterscheiden. In dem erstern ist hauptsächlich die Staatsanwaltschaft mit Unterstützung der Polizeibehörden thätig. Sie kann aber auch den Einzelrichter in Anspruch nehmen, welch letzterer bei Gefahr im Verzug schleunige Untersuchungshandlungen auch von Amts wegen vorzunehmen hat. Das Vorbereitungsverfahren richtet sich zunächst nicht notwendig gegen eine bestimmte Person; es handelt sich vielmehr bei demselben vor allen Dingen um die Frage, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt, und im Bejahungsfall demnächst allerdings auch um die Ermittelung des Thäters. Bei der Voruntersuchung dagegen steht ein bestimmter Angeschuldigter und ein bestimmtes Verbrechen in Frage. Die Voruntersuchung wird von dem Richter (Untersuchungsrichter) geführt, und Zweck derselben ist es, durch Klarstellung des Sachverhalts eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob das Hauptverfahren gegen den Angeschuldigten zu eröffnen, oder ob derselbe außer Verfolgung zu setzen sei. Die Eröffnung des Hauptverfahrens (s. d.) setzt eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft voraus; sei es, daß sie auf Grund des Vorbereitungsverfahrens, sei es, daß sie auf Grund der Voruntersuchung eingereicht wird. Das Vorbereitungsverfahren schließt entweder mit der Einleitung der Voruntersuchung, oder mit der Eröffnung des Hauptverfahrens, oder aber mit der Einstellung (s. d.) des Strafverfahrens durch den Staatsanwalt ab. Ist dagegen eine Voruntersuchung geführt, so beschließt das Gericht darüber, ob das Hauptverfahren zu eröffnen, oder ob das S. definitiv oder vorläufig einzustellen sei. Das Hauptverfahren selbst findet vor dem erkennenden Gericht (s. d., S. 166) statt. Der Schwerpunkt des Hauptverfahrens, wie derjenige des ganzen Strafverfahrens, liegt in der Hauptverhandlung (s. d.). Diese schließt mit dem Urteil ab, welches entweder ein freisprechendes oder ein verurteilendes und nur ausnahmsweise auf Einstellung der Untersuchung gerichtet ist. Natürlich braucht durchaus nicht jede Strafsache alle drei Stadien des Strafverfahrens, Vorbereitungsverfahren, Voruntersuchung und Hauptverhandlung, zu durchlaufen. Doch ist die Voruntersuchung bei den vor das Reichsgericht oder vor das Schwurgericht gehörigen Strafsachen notwendig, bei den Schöffengerichtssachen dagegen unzulässig (deutsche Strafprozeßordnung, § 176). An das S. in erster Instanz kann sich ein Verfahren in der Instanz der Rechtsmittel (s. d.), möglicherweise auch einmal ein Verfahren zum Zweck der Wiederaufnahme des Verfahrens anschließen. Dem rechtskräftigen verurteilenden Straferkenntnis folgt die Strafvollstreckung. Als besondere Arten des Strafverfahrens sind nach der deutschen Strafprozeßordnung folgende zu nennen: 1) das S. bei dem amtsgerichtlichen Strafbefehl (s. d.); 2) das S. nach vorangegangener polizeilicher Strafverfügung (s. d.); 3) das S. bei dem Strafbescheid (s. d.) der Verwaltungsbehörden (administratives S.); 4) das Verfahren gegen Abwesende, welche sich der Wehrpflicht entzogen haben; 5) das S. bei Einziehungen und
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Strafverfügung - Strahlapparate.
Vermögensbeschlagnahmen (objektives S.). Bei dem letztern besteht die Eigentümlichkeit, daß die Hauptverhandlung auch dann stattfindet, wenn die Strafverfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person nicht ausführbar ist. Im einzelnen richtet sich das S. nach den Vorschriften des Strafprozeßrechts (s. Strafprozeß).
Strafverfügung, s. Strafbefehl.
Strafversetzung, Disziplinarstrafe, welche in der Versetzung eines Beamten in ein andres Amt von gleichem Rang besteht; zumeist mit einer Schmälerung des Gehalts verbunden, welche z. B. nach dem deutschen Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873, § 75, nicht über ein Fünftel des Diensteinkommens betragen soll. Statt der Verminderung des Diensteinkommens kann auch eine Geldstrafe ausgesprochen werden, welche ein Drittel des jährlichen Diensteinkommens nicht übersteigt.
Strafverzeichnis, s. Strafregister.
Strafvollstreckung, s. Zwangsvollstreckung.
Strafzwang, s. Strafrecht, S. 362.
Stragelkaffee, s. Astragalus.
Strahl, Vogel, s. Star.
Strahlapparate, mechanische Vorrichtungen zum Heben oder Fortschaffen von flüssigen, gasförmigen oder körnigen und schlammigen Körpern mittels eines unter Druck, also mit einer gewissen Geschwindigkeit, ausströmenden Strahls einer Flüssigkeit oder Luftart. Die hierbei erforderliche Bewegungsübertragung von der bewegenden auf die Förderflüssigkeit findet nicht, wie etwa bei den Kolbenpumpen, durch direkten Druck, sondern durch die bei der Ausströmung angesammelte lebendige Kraft statt. An Fig. 1 läßt sich der Vorgang erklären. Der aus dem kegelförmigen Mundstück (Düse) M des Rohrs A austretende Strahl reißt die ihn umgebende Flüssigkeit, welche durch das Rohr B in den Raum D gelangen kann, mit sich in die Mündung (Fangdüse) des Rohrs C fort. Die beim Eintritt in das Rohr C in der Mischflüssigkeit vorhandene Geschwindigkeit wird durch allmähliche Erweiterung von C in Druck umgewandelt, welcher die Überwindung einer gewissen Steighöhe oder das Eindringen in einen unter Druck stehenden Raum gestattet. Bei der Übertragung der Geschwindigkeit von der bewegenden auf die bewegte Flüssigkeit finden bedeutende Kraftverluste statt, welche den Nutzeffekt der S. um so ungünstiger beeinflussen, je größer der Unterschied zwischen dem spezifischen Gewicht der beiden zur Verwendung kommenden Flüssigkeiten ist; mithin werden die S. die Kraft des bewegenden Mediums am besten übertragen, wenn der bewegte Körper denselben Aggregatzustand hat wie jenes (wenn also z. B. Wasser durch einen Wasserstrahl, Luft durch einen Dampfstrahl bewegt wird). Trotzdem werden vielfach S. mit Medien verschiedenen Zustandes verwendet (der bei weitem verbreitetste Strahlapparat, der Injektor, wirkt mit Dampf auf Wasser), einerseits, weil die S. außerordentlich einfach und billig sind, keiner besondern Kraftmaschine bedürfen, sehr geringe Dimensionen haben und wegen Mangels aller beweglichen Teile weder Reparatur- noch Schmierkosten verursachen, anderseits, weil die bei Verwendung von Dampf auftretende Erwärmung der Förderflüssigkeit oft erwünscht ist (z. B. in Badeanstalten, bei Dampfkesseln etc.). Wegen der genannten Vorzüge haben die S. in den letzten Jahrzehnten eine ausgedehnte Verwendung überall da gefunden, wo eine gute Ausnutzung der vorhandenen Betriebskraft erst in zweiter Linie berücksichtigt zu werden braucht. Um die Verbreitung der S. und die Anpassung derselben an alle möglichen speziellen Verhältnisse haben sich in Deutschland besonders Gebr. Körting in Hannover verdient gemacht.
Verwendungsarten der S. 1) Das bewegende Medium ist tropfbarflüssig (Druckwasser mit natürlichem oder künstlichem Gefälle). - Wasserstrahlpumpen (s. Pumpen) eignen sich zum Entwässern von Kellern und Baugruben, zum Entleeren von Jauchegruben, nach Körting als Hilfsapparate in Bergwerken etc. Bei Körtings Schlammelevatoren (Fig. 2) zum Reinigen der Brunnen von Triebsand, Fortschaffen von Baggerschlamm, Heben von Kohlenschlamm etc. wird ein Teil des durch das Rohr b zufließenden Betriebswassers bei a ausgespritzt, um den Schlamm etc. aufzurühren, worauf derselbe mit viel Wasser durch eine Wasserstrahlpumpe d gehoben wird und bei c abfließt. Wasserstrahlluftpumpen finden in Apotheken und Laboratorien Verwendung. Körtings Wasserstrahlkondensatoren, s. Dampfmaschine, S. 462. Wassertrommelgebläse (s. Gebläse, S. 977) sind die ältesten, schon seit Jahrhunderten bekannten S., welche in verbesserter Form in Laboratorien gebraucht werden. 2) Das bewegende Medium ist luftförmig (fast ausschließlich Dampf). Dampfstrahlgebläse (s. Gebläse, S. 978) finden entweder zum Eindrücken von Luft Verwendung (Körtings Unterwindgebläse bei Feuerungsanlagen, Rührgebläse, welche durch Einblasen von Luft in die umzurührende Flüssigkeit arbeiten, Luftdruckapparate zur Absorption von Gasen durch Flüssigkeiten, Regeneriergebläse für Gasreinigungsapparate, Kohlensäuregebläse für Zuckerfabriken etc.), oder dienen zum Ansaugen von Luft oder andern Gasen (Blasrohr an Lokomotiven, Körtings Schornsteinventilatoren, Ventilatoren für Bergwerke, Ventilatoren für Trockenapparate, Filtrierapparate, Papiermaschinen, Dampfstrahlgasexhaustoren für Teerschwelereien und Gasfabriken, Exhaustoren für Eisenbahnbremsen etc.). Lnftstrahlgebläse werden in Bergwerken mit komprimierter Luft betrieben und dienen zur Ventilation vor Ort. Körtings Ventilator für Eisenbahnwagen benutzt den durch die Bewegung des Wagens und den
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Strahlbeinslahmheit - Strahlenbrechung.
Wind hervorgebrachten Luftstrom. Ein solcher Ventilator (Fig. 3) wird oben auf die Wagendecke gesetzt und mit dem Innern des Wagens durch eine Röhre C verbunden. Der Luftstrom tritt durch A in den Raum B und wirkt hier saugend, so daß durch C Luft emporsteigt und mit der Betriebsluft bei D ins Freie tritt. Ein kleiner Schieber, welcher unterhalb des Saugrohrs C angebracht wird, gestattet die Regulierung der Ventilation von seiten der Passagiere. Der ganze obere Teil ist um den Zapfen E drehbar und kann sich deshalb immer nach der Zug-, resp. Windrichtung einstellen. Injektoren (s. d.) benutzen die Kondensierung des aus dem zu speisenden Kessel entnommenen Betriebsdampfs durch das Förderwasser dazu, dem letztern eine Geschwindigkeit zu erteilen, welche höher ist als die dem Druck in dem Kessel entsprechende Wassergeschwindigkeit. Es ist das dadurch möglich, daß der Dampf, der bei seinerAusströmung aus der Dampfdüse des Injektors unter der Einwirkung des Kesseldrucks eine viel bedeutendere Geschwindigkeit annimmt als ein unter gleichem Druck ausströmender Wasserstrahl, diese bei der Kondensation mit dem Förderwasser austauscht. Dampfstrahlpumpen oder Ejektoren, welche zum Fördern von Wasser mittels eines Dampfstrahls dienen, wirken, was die Kraftausnutzung betrifft, sehr ungünstig, können aber doch da, wo es auf die Übertragung der Wärme ankommt, recht vorteilhaft sein, so zur Wasserförderung in Badeanstalten, zum Füllen der Tender aus Brunnen von der Lokomotive aus, als Zirkulationsvorrichtungen für Bleich- und Waschapparate etc. Zum Heben von Säuren, Laugen, sauren Wassern etc. fertigt Körting Dampfstrahlpumpen von Porzellan. Körtings Dampfstrahlfeuerspritzen sind als Hausspritzen, Fabrikspritzen etc. da zweckmäßig, wo Dampfkessel vorhanden sind; es bedarf dann nur der Öffnung eines Dampfventils, um die Spritzen in Betrieb zu setzen. Dampfstrahlschlammelevatoren sind in ähnlicher Weise wie die Wasserstrahlschlammelevatoren konstruiert. Dampfstrahlanwärmeapparate wirken in der Weise, daß ein Dampfstrahl, welcher in das anzuwärmende Wasser eingeführt wird, das umgebende Wasser ansaugt, seine Wärme an dasselbe abgibt und es mit einer gewissen Geschwindigkeit vor sich hertreibt, so daß immer neue Wasserteile zum Apparat gelangen. Zerstäuber dienen zur nebelartigen Verteilung von wohlriechenden Flüssigkeiten mittels eines Luftstrahls (die sogen. Rafraichisseure oder Refrigeratoren), von Petroleum in Feuerungsanlagen mittels eines Dampfstrahls etc. Um feste Körper durch einen Dampfstrahl zu heben, wird die Geschwindigkeit des Dampfes zunächst auf atmosphärische Luft übertragen. Bei einem Kornelevator (Fig. 4 u. 5) wird das Heben des Getreides dadurch bewirkt, daß mittels des Dampfstrahlapparats r in dem Sammelgefäß d eine Luftverdünnung hervorgebracht wird, die sich in das Steigrohr e fortsetzt, die mit großer Geschwindigkeit nachtretende Luft reißt das im Fülltrichter a (Fig. 5) befindliche Korn empor bis in das Sammelgefäß d (Fig. 4), wo infolge der plötzlichen Geschwindigkeitsverringerung das Korn zu Boden fällt, während staubförmige Verunreinigungen mit der Luft durch r und f abgehen; g ist das Dampfzuführungsrohr.
Strahlbeinslahmheit, s. Hufgelenkslahmheit.
Strahlblüten, s. Kompositen.
Strahlegg, Gebirgssattel zwischen dem Finsteraarhorn und Schreckhorn in den Berner Alpen, 3373 m hoch, schwierige, aber sehr lohnende Gletscherpartie.
Strahlenblende, s. Zinkblende.
Strahlenbrechung, die Veränderung der Richtung, welche die Lichtstrahlen bei ihrem Übergang aus einem Mittel in ein andres erleiden. Tritt der Lichtstrahl aus einem dünnern Medium in ein dichteres über, so wird er nach dem Einfallslot zu gebrochen. Dies findet z.B. statt, wenn das Licht der Gestirne in unsre Atmosphäre tritt, und wir sehen daher die Gestirne nicht nach der Richtung hin, wo sie sich wirklich befinden, und wo wir sie sehen würden, wenn die Atmosphäre fehlte. Diese Veränderung des scheinbaren Ortes der Gestirne nennt man die astronomische S. oder Refraktion. Sie vermindert alle Zenitdistanzen, d. h. wir sehen alle Gestirne in einer größern Höhe, als wir sie ohne Refraktion sehen würden,
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Strahlende Materie - Stralsund.
und zwar ist diese Vermehrung der Höhe um so bedeutender, je näher dem Horizont ein Stern steht: während sie im Zenith gleich Null ist, beträgt sie im Horizont 33-35 Bogenminuten. Daher ist die S. auch Ursache, daß die Gestirne für jeden Ort früher auf- und später unterzugehen scheinen, als sie in der That durch den Horizont dieses Ortes gehen. Dies hat zunächst eine Verlängerung des Tags zur Folge (bei uns um 4 Minuten), die in der Polarzone am beträchtlichsten ist, da dort die Sonne mehrere Tage, ja Wochen über dem Horizont gesehen wird, obschon sie unter ihm steht. Die S. ist ferner der Grund, warum Sonne und Mond nahe am Horizont stark abgeplattet erscheinen.
Strahlende Materie, s. Geißlersche Röhre, S. 30.
Strahlenkranz wird in der antiken Kunst allen Lichtgottheiten gegeben, vorzugsweise dem Helios (Sol), der Selene, der Eos, dem Phosphoros und Hesperos (vgl. Nimbus). - In der Anatomie (Corona ciliaris) s. Auge, S. 74.
Strahlerz (Klinoklas, Abichit, Aphanesit, Siderochalcit), Mineral aus der Ordnung der Phosphate, findet sich in glasglänzenden, monoklinen Kristallen und in radialstängeligen Aggregaten, ist spangrün bis blaugrün, glasglänzend, kantendurchscheinend, Härte 2,5-3, spez. Gew. 4,2-4,5, besteht aus wasserhaltigem Kupferarseniat Cu3As2O8 + 3H2CuO2, mit 50 Proz. Kupfer, findet sich auf englischen Kupfererzgängen und bei Saida.
Strahlgebläse, s. Strahlapparate.
Strahlkies, s. Markasit.
Strahlpumpe, s. Strahlapparate.
Strahlstein, s. Hornblende.
Strahlsteinschiefer, Gestein, s. Hornblendefels.
Strahltiere, s. Radiaten.
Strahlungsmesser, s. Radiometer.
Strahlzeolith, s. Desmin.
Strähne, s. Strang und Garn, S. 911.
Strait (engl., spr. streht), Straße, Meerenge.
Straits Settlements (spr. strehts), engl. Provinz auf der hinterindischen Halbinsel Malakka, 3742 qkm (68 QM.) groß mit (1887) 536,000 Einw., besteht aus den unter sich durch Vasallenstaaten getrennten Inseln und Landschaften: Singapur (Insel), Wellesley mit Pinang (Insel) und Malakka. Sitz des Gouverneurs ist Singapur. 1886 betrugen die Einfuhr 20,151,763, die Ausfuhr 17,459,312 Pfd. Sterl., der Schiffsverkehr 7,491,099 Ton., die öffentlichen Einnahmen 671,427, die Ausgaben 626,302, die Schuld 40,700 Pfd. Sterl. Es waren eine Eisenbahn von 45 km und Telegraphenlinien von 611 km Länge im Betrieb. Bis 1867 unterstanden die S. der indischen Regierung, seither dem englischen Kolonialamt.
Strakonitz, Stadt im südwestlichen Böhmen, an der Wotawa und der Staatsbahnlinie Wien-Eger, Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, mit einem Schloß des Johanniterordens aus dem 13. Jahrh., einer Dechantei- und 3 andern Kirchen, bedeutender Fabrikation von Wirkwaren und orientalischen Fes, Bierbrauerei, lebhaftem Handel und (1880) 5835 Einw. S. ist Geburtsort des Dichters Celakovsky. Dabei Neu-S. mit 2064 Einw.
Stralau (Stralow), Dorf im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Niederbarnim, auf einer Halbinsel in der Spree und an der Berliner Ringbahn, mit Berlin durch Dampfschiffahrt verbunden, hat eine evang. Kirche, Jutespinnerei und -Weberei, Teppich-, Anilin-, Margarin-, Palmkernöl-, Palmkernmehl-, Maschinen- und Schwefelkohlenstofffabrikation, Gärtnerei, Fischerei u. (1885) 737 Einw. S. ist ein uraltes Fischerdorf; alljährlich findet hier 24. Aug. eins der bekanntesten Berliner Volksfeste, der "Stralauer Fischzug", statt. Vgl. Beringuier in "Der Bär" 1876.
Stralsund, Hauptstadt des gleichnamigen Regierungsbezirks in der preuß. Provinz Pommern und Stadtkreis, bis 1873 auch Festung, am Strelasund, der Rügen vom Festland scheidet, Knotenpunkt der Linien Berlin-S., Angermünde-S., Rostock-S. und S.-Bergen der Preußischen Staatsbahn, hat 3 Land- und 4 Wasserthore, 5 evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge und (1885) mit der Garnison (2 Bat. Infanterie Nr. 42) 28,984 Einw. (darunter 998 Katholiken und 126 Juden), welche Spielkarten-, Lack- und Firnis-, Zigarren-, Strohhülsen-, Leinenwaren-, Glaceehandschuh-, Konserven-, Seifen-, Stärke-, Maschinen-, Kumt-, Möbel- und Thonwarenfabrikation, Fischerei, Ziegelbrennerei, Bierbrauerei etc. betreiben, auch hat S. eine große Öl- und eine Dampfkunstmühle mit Getreidebrennerei. Der Handel, unterstützt durch eine Handelskammer und eine Reichsbanknebenstelle wie durch die lebhafte Schifffahrt (dabei regelmäßiger Postdampferverkehr mit Malmö in Schweden), befaßt sich vorzugsweise mit Heringen, geräucherten Aalen, Steinkohlen, Getreide und Hülsenfrüchten, Kolonialwaren, Wolle, Öl etc. Die Reederei zählte 1887: 164 Schiffe zu 21,712 Registertonnen, in den Hafen liefen ein 1886: 701 Schiffe zu 86,522 Registertonnen; es liefen aus: 598 Schiffe zu 82,737 Registertonnen. S. hat ein Gymnasium, ein Realgymnasium, eine Prüfungskommission für Steuermänner und Schiffer, eine Navigationsschule, eine Taubstummenanstalt, ein durch seine Fassade interessantes Rathaus (1306) mit Rügenschen Altertümern, ein Theater, eine Anstalt für Irre und Sieche, ein Fräuleinstift, eine Lotsenstation, ein Seebad etc. Sonst ist S. Sitz einer königlichen Regierung, eines Amtsgerichts, einer Forstinspektion, eines Hauptzollamtes, von 9 Konsuln etc. Auf dem Knieperkirchhof das Grab Ferdinand v. Schills. - S. wurde 1209 von Jarimar I., Fürsten von Rügen, gegründet und bald eins der bedeutendsten Mitglieder der Hansa. Obwohl den Herzögen von Pommern unterthan, wußte sich die Stadt auch später im Besitz einer fast reichsfreien Stellung zu erhalten. 1429 belagerten die Dänen die Stadt, erlitten aber auf der kleinen vor der Stadt gelegenen Insel Strela eine Niederlage, woher jene Insel den Namen Dänholm erhalten hat. 1628 schloß S. ein Bündnis mit Gustav Adolf von Schweden und wurde von Wallenstein belagert. Die Belagerung dauerte vom 23. Mai bis 4. Aug., an welchem Tag Wallenstein mit einem Verlust von 12,000 Mann unverrichteter Sache abziehen mußte. Im Westfälischen Frieden 1648 wurde S. an Schweden abgetreten. Am 15. Okt. 1678 mußte es sich nach einem heftigen Bombardement dem Großen Kurfürsten ergeben, kam aber schon 1679 an Schweden zurück. Im Nordischen Krieg wurde die Stadt 1715 von den vereinigten Preußen, Sachsen und Dänen belagert und 23. Dez. von den Schweden durch Kapitulation geräumt, aber ihnen schon 1720 zurückgegeben. Im Juli 1807 kamen die Franzosen durch Kapitulation in den Besitz der Stadt und ließen die Festungswerke schleifen. Am 31. Mai 1809 wurde die von Schills Freischar besetzte Stadt von Dänen, Holländern
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Stralzio - Strandläufer.
und Oldenburgern erstürmt. Durch den Kieler Frieden vom 14. Jan. 1814 kam S. nebst ganz Schwedisch-Pommern an Dänemark und von diesem durch Vertrag vom 4. Juni 1815 an Preußen. Vgl. Mohnike und Zober, Stralsundische Chroniken (Strals. 1833-34, 2 Bde.); Kruse, Geschichte der Stralsunder Stadtverfassung (das. 1848); Fock, Wallenstein und der Große Kurfürst vor S. (Bd. 6 der "Rügensch-pommerschen Geschichten", Leipz. 1872).
Der Regierungsbezirk S. (s. Karte "Pommern") umfaßt 4010 qkm (72,83 QM.) mit (1885) 210,165 Einw. (darunter 207,004 Evangelische, 4268 Katholiken und 196 Juden), und fünf Kreise:
Kreise QKilometer QMeilen Einwohner Einw. auf 1QKil.
Franzburg 1102 20,01 41985 38
Greifswald 962 17,47 58551 61
Grimmen 959 17,42 35606 37
Rügen 968 17,58 45039 47
Stralsund (Stadt) 9 0,34 28894 -
Stralzio (ital. stralcio, "gütlicher Vergleich"), in Österreich s. v. w. Liquidation, Geschäftsauflösung; stralzieren, s. v. w. liquidieren.
Stramberg, Stadt in der mähr. Bezirkshauptmannschaft Neutitschein, an der Lokalbahn Stauding-S., mit altem Schloß, Baumwollweberei, Samtbandfabrikation, Kalkbrennerei und (1880) 2282 Einw.
Stramin, s. Kanevas.
Strand, s. Küste.
Strand (spr. strännd), eine der Hauptverkehrsadern Londons, verbindet Charing-Croß mit der City. Zahlreiche Theater liegen dort oder in der Nähe.
Strandämter, s. Strandung.
Strandbatterien, s. Festung, S. 187.
Strandbehörden, s. Strandung.
Strandberg, Karl Wilhelm, schwed. Dichter und Publizist, geb. 16. Jan. 1818 zu Stigtamta in Södermanland, studierte zu Lund, ließ sich 1840 in Stockholm als Schriftsteller nieder und übernahm in der Folge die Redaktion der "Post- och Inrikes-Tidningar" ("Post- und Reichszeitung"), die er bis zu seinem Tod führte. Er starb 5. Febr. 1877 als Mitglied der schwedischen Akademie. Als Dichter erwarb er sich zuerst durch seine unter dem Pseudonym Talis Qualis veröffentlichten, politisch gefärbten "Sangar i pansar" ("Geharnischte Lieder", 1835), durch die ein Zug nordischer Kraft und Einfachheit geht, einen gefeierten Namen. In spätern Jahren erschien ein zweiter Band Gedichte, die einen weichern und innigern Ton anschlugen, aber sich nicht minder als die ersten durch begeisterte Vaterlandsliebe, Adel der Gesinnung u. Formvollendung auszeichneten. Umfangreicher als seine Originalarbeiten sind seine vortrefflichen metrischen Übersetzungen, unter denen wohl der genialen Übertragung von Byrons "Don Juan" und poetischen Erzählungen der erste Rang gebührt. Seine "Samlade vitterhetsarbeten" erschienen Stockholm 1877-78 in 2 Bänden.
Strandelster, s. v. w. Austerndieb (s. d.).
Strandgut, die von einem gescheiterten, gestrandeten oder sonst verunglückten Schiff geretteten Güter und Schiffstrümmer. Dabei wird unterschieden zwischen S. im engern Sinn, den bei einer Seenot geborgenen Gegenständen; Seeauswurf, Gegenständen, welche außer dem Fall einer Seenot von der See auf den Strand geworfen werden; Strandtrift (strandtriftigem Gut), Gegenständen, die von der See gegen den Strand getrieben und vom Strand aus geborgen wurden; Wrackgut, versunkenen Schiffstrümmern oder sonstigen Gegenständen, die vom Meeresgrund heraufgebracht sind, und Seetrift (seetriftigem Gut), von welchem man dann spricht, wenn ein verlassenes Schiff oder sonstige besitzlos gewordene Gegenstände, in offener See treibend, von einem Fahrzeug geborgen werden. Alles S. ist an den Empfangsberechtigten gegen Bezahlung der Bergungskosten herauszugeben. Die Ermittelung des Empfangsberechtigten ist nach der deutschen Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 Sache der Strandämter (s. Strandung). Ist der Empfangsberechtigte auch durch das Aufgebotsverfahren nicht zu ermitteln, so werden Gegenstände, welche in Seenot vom Strand aus geborgen sind, desgleichen Seeauswurf und strandtriftiges Gut dem Landesfiskus, versunkenes und seetriftiges Gut aber dem Berger überwiesen. Die Höhe der Bergungskosten richtet sich nach den Bestimmungen des deutschen Handelsgesetzbuchs (s. Bergen). Von beschädigten, auf dem Weg des öffentlichen Ausgebots verkauften Strandgütern ist auf Antrag nur ein Zoll von 10 Proz. zu entrichten. Inländische Strandgüter, welche nach dem Auslaufen verunglücken, sind frei vom Eingangszoll.
Strandhafer, s. Elymus.
Strandhauptmann, s. Strandung.
Strandlachs, s. Forelle.
Strandläufer (Tringa L.), Gattung aus der Ordnung der Watvögel (Grallae) und der Familie der Schnepfen (Scolopacidae), Vögel mit geradem Schnabel, der länger als der Lauf, aber kürzer als der nackte Teil des Fußes, an der Spitze verdickt und verbreitert und nur an den Rändern der Oberschnabelspitze hornig ist. In den mittellangen, spitzen Flügeln ist die erste Schwinge am längsten, der Schwanz ist kurz, abgerundet, die Füße sind kurz, dick, der Lauf länger als die Mittelzehe, die Krallen sind kurz, stark gekrümmt. Die S. leben in den nordischen Gegenden der Alten und Neuen Welt an Gewässern, in deren Uferschlamm sie ihre Nahrung suchen; im Winter wandern sie, meist den Küsten entlang, in Scharen südwärts, im Frühling wieder nordwärts, nur selten geraten sie ins Binnenland. Alle haben im Sommer ein anders gefärbtes Gefieder als im Winter. Die etwa 25 Arten umfassende Gattung ist in mehrere Gattungen: Actodromas Kaup., Calidris IU., Limicola Koch, Arquatella Baird und Pelidna Cuv., geteilt worden. Roststrandläufer (Kanutsvogel, T. canuta L.), 25 cm lang, im Sommer oberseits schwarz mit rostroten Flecken, weißlichen Federspitzen und rostgelben Federsäumen, unterseits dunkel braunrot, im Winter oberseits aschblau, unterseits weiß, an der Unterkehle dunkel gefleckt ; der Schnabel schwarz, der Fuß grauschwarz. Er bewohnt den Norden der Alten Welt und weilt in Deutschland von August bis Mai an der Küste der Nord- und Ostsee, nistet aber nur im hohen Norden. Er ist sehr beweglich, fliegt und schwimmt gut und besitzt eine laute, pfeifende Stimme. Die Nahrung besteht in allerlei Kleingetier. Der Zwergstrandläufer (Raßler, T. [Actodromas] minuta Kaup), 14 cm lang, im Sommer oberseits schwarz mit rostroten Federkanten, an der Oberbrust hell rostfarben, fein braun gefleckt, unterseits weiß, im Winter oberseits dunkel aschgrau, braunschwarz gestrichelt; das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß grünlichschwarz. Er bewohnt den hohen Norden, findet sich aber an fast allen Meeresküsten Europas, Asiens, Afrikas und Australiens und weilt bei uns von August bis April. Er nistet in den Tundren Europas und Asiens. Seine Eier (s. Tafel "Eier II", Fig. 17) sind trüb gelblichgrau bis ölgrün,
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Strandlinien - Strangulieren.
aschgrau und dunkelbraun gefleckt. DerAlpenstrandläufer (T. [Pelidua] alpina Cuv.), 15-18 cm lang, im Sommer oberseits rotbraun, schwarz gefleckt, unterseits weiß mit schwarzen Schaftstrichen, an Unterbrust und Vorderbauch schwarz, im Winter oberseits aschgrau, unterseits weißlich; das Auge ist braun, Fuß und Schnabel schwarz. Er bewohnt den hohen Norden, brütet aber schon in Deutschland, wo er von August bis Mai verweilt, durchstreift im Winter mit Ausnahme von Australien und Polynesien die ganze Erde und erscheint auch oft in Scharen im Binnenland und im Gebirge. Er nistet an sandigen oder feuchten Stellen in der Regel nicht weit vom Meer auf dem Boden; die vier schmutzig ölfarbenen, dunkel ölbraun gefleckten Eier (s. Tafel "Eier II", Fig. 19) werden vom Weibchen allein ausgebrütet. Das Fleisch des Alpenstrandläufers ist sehr schmackhaft, und er wird daher in großer Zahl auf den Schnepfenherden erlegt oder gefangen.
Strandlinien, die durch den Anprall der Meereswogen an den die Küste bildenden Felsen und an Klippen hervorgebrachten Linien, welche sich zusammen mit Anhäufungen von Geröllen, Bruchstücken der Gehäuse von Meeresbewohnern und Zusammenschwemmungen von Meerestangen (Strandterrassen) sowie auch den Ansätzen (Balanen) oder den Einbohrungen (Bohrmuscheln) von Seetieren als ein das Ufer umziehender Saum oft meilenweit in ununterbrochenem Zusammenhang verfolgen lassen. Steigt das Land, und verschiebt sich dadurch die Grenzlinie zwischen Wasser und Land, so bleiben diese Signale als Produkte eines frühern, jetzt nicht mehr vorhandenen Zustandes zurück und bilden als alte S. für die Geologie wichtige Anhaltspunkte zur Kontrolle der Hebungserscheinungen (vgl. Hebung). Die Küsten Skandinaviens, Schottlands, Italiens etc. bieten zahlreiche Beispiele solcher oft zu dritt und mehr übereinander hinziehender alter S.
Strandpfeifer, s. Regenpfeifer.
Strandpflanzen, die den Seeküsten eigentümlichen Gewächse, von denen manche auch im Binnenland an Salinen als sogen. Salzpflanzen vorkommen; von Kräutern zahlreiche Chenopodiaceen, unter denen besonders die Gattungen Salsola und Salicornia zu nennen sind, ferner: Glaux maritima, Plantago maritima, Triglochin maritimum, Aster Tripolium, Artemisia maritima, Statice Limonium, Eryngium maritimum, Juncus maritimus, Lepturus filiformis, Crambe maritima. Cochlearia officinalis, Ammophila arenaria; von Holzpflanzen: Hippophae rhamnoides, in Südeuropa Pinus maritima und Pinus Pinea.
Strandrecht, s. Grundruhrecht.
Strandtrift (strandtriftiges Gut), Gegenstände, die infolge eines Seeunfalls von der See gegen den Strand getrieben und von dem Strand aus geborgen werden. Vgl. Strandung.
Strandung, das Auflaufen und Festsitzen eines Schiffs auf dem Strand, auf einer Klippe oder auf einer Sandbank. Wird die S. absichtlich bewirkt, um das Scheitern des Schiffs zu vermeiden, so gehört der dadurch verursachte Schade zur großen Havarie (s. d.). Die in verbrecherischer Absicht mit Gefahr für das Leben andrer herbeigeführte S. wird nach dem deutschen Strafgesetzbuch (§ 323) mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren und, wenn dadurch der Tod eines Menschen verursacht worden ist, mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Wurde eine S. fahrlässigerweise verursacht, so tritt (§ 326) Gefängnisstrafe ein. Wer endlich ein Schiff, welches als solches oder in seiner Ladung oder in seinem Frachtlohn versichert ist, sinken oder stranden macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und zugleich mit Geldstrafe von 150-6000 Mk. bestraft (§ 265). Für das Deutsche Reich ist das Strandungswesen im übrigen durch die Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 geregelt. Dieselbe handelt namentlich von den Strandbehörden, welchen die Sorge für die Rettung und Bergung der in Seenot befindlichen Personen und Güter anvertraut ist, ferner von dem Verfahren der Bergung und Hilfsleistung in Seenot, von den Bergungs- und Hilfskosten und von den Privatrechtsverhältnissen in Ansehung des sogen. Strandguts (s.d.). Als Strandbehörden fungieren Strandämter, welche das Strandgut zu verwalten und den Empfangsberechtigten, nötigen Falls nach einem Aufgebotsverfahren, zu übermitteln haben. Den Strandämtern sind Strandvögte untergeordnet, welchen das eigentliche Hilfs- und Rettungswerk obliegt. Ihrer Aufforderung zur Hilfsleistung müssen alle anwesenden Personen nachkommen, sofern sie dazu ohne erhebliche eigne Gefahr im stande sind. Sie sind ferner befugt, zur Rettung von Menschenleben die erforderlichen Fahrzeuge und Gerätschaften in Anspruch zu nehmen und jeden Zugang zum Strand zu benutzen. Der Vorsteher eines Strandamtes (Strandhauptmann) kann zugleich zum Strandvogt bestellt werden. Diese Strandbeamten sind Beamte der betreffenden Landesregierungen. Vgl. die Instruktion zur Strandungsordnung vom 24. Nov. 1875 ("Zentralblatt für das Deutsche Reich" 1875, S. 750).
Strandvogt, s. Strandung.
Strandwolf, s. Hyäne.
Strang (Strähne), ein Garnmaß, 1) für Leinengarn: = 10 Gebinde à 120 Fäden = 1200 Fäden = 2743,15 m; 2) für Baumwollgarn: a) englisch: = 560 Fäden à 1 1/2 Yards = 840 Yards = 768,08 m, b) französisch: = 10 Gebinde à 70 Fäden = 700 Fäden = 1000 m; 3) für Wollgarn: A. Kammgarn: a) deutsche Weife: 1 S. = 7 Gebinde à 80 Fäden = 560 Fäden (à 1 1/2 Yards) = 768,08 m, b) englische Weife: 1 S. = 7 Gebinde à 80 Fäden à 1 Yard = 512,05 m; B. Streichgarn: a) preußische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à 44 Fäden = 880 Fäden à 2 1/2 preußische Ellen = 1467,265 m, b) sächsische Weife (für Vicunnagarn): 1 S. = 5 Gebinde à 80 Fäden = 400 Fäden à 2 alte Leipziger Ellen = 452 m, c) böhmische Weife: 1 S. = 20 Gebinde à 44 Fäden = 880 Fäden à 2 Wiener Ellen = 1371,28 m; 4) für Seide: 1 S. = 4 Gebinde à 3000 Fäden à 1 m = 12,000 m.
Strange (spr. strehndsch), Robert, Kupferstecher, geb. 26. Juli 1721 auf der orkadischen Insel Pomona, ging nach Edinburg und schloß sich dort an den Prätendenten an, nach dessen Sturz er nach Paris flüchtete und unter Le Bas studierte. 1751 kam er nach London, reiste 1759 nach Italien, lebte dann mehrere Jahre in Paris und zuletzt in London, wo er 5. Juli 1792 starb. Er stach Blätter nach italienischen Meistern, besonders nach Tizian, auch nach van Dyck, die von schöner Wirkung sind. Zur Zeit der dominierenden Schwarzkunst kultivierte S. den edlern Linienstich. Vgl. Dennistoun, Memoirs of Sir R. S. (Lond. 1855, 2 Bde.).
Stranggewebe, in der Pflanzenanatomie das gesamte Gewebe der Gefäßbündel im Gegensatz zu dem Grundgewebe und Hautgewebe (s. d.).
Strangulieren (lat.), jemand erwürgen, indem man ihm einen Strang um den Hals legt und damit
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Strangurie - Straßburg.
die Luftröhre zuzieht, jedoch ohne den Hinzurichtenden dabei in die Höhe zu ziehen (s. Erdrosselung). Das S. war früher bei den Türken die gewöhnliche Todesstrafe und geschah bei den Vornehmen meist mittels einer ihnen überschickten seidenen Schnur.
Strangurie (griech.), s. Harnzwang.
Stranitzky, Joseph Anton, Schauspieler und Theaterprinzipal, geb. 10. Sept. 1676 zu Schweidnitz i. Schl., studierte zu Breslau und Leipzig, begleitete daraus einen schlesischen Grafen auf einer Reise nach Italien und ging nach seiner Rückkehr zur Bühne über. Im J. 1706 tauchte er in Wien auf, pachtete 1712 das Stadttheater am Kärntnerthor und wirkte hier bis zu seinem Tode, der am 19. Mai 1727 erfolgte. S. war der berühmteste Hanswurst seiner Zeit, ein Meister im Extemporieren und bei aller Derbheit reich an echter Komik. Er hatte aus Italien eine Menge von Szenen und Entwürfen mitgebracht, aus denen er Stücke zusammensetzte, die zum Teil auch gedruckt wurden, und veröffentlichte unter dem Titel: "Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi" (1722) eine Sammlung dramatischer Skizzen (d. h. Gespräche Hanswursts mit allerlei Leuten über allerlei Gegenstände in Versen und Prosa). Auch gab er eine "Lustige Reyßbeschreibung, aus Salzburg in verschiedene Länder" (o. J.) und "Hannswurstsche Träume" (o. J.) heraus. Vgl. Schlager, Wiener Skizzen (neue Folge, Wien 1839); "Der Wiener Hanswurst", ausgewählte Schriften von S. u. a. (das. 1885 ff.).
Stranniki, Sekte, s. Raskolniken.
Stranraer (spr. -rähr), Hafenstadt in Wigtownshire (Schottland), im Hintergrund von Loch Ryan, mit Austern- und Heringsfischerei und (1881) 6342 Einw. Eine Dampferlinie verbindet S. mit Belfast. Zum Hafen gehören (1887) 169 Fischerboote.
Strapaze (ital.), ermüdende Anstrengung; strapazieren, anstrengen, ermüden; strapaziös, ermüdend, beschwerlich.
Strasburg, 1) (Brodnica) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Marienwerder, an der Drewenz und der Linie Jablonowo-Lautenburg der Preußischen Staatsbahn, 75 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, ein Amtsgericht, ein Hauptzollamt, Ziegelbrennerei und (1885) mit der Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 14) 5462 meist kath. Einwohner. S. wurde 1285 neben der schon 1268 vorhanden gewesenen Burg angelegt. -
2) (S. in der Ukermark) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Prenzlau, an der Linie Stettin-Mecklenburgische Grenze der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evang. Kirchen, ein Amtsgericht, ein Kriegerdenkmal, eine Zuckerfabrik, ansehnliche Schuhmacherei, Töpferei und Ofenfabrikation, eine Eisengießerei und Maschinenfabrik, Lederfabriken, Molkerei und (1885) 5894 meist evang. Einwohner.
Strasburger, Eduard, Botaniker, geb. 1. Febr. 1844 zu Warschau, studierte seit 1864 in Bonn und Jena Naturwissenschaft, besonders Botanik, und habilitierte sich, nachdem er 1867 promoviert hatte, 1868 in Warschau als Privatdozent an der Hochschule, folgte aber schon 1869 einem Ruf als außerordentlicher Professor und Direktor des botanischen Gartens nach Jena und wurde 1871 zum ordentlichen Prosessor ernannt. Er bereiste wiederholt Italien und 1873 mit Häckel den Orient, besonders Ägypten und das Rote Meer. 1881 folgte er einem Ruf an die Universität Bonn. S. arbeitet vorzugsweise auf histologisch-entwickelungsgeschichtlichem Feld und speziell über die pflanzlichen Befruchtungsvorgänge und die Entwickelung der Befruchtungsorgane. Von seinen ältern Arbeiten sind hier zu nennen: "Die Befruchtung bei den Koniferen" (Jena 1869); "Die Bestäubung der Gymnospermen" (das. 1872) und "Die Koniferen und die Gnetaceen" (das. 1872). Durch seine Untersuchungen über die Pflanzenzelle, besonders in den Schriften: "Über Zellbildung und Zellteilung" (Jena 1875; 3. Aufl., das. 1880) und "Studien über Protoplasma" (das. 1876) u. a., wirkte S. wesentlich umgestaltend auf die Fortentwickelung der modernen Botanik ein. Von seinen fernern Arbeiten sind noch hervorzuheben: "Über Befruchtung und Zellteilung" (Jena 1878); "Die Angiospermen und die Gymnospermen" (das. 1879); "Die Wirkung des Lichts und der Wärme auf die Bewegung der Schwärmsporen" (das. 1878); "Über den Bau und das Wachstum der Zellhäute" (das. 1882); "Das botanische Praktikum" (2. Aufl., das. 1887); "Das kleine botanische Praktikum"(das. 1884); "Histologische Beiträge" (das. 1888 ff.).
Straschiripka, Johann von, Maler, s. Canon
Straschniks, die russischen Grenzwächter.
Straß, s. Edelsteine, S. 315, und Glas, S. 388.
Straßburg, ehemals reichsunmittelbares Bistum im oberrheinischen Kreise, schon in der Merowingerzeit entstanden, umfaßte anfangs Ober- und Unterelsaß nebst der Ortenau und einem Teil des Breisgaues; später wurden Teile des Elsaß zu gunsten der Bischöfe von Speier und Basel davon abgetrennt. Das bischöfliche Territorium enthielt im Niederelsaß sieben Ämter: Zabern, Kochersberg, Dachstein, Schirmeck, Benfeld, Markolsheim und Wengenau; im Oberelsaß: das Amt Rufach, die Vogtei Obersultz und die Lehen Freundstein, Herlisheim u. a. sowie diesseit des Rheins: das Amt Ettenheim und Herrschaften in derOppenau, wie Oberkirch und eine Zeitlang Ulmburg; zusammen 1322 qkm (24 QM.) mit 30,000 Einw. und 350,000 Gulden Einkünften. Der Bischof stand unter dem Erzstift Mainz, war deutscher Reichsfürst und blieb es auch, als er für das linksrheinische Land 1648 die Lehnshoheit Frankreichs anerkennen mußte, für seine diesseit des Rheins liegenden Besitzungen. Die französischen Besitzungen des Hochstifts wurden gleich zu Anfang der Revolution eingezogen; der in Schwaben gelegene Teil derselben (165 qkm mit 35,000 Guld. Einkünften) aber ward 1803 als Fürstentum Ettenheim dem Kurfürsten von Baden überlassen. 1802 wurde das ganze Elsaß dem Straßburger Sprengel überwiesen und das Bistum dem Erzbischof von Besancon untergeordnet; es steht jedoch seit 1871 unmittelbar unter dem Papst. Unter den Bischöfen von S. sind am bekanntesten: Leopold II. Wilhelm, Erzherzog von Österreich (1614-62, s. Leopold 20), Franz Egon und Wilhelm Egon von Fürstenberg (s. Fürstenberg 2 u. 3) und der Kardinal Louis René, Prinz von Rohan (s. d.). Vgl. Grandidier, Histoire de l'église et des évêques-princes de Strasbourg (Straßb. 1775-78, 2 Bde., bis zum 10. Jahrh. reichend); Fritz, Das Territorium des Bistums S. (das. 1885).
Straßburg (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt des deutschen Reichslandes Elsaß-Lothringen, des Bezirks Unterelsaß sowie des Land- und Stadtkreises S., Festung ersten Ranges, liegt 5 km vom Rhein entfernt, an der schiffbaren Ill, die hier die Breusch aufnimmt, am Rhein-Rhônekanal, welcher hier mit der Ill sich vereinigt, sowie am Rhein-Marnekanal, der nördlich der Stadt von der Ill ausgeht und als Illkanal diese mit einem Rheinarm (Kleiner Rhein) verbindet, unter 48° 35' nördl. Br. und 7° 45' östl. L. v. Gr., 150 m ü. M., u. zerfällt in ihrem Weichbild in acht Kantone. Die eigentliche (innere) Stadt wird durch die zwei-
[Artikel Straßburg.]
Namen-Register zum ,Plan von Straßburg'.
Die Buchstaben und Zahlen zwischen den Linien (E 2) bezeichnen die Felder der Karte.
Meyers Konv.-Lexikon, 4, Aufl.
Aar (Nebenarm der 111) E2
Akademie EF3
Akademie-Straße EF3
Allerheiligen-Gasse BC3
Alter Weinmarkt B4
Alt-St.-Peter-Kirche B4
Alt-St.-Peter-Platz B4
Am hohen Steg C3
Am Roseneck C2
Am Schießrain DE1
Anatomie D5,6
An d. Gewerbslauben C4
An der Esplanade FG3,4
Andlauer Straße B6
Apfjel-Straße D2
Arnold-Platz G2
Arsenal F3
Artillerie-Kaserne E4
Artillerie-Wallstraße DE5
Auf d. verbrannten Hof D3
Auf den Eisgruben BC5
Aurelien-Platz A5
Bahnhof, Zentral- A4
Bahnhof-Platz A4
Bahnhof-Ring A4
Bahnhof-Staden B3,4
Ballhaus-Gasse E4
Bank, Els.-Lothringer CD3
Bank, Reichs- C3
Barbara-Gasse, St. C4
Bauhof G4
Bei der Heuwage F4
Bergherrn-Gasse BC3
Bezirks-Gefängnis B5
Bezirks-Präsidium E2,3
Bibliothek D4
Bischöflicher Palast D3
Blauwolken-Gasse C3
Blessig-Straße F3
Botanischer Garten E3,F2
Brand-Gasse D3
Braut-Platz EF2
Broglie-Platz CD3
Brücke, Neue D4
Bruderhoffs-Gasse D3,4
Brumather Straße A3
Bucksweiler Straße AB2
Bürger-Hospital D5
Chirurgie C5
Citadelle H3,4
Citadellen-Allee G4
Clemens-Gasse B3
Clemens-Platz B3
Contades D1
Desaix-Staden B4
Deutsche Straße D1, 2
Dietrich-Staden E2,3
Dom-Platz D4
Düntzmühl-Kanal BC5
Ehnheimer Str., Ober- A6
Eiserne-Manns-Platz C4
Eisgruben, Auf den BC5
Elisabethen-Gasse, St. C5
Elsässer Straße F2
Elsaß-Lothring. Bank CD3
Elsbeth-Wallstraße C5,6
Esplanade G3
Esplanade, An der FG3,4
Esplanaden-Gasse F3
Esplanaden-Straße FG4
Feg-Gasse F3,4
Ferkel-Markt D4
Finkmatt C3
Finkmatt-Straße BC2
Finkweiler-Gasse BC5
Finkweiler-Staden C5
Fischart-Straße F2
Fischer-Gasse E3
Fischer-Staden E3
Fischerthor-Kaserne E3
Fisch-Markt D4
Fisch-Markt, Alter D4
Gasanstalt B3
Gaul-Staden EF4
Gedeckte Brücken B5
Gefängnis, Bezirks- B5
General-Kommando D3
Gerbergraben-Platz C4
Gerbergraben-Straße C4
Gestüt C5
Gewerbslauben, An d. C4
Goethe-Straße F2
Goldgießen D5
Grandidier-Straße E3
Groß-Metzig D4
Grünenbruch-Gasse B3
Gutenberg-Denkmal CD4
Gutenberg-Platz CD4
Gutleut-Gasse B2,3
Gymnasium C3
Hafen-Platz B5
Hafen-Staden B6
Hafen-Wallstraße B6
Hagenauer Platz B2
Handels-Gericht CD4
Haupt-Zollamt B3
Helenen-Gasse, St. C4
Helenen-Platz, E2
Hennen-Gasse E4
Hermann-Straße FG3
Heuwage, Bei der F4
Hospital, Bürger- D5
Hospital, Militär- F4
Johannes-Staden, St. B4
Juden-Brückchen D3
Juden-Gasse D3
Jung-St.-Peter-Kirche C3
Jung-St.-Peter-Platz C3
Junker-Straße E1
Justiz-Palast C3
Käfer-Gasse D4
Kagenecker Gasse B3,4
Kalbs-Gasse DE3,4
Kanal B4,CD2
Kasino, Deutsches Zivil- C3
Kasino, Offizier- CD3
Kasino, Zivil- C2
Katholisches Seminar D3,4
Kaufhaus-Gasse D4,5
Kellermann-Staden C3
Kinderspiel-Gasse B4
Kläber-Platz C4
Kleber-Staden BC3
Klöber-Denkmal C4
Klotz-Straße E2
Knoblochs-Gasse CD4,5
Koch-Staden E2,3
Kollegien-Haus EF2
Kommandantur C3
Königsbrücke E3
Königshofener Straße A5,6
Königs-Straße DE2,3
Krämer-Straße D4
Kreis-Direktion D3
Kriegs-Thor II A3
Kronenburger Ring AB3
Kronenburger Straße A3,B3,4
Kronenburger Thor A3
Kronenburger Wall-Straße A3
Krutenau-Straße E3 4
Kühnen-Gasse AB4
Langen-Straße BC4
Lazarett-Wallstraße EF4
Lehrer-Seminar C5
Lezai-Marnesia-Stad. D3
Lobstein-Straße F3
Lyceum D4
Magazin-Gasse A2,3
Magdal.-Gasse St. DE4
Manteuffel-Kaserne C1
Margareten-Gasse, St. AB5
Margareten-Kaserne AB5
Margareten-Wallstr AB5
Markt, Neuer C4
Martins-Brücke C5
Meisen-Gasse C3
Metzgergießen D4,5
Metzger-Platz E4,5
Metzger-Straße DE4,5
Metzger-Thor E5
Metzgerthor-Station E6
Militär-Baracken A6,G3
Militär-Hospital F4
Möller-Straße D2
Molsheimer Straße AB6
Moscherosch-Straße G2
Mühlen-Plan BC4,5
Müllenheim-Staden E1, 2
Münster D4
Münster-Gasse CD3
Münster-Platz D4
Murner-Straße F2
Musik-Kiosk D3
Musik-Konservator C3,4
Mutziger Straße A5
Neuer Markt C4
Neukirche C3,4
Neukirch-Platz C3,4
Niklaus-Brücke D5
Niklaus-Kaserne F3
Niklaus-Platz, St. F3
Niklaus-Staden, St. D4,5
Ober-Ehnheimer Str. A6
Odilien-Straße A6
Oktroi E5,H4
Palast-Straße D2
Pariser Brücke B3
Pariser — Staden B3,4
Pflanzbad B4
Pionier-Kaserne DE3
Polizei-Direktion D3
Post D4
Präfektur D3
Protest. Predigerstift C5
Raben-Brücke D4
Raben-Platz D4
Rathaus D3
Reformierte Kirche C4
Reichsbank C3
Renn-Gasse, Große AB4,5
Renn-Gasse, Kleine A4
Ring, Bahnhof A4
Ring, Kanal Hl,2
Roseneck, Am C2
Rosheimer Straße A5
Rothauer Straße A6
Ruprechtsauer Allee Fl,2
Saarburger Straße A2,3
Schöpflin-Staden CD2,3
Schießrain, Am DE1
Schiffahrts-Kanal B4,5
Schiffleut-Gasse E4
Schiffleut-Staden DE4
Schimper-Straße F3
Schirmecker Ring AB6
Schirmecker Thor A6
Schlachthaus B5
Schlachthaus-Platz B5
Schlachthaus-Staden B4,5
Schleuse, Große B5
Schloß D4
Schlosser-Gasse C4
Schloß-Platz D4
Schwarzwald-Straße GH2
Schweighauser Straße F2
Seelos-Gasse A4
Seminar, Kathol. D3,4
Seminar, Kathol. Lehrer- C5
Spieß-Gasse D4
Spital-Platz D5
Spital-Thor D5
Spitzmühl-Kanal B5
St. Aurelien-Kirche A5
St.—Johannes-Kirche B4
St.-Ludwigs-Kirche C5
St.—Magdal.-Kirche E4
St.—Peterkirche, Alt- B4
St.—Peterkirche, Jung- C3
St.—Stephan-Kirche E3
St.-Thomas-Kirche C5
St.-Wilhelm-Kirche E3
Steg, Am hohen C3
Stein-Brücke C3
Stein-Platz B2
Stein-Ring C1,2
Stein-Straße BC2,3
Stein-Thor B2
Stephans-Brücke, St. E5
Stephans-Platz, St. D3
Stephans-Staden, St. E3
Sternwarte G2
Steuer-Direktion C5
Storch-Gasse B2,3
Sturmeck-Staden CD2
Synagoge C4
Tabaks-Magazin D4,5/C5
Tabaks-Manufaktur E3,4
Telegraphen-Amt B4
Theater D3
Theater-Brücke D2
Thomanns-Gasse C3
Thomas-Brücke, St. C5
Thomas-Platz, St. C4,5
Thomas-Staden, St. CD5
Tränk-Gasse F4
Türkheim-Staden B4,5
Umleitungs-Kanal FG5
Universität F2
Universität, (Alte, im Schloß) D4
Universitäts-Platz E2
Universitäts-Straße F2,3
Verbindungsbahn CD6
Verbrannten Hof, Auf dem D3
Vieh-Gasse EF3,4
Vogesen-Straße B-E2
Vorbrucker Straße A6
Waisen-Gasse E4
Waisenhaus E4
Waisen-Platz E4
Wärterhaus B6,D6
Waseneck, Am D2
Wasselnheimer Straße A5,6
Wasserturm F4
Wein-Markt, Alter B4
Weißenburger Straße B2
Weißenturm—Platz A5,6
Weißenturm-Ring A5
Weißenturm-Straße AB4,5
Weißenturm—Thor A5,6
Weißenturm-Wallstraße A4
Wilhelmer-Gasse E3
Wilhelms-Brücke E3
Wimpfeling-Straße F2
Zaberner Ring B2
Zaberner—Wall-Straße AB2
Zarrer Straße A6
Zentral-Bahnhof A4
Zeughaus F4
Zeughaus-Gasse F4
Zollamt, Haupt- B3
Zoll-Büreau A3
Zornmühl-Kanal BC5
Zürcher Straße E3,4
STRASSBURG Maßstab 1:19000.
372
Straßburg (Beschreibung der Stadt).
Wappen von Straßburg.
armige Ill in drei Teile geteilt, hat elf Thore u. durch die engen, unregelmäßigen Straßen ein altertümliches Aussehen. Ein neuer Stadtteil, im NO. liegend und aus dem durch Hinausschieben der Festungswerke gewonnenen Terrain errichtet, ist bereits stark bebaut. Von öffentlichen Plätzen verdienen Erwähnung: der Kléberplatz mit dem ehernen Standbild Klébers, der Gutenbergplatz mit der Statue Gutenbergs (von David d'Angers), der Broglieplatz, der Schloßplatz etc. Außer den genannten Denkmälern sind noch zu nennen: das Denkmal des Generals Desaix hinter dem Theater und das Denkmal des Präfekten Lezay-Marnesia auf einer Rheininsel. Unter den zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmten Gebäuden (7 evangelische, eine reformierte und 6 kath. Kirchen und eine Synagoge) ist das katholische Münster ein Meisterstück altdeutscher Baukunst, 110 m lang, 41 m breit, im Mittelschiff 30 m hoch. Den Grundstein zu dem gegenwärtigen Bau legte 1015 Bischof Werner; 1277 begann unter Bischof Konrad von Lichtenstein Erwin von Steinbach den Bau der Fassade und der Türme, den nach seinem Tod (1318) sein Sohn Johannes (bis 1339) fortsetzte und Hans Hültz aus Köln 1439 zum Abschluß brachte. Aber nur der nördliche Turm (142 m hoch) erreichte seine Vollendung, der südliche wurde bloß bis zur Plattform gebracht. Das Münster vereinigt fast alle Baustile des Mittelalters: spätromanisch sind Krypte, Chor u. Querschiff, selbst ein Teil des untern Schiffs; weiterhin findet ein Übergang zum gotischen Spitzbogen statt, der in der Fassade bis zur Vollendung gedieh. Von vorzüglicher Schönheit ist das Hauptportal mit zahlreichen Statuen u. einer großen Fensterrose (50 m im Umfang). Noch sind die herrlichen Glasmalereien aus dem 14. und 15. Jahrh., die Kanzel, ein Meisterwerk von Johann Hammerer (1486), die vortreffliche Orgel von Silbermann und die berühmte astronomische Uhr von Schwilgué (1839-42 neuhergestellt) hervorzuheben (vgl. Strobel, Das Münster in S., 13. Aufl., Straßb. 1874; Kraus, Straßburger Münsterbüchlein, das. 1877). Von den evangelischen Kirchen verdienen die Neue Kirche (an Stelle der alten, 1870 eingeäscherten neuerbaut) und die Thomaskirche (13. u. 14. Jahrh.) mit dem Denkmal des Marschalls Moritz von Sachsen (von Pigalle) Erwähnung. Hervorragende Gebäude sind ferner: der neue Kaiserpalast, das Schloß (ehemals bischöfliche Residenz, später Universität, jetzt Universitäts- und Landesbibliothek), das Stadthaus und das Theater am Broglieplatz (beide nach der Einäscherung von 1870 neuerbaut), der Statthalterpalast, das neue Universitätsgebäude, das Bezirkspräsidium, das Landgerichtsgebäude, das Offizierkasino, das Aubettegebäude am Kléberplatz, das Gebäude der Lebensversicherungsgesellschaft Germania, das Bürgerhospital, die Manteuffelkaserne, der Zentralbahnhof, die Westmarkthalle etc. Die Bevölkerung beläuft sich (1885) mit der 10,523 Mann starken Garnison (Infanterieregimenter Nr. 105, 126, 132 und 138, je 2 Infanteriebataillone Nr. 99 und 137, ein Ulanenregiment Nr. 15, ein Feldartillerieregiment Nr. 15, ein Fußartillerieregiment Nr. 10 und ein Pionierbataillon Nr. 15) auf 111,987 Seelen, darunter 52,306 Evangelische, 55,406 Katholiken, 363 andre Christen u. 3767 Juden. DerStaatsangehörigkeit nach waren 68,993 Elsaß-Lothringer, 40,103 andre Reichsangehörige u. 2891 Ausländer. Die Industrie ist bedeutend und in fortdauernder Steigerung begriffen. S. hat Fabriken für Maschinen, Meterwaren, Tabak, musikalische Instrumente (Pianinos, Orgeln), Wachstuch, Tapeten, Schokolade, Teigwaren, Senf, Öfen, Papier, Leder, Möbel, Bürsten, Hüte, Chemikalien, Seife, Wagen, künstliche Blumen und Federn, Strohhüte, Handschuhe, Bijouteriewaren etc. Bekannt sind die Gänseleberpasteten und die Bierbrauereien von S. Ferner gibt es Wollspinnereien, Gerbereien, Färbereien, Buchdruckereien, große Mühlwerke etc., auch hat S. eine große Artilleriewerkstätte. Der lebhafte Handel, unterstützt durch eine Handelskammer und eine Reichsbankhauptstelle wie durch andre Geldinstitute, durch das verzweigte Eisenbahnnetz (S. ist Knotenpunkt der Eisenbahnen S.-Weißenburg, S.-Deutsch-Avricourt, S.-Kehl, S.-Schiltigheim, S.-Königshofen, S.-Basel, S.-Rothau und S.-Lauterburg), durch vortreffliche Landstraßen, durch die schiffbare Ill, den Ill-, Rhein-Rhône- und Rhein-Marnekanal und durch eine Pferdebahn, welche die innern Stadtteile mit den Vororten verbindet, ist besonders bedeutend in Steinkohlen, Kolonial- und Lederwaren, Papier, Tabak, Eisen, Getreide, Wein, Holz, Gänseleberpasteten, Sauerkraut, Schinken, Hopfen, Gartengewächsen der verschiedensten Art etc. An Bildungs- und andern ähnlichen Anstalten hat S. die 1872 neugegründete Kaiser Wilhelms-Universität (Sommersemester 1888: 828 Studierende), die neue Universitäts- und Landesbibliothek mit ca. 600,000 Bänden (größtenteils durch freiwillige Gaben entstanden und zum Ersatz für die in der Nacht vom 24. zum 25. Aug. 1870 verbrannte Stadtbibliothek bestimmt), ferner ein protestantisches Gymnasium (1538 gegründet), ein Lyceum (katholisches Gymnasium, verbunden mit Realgymnasialabteilung), 2 Realschulen, eine höhere katholische Schule, ein Priesterseminar, ein evangelisches Schullehrer- und ein evangelisches Lehrerinnenseminar, 2 Taubstummenanstalten, ein Konservatorium, ein Kunstmuseum, ein Kunstgewerbemuseum, ein Naturalienkabinett, ein Stadttheater, eine Bezirksfindel- und Waisenanstalt, zahlreiche Sammlungen etc. In S. erscheinen fünf Zeitungen. Die städtischen Behörden zählen 36 Gemeinderatsmitglieder. Sonst ist S. Sitz des kaiserlichen Statthalters, des Ministeriums und der höchsten Landesbehörden für Elsaß-Lothringen, des Bezirkspräsidenten für Unterelsaß, einer Polizeidirektion für den Stadt- und einer Kreisdirektion für den Landkreis S., eines katholischen Bischofs, des Oberkonsistoriums für die Kirche Augsburgischer Konfession und des jüdischen Konsistoriums, eines Land- und eines Handelsgerichts, eines Bergreviers etc. An Militärbehörden befinden sich dort: das Generalkommando des 15. Armeekorps, die Kommandos der 31. und 33. Division, der 61. und 66. Infanterie-, der 31. Kavallerie- und der 15. Feldartilleriebrigade, die 3. Ingenieur-, eine Artilleriedepot- und die 10. Festungsinspektion, ein Gouverneur, ein Stadtkommandant etc. Die Festungswerke, deren Anlage 1682-84 von Vauban mit der auf der Ostseite der Stadt liegenden fünfeckigen Citadelle begonnen wurde, haben seit 1870 eine bedeutende Erweiterung und Verstärkung erfahren. Ein Teil der Befestigung ist im NO. hinausgerückt, und 13 Forts, 4-8 km vom Mittelpunkt der Stadt entfernt, krönen die umliegenden Höhen, 3 davon auf der badischen Seite des Rheins bei Kehl. Die Stärke der Werke wird dadurch noch bedeutend erhöht, daß durch die Ill und den Rhein-Rhônekanal ein großer Teil der Umgegend von S. unter Wasser
373
Straßburg (Geschichte der Stadt).
gesetzt werden kann. Die Umgebung der Stadt (s. die Karte) ist zwar flach, gleicht aber ihrer Fruchtbarkeit halber einem großen Garten. Die außerhalb der Umwallung liegenden Orte: Rupprechtsau, Neudorf, Neuhof, Königshofen und Grünenberg sind der Stadt einverleibt. - Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 14 Amtsgerichte zu Benfeld, Bischweiler, Brumath, Hagenau, Hochfelden, Illkirch, Lauterburg, Niederbronn, Schiltigheim, S., Sulz unterm Wald, Truchtersheim, Weißenburg und Wörth.
[Geschichte.] Unter der Regierung des Kaisers Augustus entstand auf der Stelle des heutigen S. eine städtische Ansiedelung, Argentoratum, welche der achten Legion als Standquartier diente. Durch den großen Sieg bei S. 357 über die Alemannen rettete Kaiser Julian die Rheingrenze, doch schon um 406 fiel das Elsaß jenem germanischen Volksstamm zu. Damals ging die Stadt in Flammen auf, ward aber bald neu erbaut und in der Karolingerzeit durch die Neustadt im W. vergrößert. Hier schwuren 14. Febr. 842 Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle den Eid gegenseitiger Treue, der in altromanischer und altdeutscher Sprache erhalten ist. Seit der Begründung des Bistums (s. unten) hob sich die Bedeutung der Stadt; doch blieb sie noch lange Eigentum des Bischofs, der den Schultheißen ernannte. Wie andre bischöfliche Städte, wußte sich auch S. allmählich größere Selbständigkeit zu verschaffen: an die Stelle der bischöflichen Ministerialen trat ein aus der Bürgerschaft hervorgehender Rat, und die Richter der Stadt, die Consules, sprachen vom Bischof unabhängig Recht. Aber die Reichsfreiheit hat erst Philipp von Schwaben S. verliehen und Bischof Heinrich III. von Stahleck (1245-60) anerkannt. Sein Nachfolger Walther von Geroldseck ward 1262, als er die Stadt wieder unterwerfen wollte, bei Oberhausbergen geschlagen. Für die hohe Blüte Straßburgs in dieser Zeit zeugen nicht nur Namen wie Gottfried von S., Meister Eckard, Johannes Tauler, sondern vor allem das Münster (über dessen Entstehung s. oben). Der Familienhaß zweier Adelsgeschlechter führte 1332 zur Aufnahme der Zünfte in den Rat, zu den bisherigen vier Stadtmeistern trat zugleich als Vertreter der Handwerker ein auf Lebenszeit gewählter Ammeister. Die Stadt schloß sich 1381 dem Städtebund zu Speier an und leistete ein Jahrhundert später den Schweizern gegen Karl den Kühnen bei Granson und Nancy erfolgreiche Unterstützung. In S. hat der Mainzer Gutenberg die erste Druckerpresse aufgestellt, hier haben einige Jahrzehnte später die Dichter Sebastian Brant und Thomas Murner sowie der Humanist Wimpfeling gewirkt. Die Bedeutung der Stadt war damals weit größer, als man nach ihrer geringen Bevölkerung (um 1475 nur 20,700 Seelen) erwarten sollte. Die Reformation fand früh Eingang, besonders infolge des rastlosen Eifers Martin Butzers, der 1523 in S. eine Zuflucht fand. Doch erst nach Abschaffung der Messe 1529 kann die Stadt als protestantisch gelten. In der gefährlichen Zeit der religiösen Streitigkeiten und Fehden hatte sie einen vorzüglichen Führer in dem gelehrten und welterfahrenen Jakob Sturm (s. d.), welcher ihr z. B. nach dem Schmalkaldischen Krieg einen billigen Frieden vom Kaiser erwirkte. Durch ihn wurde S. auch eine Stätte der Wissenschaft, besonders als der Philolog Johannes Sturm sich hier niederließ. Ihm gegenüber vertrat das deutsch-volkstümliche Element in der Litteratur der Straßburger Johann Fischart. Für ihren Rücktritt von der Union belohnte Kaiser Ferdinand II. die Stadt 1621 mit der Errichtung der Universität. Während des Dreißigjährigen Kriegs ersparte die auf reichsstädtischer Tradition beruhende und durch innere Parteiungen geförderte Neutralitätspolitik S. viel Elend. Im Westfälischen Frieden blieb es dem Reich erhalten. Ludwig XIV. ließ 1680 durch die Reunionskammer in Breisach den Spruch fällen, daß S. für die der Krone Frankreich gehörenden, aber noch in städtischem Besitz befindlichen Vogteien von Wasselen, Barr und Illkirchen dem König den Huldigungseid zu leisten habe. Die Stadt wagte keine ablehnende Antwort zu erteilen, nur seitens des Reichs wurden Verhandlungen eröffnet; aber Ludwig XIV. sandte 1681 mitten im Frieden Louvois mit 30,000 Mann gegen das wehrlose S. Nicht der Verrat einzelner Ratsmitglieder, wie das Volk meinte, nicht die Ränke des bestochenen Bischofs Egon von Fürstenberg, sondern die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstandes führte 30. Sept. die Übergabe der Stadt herbei. Der Friede von Ryswyk 1697 bestätigte diese Annexion, und auch der von Utrecht änderte nichts daran, nachdem Deutschland einmal versäumt hatte, die Zeit der Ohnmacht Frankreichs (1710) zur Wiedererwerbung Straßburgs zu benutzen. Hier begünstigte die neue Regierung mit Erfolg die Ausbreitung des katholischen Bekenntnisses, vermochte aber nicht, der Stadt ihr deutsches Wesen zu rauben. Für dessen Erhaltung sorgte besonders die Universität, an welcher der Theolog Spener, die Sprachforscher Scherz und Oberlin und der Historiker Schöpflin lehrten. Die französische Revolution zertrümmerte die Vorrechte der alten deutschen Reichsstadt; an die Spitze trat ein Maire, ihm standen zur Seite 17 Munizipalräte und 36 Notabeln, welche alle aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgingen. Nach dem Fall des Königtums blieb der Stadt die Schreckensherrschaft nicht erspart; auch hier wurde 1793 ein Revolutionstribunal eingerichtet, dem der deutsche Emigrant Eulogius Schneider vorstand. Erst unter dem ersten Kaiserreich schwanden die partikularistischen Neigungen, welche noch das 18. Jahrh. kennzeichnen. S., das Napoleon I. die Wiederherstellung seiner in den Revolutionsstürmen verfallenen Universität zu danken hatte, ward wirklich eine französische Stadt. Der Versuch Ludwig Napoleons 30. Okt. 1836, sich hier von der Garnison zum Kaiser ausrufen zulassen, mißlang. Am 13. Aug. 1870 begann die Einschließung der Stadt durch General v. Werder, den Befehlshaber der badischen Division. Die hartnäckige Verteidigung durch den Kommandanten, General Uhrich, und die Beschießung des unbefestigten Kehl veranlaßten v. Werder zu einem Bombardement (24.-27. Aug.), welches die kostbare Bibliothek zerstörte und den Turm des Münsters beschädigte. Doch da die Beschießung kein Resultat hatte, schritt der deutsche Befehlshaber zur regelrechten Belagerung. Am 12. Sept. war die dritte Parallele fertig; schon war Bresche in den Hauptwall geschossen und alles zu einem Sturm vorbereitet, als 27. Sept. die Festung kapitulierte. Die Besatzung (noch 17,000 Mann) wurde kriegsgefangen, 1200 Kanonen und zahlreiches Kriegsmaterial wurden eine Beute der Sieger (s. Plan der Belagerung von S. bei Artikel "Festungskrieg"). Die deutschfeindliche Haltung der Stadtbehörde in S. veranlaßte die kaiserliche Regierung, 7. April 1873 den Bürgermeister Lauth seines Amtes zu entsetzen und den Gemeinderat, dessen überwiegende Mehrheit sich gegen diese Maßregel aussprach, zunächst auf zwei Monate, dann auf ein Jahr zu suspendieren. Mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Magistrats wurde der Polizeidirektor Back betraut, unter welchem das Gemeindeschul-
374
Straßenbahnen - Straßenbau.
wesen ausgebildet, Straßenbahnen gebaut, eine Wasserleitung hergestellt und die großartige Stadterweiterung nach Ankauf der alten Festungswerke durchgeführt wurden. Erst 1886 wurde wieder die Wahl eines Gemeinderats gestattet, welche deutschfreundlich ausfiel, und Back zum Bürgermeister ernannt. Vgl. Silbermann, Lokalgeschichte der Stadt S. (Straßb. 1775); Frese, Vaterländische Geschichte der Stadt S. (das. 1791-95, 4 Bde.); v. Apell, Argentoratum (Berl. 1884); Schmoller, Straßburgs Blüte im 13. Jahrhundert (Straßb. 1875); "Straßburger Chroniken", herausgegeben von Hegel (Leipz. 1870-71, 2 Bde.); Rathgeber, Reformationsgeschichte der Stadt S. (Stuttg. 1871); Holländer, S. im französischen Krieg 1552 (Straßb. 1888); Reißeissen, Straßburger Chronik 1667-1710 (hrsg. von Reuß, das. 1877; Nachtrag 1879); Schricker, Zur Geschichte der Universität S. (das. 1872); Wagner, Geschichte der Belagerung von 1870 (Berl. 1874-77, 3 Bde.); "Urkunden und Akten der Stadt S." (Straßb. 1880-86, Bd. 1-4); Kindler und Knobloch, Das goldene Buch von S. (das. 1885 ff.); Ludwig, S. vor hundert Jahren (Stuttg. 1888); Krieger, Topographie der Stadt S. (Straßb. 1885).
Straßenbahnen, s. v. w. Straßeneisenbahnen.
Straßenbau. Die Straßen zerfallen in Land- und Stadtstraßen. Erstere verbinden zwei Ortschaften miteinander, und wenn dies nicht durch eine gerade und ebene Straße möglich ist, so haben die Vorarbeiten demgemäß die beste Trace auszumitteln, was an Ort und Stelle oder mit Hilfe von Karten geschehen kann, in welche Höhenkurven (Schichtenlinien, Niveaukurven) eingetragen sind. Man sucht dabei die notwendigen Unterbauarbeiten thunlichst zu vermindern. Krümmungen sind bei Straßen, sofern sie die Länge nicht unnötigerweise sehr vergrößern, ohne Nachteil; von wesentlicher Bedeutung sind aber stärkere Steigungen. Eine allgemeine Regel für die größte gestattete Steigung läßt sich nicht geben: sie muß der ortsüblichen Wagenladung entsprechen. Man darf sie heute steiler wählen als früher, da der schwere Frachtverkehr größtenteils durch die Bahnen besorgt wird; Laissle empfiehlt 3 Proz. für Hauptstraßen zu der Ebene, 5-6 Proz. im Hügelland, 7 Proz. im Gebirge. Die Breiten der Fahrbahnen und Bankette wechseln mit der Frequenz der Straße und betragen für zwei sich ausweichende Wagen und Fußgänger bez. 4,5-5,5 und 1-1,25 m. Ein Sommerweg, d. h. ein nicht befestigter Streifen für leichte Wagen, Vieh etc., dessen Anlage sich dort empfiehlt, wo der Unterbau billig, die Befestigung der Fahrbahn teuer ist, erfordert eine Breite von 2,5-3m, ein Weg für zwei sich ausweichende Reiter 1,5-2 und ein Materialstreifen 1-1,25m Breite. Statt der letztern werden auch in Entfernungen von 100-200m besondere Lagerplätze für das Unterhaltungsmaterial angelegt; dagegen erscheint es fehlerhaft, einen Teil der Fußwege zum Lagerplatz für Straßenmaterial zu verwenden. Die Straßengräben erhalten, je nach der zu gewärtigenden Wassermenge, eine Sohlenbreite von 0,25-0,5 bei einer Tiefe von 0,5-1m und nach der größern oder geringern Kohäsion des Erdreichs 1-1 1/3füßige Böschungen. Die gewöhnliche Befestigung der Landstraßen bildet die Versteinung oder haussierung. Die Dicke der Versteinung soll in der Mitte mindestens 25-30, an den Rändern 20-25cm und die zur Beförderung des Wasserabflusses dienende Wölbung ihrer Oberfläche (Pfeil) etwa 1/38 bis 1/32 ihrer Breite betragen. Nach Umpfenbach genügt eine Abdachung (zwei geneigte Ebenen) von 1/40-1/30 oder eine Wölbung (Kreisbogen), welche 1/30-1/30 der Straßenbreite zur Pfeilhöhe hat. Die Steinbahn kann mit einer Packlage hergestellt werden, d. h. mit einem 13-15cm hohen Unterbau aus Steinen, die man auf die breite Seite (Kopf) stellt, deren Zwischenräume man oben auskeilt, und die man mit einer in der Straßenmitte 12-17cm hohen Schicht zerschlagener walnußgroßer Steine (Decklage) bedeckt. Manchmal faßt man die Packlage mit größern Randsteinen (Bordsteinen) ein, und um die Zwischenräume der Decksteine auszufüllen und hierdurch das Einfahren der Straße zu erleichtern, wird zuweilen eine bis zu 5cm starke Schicht Kies in einer oder mehreren Lagen auf derselben ausgebreitet. Schließlich ist die Straße stets mit einer schweren Straßenwalze mehrmals zu überfahren. Viele Straßenbanmeister ziehen die makadamisierte Straße (nach ihrem Erfinder Mac Adam) vor, bei welcher gleichmäßig kinderfaustgroße Steinstücke auf dem trocknen Untergrund in dünnen Lagen aufgetragen werden, bis sie eine 25-30cm hohe Lage bilden, die man zum Schluß bei feuchter Witterung tüchtig überwalzt. Wo Steine mangeln, legt man Kiesstraßen an, verwendet das gröbere Material zu unterst, das feinere in den darüberliegenden Schichten und mengt der obersten, damit sie besser binde, etwas Lehm bei.
Zur Befestigung der Fahrbahn (des Fahrdammes) städtischer Straßen ist Chaussierung trotz der billigen Anlage wenig geeignet: sie nutzt sich rasch ab, erfordert daher öftere Erneuerung und ist teuer in der Unterhaltung, gibt außerordentlich viel Staub und Schmutz, ist wasserdurchlässig, mit Einem Wort, nur in wenig belebten Straßen verwendbar. Den Vorzug verdient Pflaster aus natürlichen oder künstlichen Steinen, auch aus Gußeisenblöcken, Holzpflaster und Asphalt. Das ehemals sehr verbreitete rauhe Pflaster aus Gerollen wird mehr und mehr von dem regelmäßigen Reihenpflaster verdrängt, dessen Steine an der Oberfläche rechteckig bearbeitet sind. Die Oberfläche muß eine Wölbung von 1/100-1/60 der Breite erhalten, und des bessern Auftretens der Pferde sowie des raschern Wasserabflusses wegen sollen die Reihen senkrecht zur Straßenrichtung laufen. Die untere Fläche der Steine soll nicht kleiner sein als etwa 2/3 der obern, und die Höhe der Steine darf nicht zu sehr wechseln, sonst drücken sie sich ungleich in die Bettung ein. Am besten, aber in manchen Gegenden zu teuer, ist Würfelpflaster aus parallelepipedisch bearbeiteten Steinen, welche, wenn sie thatsächlich Würfel sind, wie in Wien (18cm Seitenlänge), ein mehrmaliges Umwenden gestatten. Die Größe schwankt: so hat Brüssel Prismen von 10cm Breite, 16cm Länge, 13cm Höhe, Turin Platten von 60cm Länge, 30cm Breite, 15-20cm Höhe. Die Steine erhalten eine etwa 25cm dicke Unterlage (Bettung) bloß von Sand oder von Kies und Sand darüber. Wo der Boden leicht beweglich ist, wie in Berlin, gibt man eine starke Unterlage von geschlagenen Steinen, auf diese eine Kiesdecke, welche vor dem Aufsetzen der Würfel festgewalzt wird. Der Pflasterer (Steinsetzer) setzt die Steine des gewöhnlichen Pflasters zunächst etwa 5cm höher, als sie später liegen sollen; dann wird das Pflaster mit Sand überdeckt und abgerammt. Gut ist es, wenn bei der nunmehr folgenden abermaligen Sandüberdeckung der Sand durch Wasserspülnng in die Fugen getrieben wird. Häufig, namentlich unter Wagenständen u. dgl., werden die Fugen durch Einguß von Zementmörtel oder Asphalt wasserundurchlässig gemacht, um das Eindringen der Jauche, also eine Infizierung des Untergrundes, zu
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Straßenbau.
verhindern. In England wird vielfach statt der Sandunterlage eine ungefähr 25 cm starke Betonunterlage angeordnet und dadurch große Haltbarkeit erzielt, allerdings unter störender Erschwerung aller Ausbesserungen an unter der Fahrbahn liegenden Rohrleitungen und Telegraphenkabeln. Pflastersteine dürfen mit der Zeit nicht zu glatt werden und müssen hart und fest sein, Bedingungen, welche von allen Felsarten Granit mit am besten erfüllt. Man hat bei verschiedenen, namentlich holländischen, Stadt- und Landstraßen statt natürlicher Steine bis zur Verglasung hartgebrannte Ziegel, Klinker, benutzt, welche ähnlich wie andres Reihenpflaster unterbettet und so aufgestellt werden, daß ihre breite Seite die Dicke der Steindecke bildet. Gußeisenpflaster besteht aus vielfach durchbrochenen großen Gußeisenplatten (bis 100 kg schwer), die auf der geebneten Unterlage verlegt werden und zur Vermeidung einseitigen Setzens untereinander in Verbindung stehen. Die Durchbrechungen werden mit Sand und Kies ausgefüllt, um dem Pflaster Rauhigkeit zu geben. Es hat sich bis jetzt nicht bewährt. Holzpflaster besteht aus 15-17 cm hohen Holzblöcken von rechteckigem, selten sechseckigem Querschnitt, welche auf einer Unterlage von Sand, Beton oder hölzernen, manchmal in Teer getränkten Dielen ruhen. Man füllt die Fugen, welche zuweilen Filzeinlagen erhalten, mit Sand, einer Mischung von Sand und Asphalt oder Mörtel. Man verwendet meist Tannenholz und imprägniert die Blöcke oder taucht sie vor dem Versetzen in heißen Teer. Eine Verbindung der Klötze durch hölzerne Dübel ist wenig üblich. Holzpflaster ist in der Anlage eher billiger als Reihenpflaster, scheint aber bei starkem Verkehr sehr zu leiden. Es bewirkt ein geräuschloses Fahren und empfiehlt sich aus diesem Grund für Thoreinfahrten und enge, stark belebte Gassen sowie seines geringen Gewichts wegen als Brückenbelag. In England wird es viel verwendet, so z. B. in zahlreichen Straßen der Londoner City; auch in Berlin ist es an mehreren stark frequentierten Stellen benutzt worden. Asphaltstraßen werden aus Stampfasphalt (kom- primiertem Asphalt) hergestellt. Dieser besteht aus natürlichem Asphaltstein, d. h. Kalkstein, der zwischen 7 und 11 Proz. Bitumen enthalten muß und sich z. B. im Val de Travers (Kanton Neuenburg), bei Seyssel (Aindepartement), Limmer (Hannover) und auf Sizilien findet. Der rohe Stein wird zwischen gerieften Walzen zerkleinert und hierauf auf 120-130° erhitzt, wobei er zu Pulver zerfällt. Zur Herstellung der Fahrbahn, welche eine Wölbung von 1/100-1/300 erhält, wird das Pulver in großen Eisenpfannen abermals erhitzt und dann auf der vorgerichteten Betonunterlage von 10-20 cm Stärke aufgetragen und mit heißen Rammen, auch wohl einer heißen Walze verdichtet; schließlich wird mit einer Art Plätteisen die Oberfläche vollends geglättet und mit etwas feinem Sand überstreut. Die aufgetragene Schicht ist 5/7mal so stark als die spätere gestampfte, 4-6 cm dicke Asphaltlage. Da es auf eine gleichmäßige Unterlage wesentlich ankommt, bedarf bei nachgiebigem Untergrund die Betonlage selbst eines Grundbaues aus festgewalztem Kleinschlag. Im allgemeinen dürften die Kosten der Herstellung von Asphaltstraßen geringer sein als die von Granitwürfelpflaster, die der Unterhaltung größer. Die Vorteile der Asphaltstraßen sind: Ebenheit der Fahrbahn, also leichte Fortbewegung der Fuhrwerke, große Reinlichkeit, Wasserundurchlässigkeit, geräuschloses Fahren; die Nachteile sind: leichtes Stürzen der Pferde, schwierige Ausbesserung bei nassem Wetter, also insbesondere im Winter. Übrigens hat es sich gezeigt, daß die Gefahr der Stürzens sehr abnimmt, wenn Pferd und Kutscher sich an den Asphalt gewöhnen, und daß, während sich auf vereinzelten Asphaltbahnen viele Unfälle zutragen, auf einem größern mit Asphalt befestigten Straßennetz die Anzahl der Stürze verhältnismäßig nicht mehr bedeutend ist; bezüglich der Häufigkeit von Fußkrankheiten der Pferde soll sogar Asphalt dem Pflaster vorzuziehen sein. Künstliche Steine aus Asphalt haben sich bisher nicht behaupten können. Fußwege städtischer Straßen liegen meist zu beiden Seiten des Fahrdammes, besitzen ein schwaches Quergefälle gegen die Straßenmitte zu und liegen mit ihrer gewöhnlichen Begrenzung, den Randsteinen (Bordsteinen, Bordschwellen), 5-20 cm über dem anstoßenden tiefsten Teil der Fahrbahn, welcher als Gosse (Straßenrinne, Kandel, Rinnstein) zur Wasserableitung dient. Neben versteinten Fahrbahnen findet man manchmal einfach mit Kies überdeckte Fußwege (Gehwege), sonst stellt man Trottoirs aus Pflaster, Plattenbelag, Stampfasphalt oder Gußasphalt her. Hausteinplatten kann man unmittelbar auf den festgestampften Untergrund in Mörtel legen; Thonplättchen mit ebener oder gerippter Oberfläche erfordern schon eine Betonunterlage von 8-10 cm Stärke oder mindestens eine Kiesbettung. Zum Gußasphalt (der mit dem bereits beschriebenen Stampfasphalt nicht zu verwechseln ist) verwendet man den im Handel vorkommenden Asphalt-Goudron, d. h. eine Mischung von natürlichem Asphaltpulver (s. oben) mit ungefähr 5 Proz. reinem Erdharz (Goudron). Der Asphalt-Goudron wird an der Baustelle in Kesseln geschmolzen unter Zusatz von noch etwas Erdharz und so viel Kies, daß etwa 35 Proz. Kies in der neuen Mischung enthalten sind, welche man, wenn sie genügend heiß ist, auf die Unterlage ausbreitet. Letztere ist gemauert oder besteht aus einer 8-10 cm starken Betonschicht. Die Gußasphaltdecke wird meist in zwei Lagen hergestellt und erhält eine Dicke von 15 bis 20 mm, in Thoreinfahrten etwa 30 mm.
Geschichtliches. Kunststraßen legte man schon in den ältesten Zeiten an. Die Spuren der Römerstraßen, welche sich über das ganze Gebiet des römischen Reichs zerstreut vorfinden, haben dem neuern S. zum Vorbild gedient. Die römischen Kunststraßen erhielten, wie Plinius und Vitruv berichten, zuerst ein Substrat von einer Art Beton, welches einer 20 cm starken Steinplattenschicht (statimen) als Unterlage diente. Auf letztere kam eine neue, ebenfalls 20 cm starke Schicht in Mörtel versetzter Steine (rudus), welche durch eine 8 cm starke Betonschicht (nucleus) bedeckt wurde, auf der dann die eigentliche Straßendecke (summum dorsum) aus Pflaster oder Kies hergestellt wurde. Manchmal fehlte jedoch eine oder die andre Lage, oder es wurden Lehmschichten zwischengeschaltet u. dgl. mehr. An den Seiten erhielt der Straßendamm Böschungen oder (bisweilen mit Stu-fen versehene) Strebemauern. Augustus, Vespasian, Trajan und Hadrian haben Bauten der Art anlegen lassen, die uns jetzt fast unglaublich erscheinen. Nachdem diese Straßen nach dem Umsturz des Reichs in Verfall geraten, ließ Karl d. Gr. die alten Kunststraßen wieder ausbessern und neue anlegen. In Deutschland reichen die ersten Spuren eines geregelten Straßenbaues nicht über das 13. Jahrh. zurück. Doch waren diese Ausführungen noch höchst mangelhaft. Infolge des mit der Entwickelung eines regern Geschäfts- und Verkehrslebens wachsenden Bedürfnisses
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Straßenbauordnnng - Straßeneisenbahnen.
an Kunststraßen gründete man in Frankreich 1720 ein besonderes Korps der Ingenieure, in dessen Hand man den mit verhältnismäßig bedeutendem Kostenaufwand verknüpften Straßen- und Brückenbau legte. Vervollkommt wurde diese Einrichtung noch durch die Gründung der École des ponts et chaussées 1795, durch welche Ingenieure für S. wissenschaftlich ausgebildet wurden. Später wurde durch ähnliche Organisationen und technische Bildungsanstalten der S. auch in andern Staaten gefördert. Die Fortschritte der neuesten Zeit betreffen weniger die durch die Eisenbahnen ihrer frühern Bedeutung teilweise beraubten Landstraßen als die Anlage städtischer Straßen, wie z. B. die Neuenburger Asphaltindustrie, von einigen später in Vergessenheit geratenen Anfängen abgesehen, erst 1832 durch den Grafen Sassenay be-gründet wurde; die erste Verwendung des Stampfasphalts erfolgte später durch den Ingenieur Merian aus Basel. Vgl. Umpfenbach, Theorie des Neubaues, der Herstellung und Unterhaltung der Kunststraßen (Berl. 1830); Wedeke, Handbuch des Chaufseebaues etc. (Quedlinb. 1835); Launhardt, Über Rentabilität u. Richtungsfeststellung der Straßen (Hannov. 1869); Ahlburg, Der S. mit Einschluß der Konstruktion der Straßenbrücken (Braunschw. 1870); v. Kaven, Der Wegebau (2. Aufl., Hannov. 1870); Zur Nieden, Der Bau der Straßen und Eisenbahnen (Berl. 1878); Heusinger v. Waldegg, Handbuch der Ingenieurwissenschaften, Bd. 1 (2. Aufl., Leipz. 1884); Osthoff, Wege- und S. (das. 1882); Dietrich, Die Asphaltstraßen (Berl. 1882); Derselbe, Baumaterialien der Steinstraßen (das. 1885).
Straßenbauordnung, s. Bebauungsplan.
Straßenbeleuchtung durch Laternen kannte man schon im Altertum zu Rom, Antiochia etc., wenigstens in den Hauptstraßen und auf öffentlichen Plätzen. In Paris wurde 1524, 1526 und 1553 den Einwohnern befohlen, von 9 Uhr abends an die Straßen durch Lichter an den Fenstern der Sicherheit wegen zu erleuchten. Schon im November 1558 brannten die ersten, an den Häusern oder auf Pfählen angebrachten Laternen, und 1667 war die Stadt in solcher Weise vollständig erleuchtet. Diesem Beispiel folgten London 1668, Amsterdam 1669, Berlin 1679, Wien 1687, Leipzig 1702, Dresden 1705, Frankfurt a. M. 1707, Basel 1721 und im Lauf des 18. Jahrh. bei weitem die Mehrzahl der größern Städte, namentlich in Deutschland. Erst im 19. Jahrh. fing man an, die Lampen mit Reverberen zu versehen und sie in der Mitte der Straßen aufzuhängen. Den bedeutendsten Fortschritt hat die S. durch die Gasbeleuchtung (s. Leuchtgas) gemacht, zu welcher in neuester Zeit das elektrische Licht getreten ist.
Straßeneisenbahnen (engl. Tramways, Trambahnen, von Tram = Schiene mit vorspringendem Rand, Grubenschiene), Schienenwege, welche 1793 von J. Burns und Outram in Derbyshire statt auf hölzerne Lang- und Querschwellen auf Steinblöcke gelegt wurden (daher auch Outram ways genannt), u. auf denen Wagen zur Beförderung von Passagieren oder Gütern meist mittels Pferde (Pferdebahnen) oder Maschinen mit geringerer Geschwindigkeit als auf der Eisenbahn fortbewegt werden. Die Möglichkeit der Rentabilität derartiger Bahnen beruht auf der Thatsache, daß die Transportarbeit, welche ein Pferd auf den S. zu verrichten im stande ist, d. h. Anzahl der Menschen mal Kilometer täglich, wegen der verminderten Reibung eine wesentlich größere ist als auf Chaussee oder Steinpflaster, und daß daher die Straßeneisenbahn trotz billiger Fahrpreise die nicht geringen Anlagekosten durch Betriebsersparnisse zu verzinsen vermag. Bei diesen Bahnen, deren lebhafte Entwickelung erst dem letzten Jahrzehnt angehört, haben die eigenartigen Verhältnisse auch viele eigenartige, von den Lokomotivbahnen wesentlich abweichende Oberbausysteme veranlaßt. Am häufigsten wendet man Schienen an, welche mit dem Straßenpflaster genau in gleicher Höhe liegen, also den Verkehr des übrigen Fuhrwerkes nicht stören und mit einer schmalen Rinne versehen sind, worin die Spurkränze der Räder laufen. Übereinstimmend mit den Lokomotivbahnen, ist die Spurweite der S. in Europa fast allgemein 1,435 m. Bei eingeleisigen Bahnen sind sogen. Weichen in gewissen Zwischenräumen vorhanden, d. h. kurze Strecken Nebengeleise, in welches einer von zwei sich begegnenden Wagen einbiegen kann, um den andern vorüber zu lassen. Die Schienen bestehen in der Regel aus einer Hauptschiene, worauf der Radkranz läuft, und einer durch die Spurrinne von ersterer getrennten Gegenschiene, welche den Zweck hat, die Spurrinne gegen das Straßenmaterial zu begrenzen, um sie leichter reinigen zu können. In Kurven bleibt bei der äußern Schiene die Spurrinne weg, so daß der Wagen nur innen geführt ist, da sich sonst die Räder festklemmen würden. In Fig. 1 ist a die Hauptschiene, b die Gegenschiene der zuerst für die Berlin-Charlottenburger Pferdebahn angewendeten Schiene, die später durch die leichtere (Fig. 2) ersetzt wurde. Beide waren auf die durch Querschwellen getragenen hölzernen Langschwellen geschraubt, was den Nachteil hatte, daß das Regenwasser leicht durch die Schraubenlöcher in das Innere des Holzes drang und rasch Fäulnis veranlagte. Um dies zu vermeiden, hat man mancherlei andre Befestigungsmittel der Schienen vorgeschlagen und angewendet, z. B. schmiedeeiserne Bügel unter die Schiene genietet, welche die Langschwelle umgreifen und seitlich an dieselbe festgenagelt (Pariser Linie Pont de Courbevoie-Suresnes) oder festgekeilt sind. In den Vereinigten Staaten sind die S. sehr entwickelt. Die Straßen haben daselbst meist sehr wenig Wölbung, was für die Anlage der Geleise vorteilhaft ist. Die Schienen ruhen auf fichtenen Langschwellen, die wiederum auf meistens eichenen Querschwellen befestigt sind und zu beiden Seiten um 0,3 m das Geleise überragen dürfen. Der Abstand derselben wechselt zwischen 1 und 1,8 m und sinkt auf 0,6 m, wenn die Langschwellen ganz wegbleiben. Sie sind auf geschlagene Steine gelagert; die ganze Bahn wird sorgfältig drainiert (trockengelegt). Die Geleisebreite beträgt 1,59 m. In den Kurven ist die äußere Schiene flach, die innere aber mit einer hohen Gegenschiene versehen, um die Fortbewegung in gerader Linie, Entgleisung, zu verhüten. In Wien, wo die S. seit 1868 bestehen, 1874 bereits eine Länge von 50 km doppelgeleisiger Strecke besaßen und 34 Mill. Passa-
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Straßeneisenbahnen.
giere während des Ausstellungsjahrs 1873 beförderten, liegen die Schienen bei 1,455 m Spurweite aus eichenen Langschwellen von 237 mm im Quadrat und diese auf Querschwellen, die in Schotter gebettet sind. Die Vergänglichkeit der Holzschwellen, durch welche Betriebsstörungen und bedeutende Reparaturkosten erwachsen, hat neuerdings zur Anwendung eiserner Langschwellen oder zur direkten Lagerung der Schienen auf das Straßenmaterial geführt. Im letztern Fall (Stuttgart-Berg-Kannstätter Pferdebahn) müssen die Schienen eine beträchtliche Breite erhalten, um den Druck auf eine genügend große Grundfläche zu verteilen. Einige Systeme besitzen den großen Vorzug, daß die Wagen die Schienen beliebig verlassen können, um entgegenkommenden Wagen auszuweichen. Man hat dies durch schwach ausgehöhlte Schienen und entsprechend abgerundete Radkränze, ferner durch eine dritte Schiene erreicht, in die ein fünftes kleineres Rad als Leitrad eingreift, während die vier Wagenräder mit gewöhnlichen Radkränzen auf flachen Schienen laufen (Perambulatorsystem). Das Leitrad kann mittels eines Trittes vom Kutscher gehoben werden, worauf der Wagen im stande ist, aus dem Geleise abzulenken. Erspart wird die dritte Schiene auf der Berliner Linie Alexanderplatz-Weißensee, indem hier die vier Laufräder der Wagen ohne Spurkränze auf den Schienen laufen und anfangs nur durch ein fünftes, auf der linken Schiene laufendes kleines Spurrad, welches, am vordern Ende des Wagens an einem Hebel sitzend, ebenfalls durch einen Fußtritt vom Kutscher ein- und ausgelegt werden konnte, auf dem Geleise gehalten wurden. Nach etwa halbjährigem Betrieb brachte man zur größern Sicherheit des Geleisehaltens zwei an einem gemeinschaftlichen Hebel sitzende Spurräder an. Dieses System gestattet den Pferdebahnbetrieb in den engsten Straßen, da nur ein einziges Geleise notwendig ist, indem zum Ausweichen je ein Wagen durch Aushebung der Spurräder das Geleise verläßt, bis der andre vorbei ist. Die Schiene besteht hier aus zwei gleichen, ebenen Laufflächen von ca. 40 mm Breite, mit einem Zwischenraum von 30 mm für die Spur. Es ist zu erwarten, daß dieses System eine bedeutende Zukunft hat, namentlich weil das hier benutzte Schienensystem den Wagenverkehr nicht im geringsten stört. Neuerdings wird vielfach auf den Straßenbahnen die Betriebskraft der Pferde durch Dampfkraft ersetzt. Man benutzt Lokomotiven von 15-100 effektiven Pferdekräften mit Rauchverbrennungs- und Kondensationsvorrichtungen und möglichst ruhigem Gang, um die Passagiere und Fußgänger nicht zu belästigen und Pferde nicht scheu zu machen. Solche Dampfstraßenbahnen sind besonders in Oberitalien in beträchtlicher Ausdehnung vorhanden und vermitteln den Personen- und Güterverkehr zwischen Ortschaften abseits der Eisenbahnen. Auch feuerlose Lokomotiven sind für S. benutzt worden, ebenso Dampfwagen, bei welchen die Dampfmaschine in dem für die Personenbeförderung bestimmten Wagen angebracht ist (s. Lokomotive, S. 890). Ein in Amerika mehrfach in Anwendung befindliches Straßenbahnsystem mit Dampfbetrieb (Taubahnen, Kabel-, Seilbahnen) benutzt stationäre Dampfmaschinen und zur Übertragung der Zugkraft auf die Wagen ein unter dem Straßenplanum laufendes Stahldrahtseil ohne Ende. Die Bahn selbst ist eine zweigeleisige, und die beiden Seiltrümer sind so gelegt, daß das eine fortwährend nach derselben Richtung hinlaufende Trum unter dem einen Geleise, das andre in entgegengesetzter Richtung bewegte unter dem zweiten Geleise bleibt, entsprechend dem Lauf der hin- und hergehenden Wagen. Damit das Seil weder den sonstigen Wagenverkehr behindert, noch selbst einer Beschädigung oder Beschmutzung ausgesetzt ist, zugleich aber die Ankuppelung der Wagen gestattet, liegt unter jedem Geleise ein Rohr unter dem Straßenplanum, in welchem zahlreiche um horizontale Achsen drehbare Leitrollen zur Aufnahme des etwa 25 mm starken Seils dienen. An den beiden Enden der ganzen Strecke wird das Seil aus einem Geleise in das andre durch horizontale Wenderollen von 2,4 m Durchmesser übergeleitet. Die Röhren sind auf ihre ganze Länge an der Oberseite geschlitzt, um eine Verbindung zwischen Wagen und Seil zu ermöglichen, und zwar ist der Schlitz so viel von der Rohrmitte entfernt angebracht, daß einerseits kein Schmutz auf das Seil und die Leitrollen fallen und anderseits ein vom Wagen durch den Schlitz hinabreichender Kuppelungsarm den an den Gefällewechseln über dem Seil befindlichen Ablenkungsrollen ausweichen kann. Eine von dem Wagen herabreichende Stahlschiene wird mittels einer an ihrem untern Ende angebrachten, vom Führerstand des Wagens aus mittels Hebels zu handhabenden Seilklemme mit dem Seil verkuppelt. Diese Klammer hat die Form einer Zange und ist mit zwei das Seil erfassenden Klemmbacken aus weichem Gußeisen versehen. Das Anhalten und Weiterfahren an den Haltestellen erfolgt durchaus stoßfrei und wird von dem Kondukteur durch Lösen und Schließen der Klemme besorgt. Die Betriebsmaschine ist ungefähr in der Mitte der ganzen Bahnstrecke aufgestellt und liegt seitwärts von der Bahn, so daß an dieser Stelle eine rechtwinkelige Ablenkung des dem nächstliegenden Geleise angehörigen Seiltrums erfolgen muß, um das Seil nach der Betriebsscheibe hinzuleiten. Dieser Ablenkung des Seils kann die Seilklemme aber nicht folgen und muß daher kurz vor der Ablenkungsstelle gelöst und gleich hinterher wieder angeschlossen werden, während der Wagen infolge seines Beharrungsvermögens die kurze dazwischenliegende Strecke frei durchführt. Ein ähnliches Manöver muß bei Kurven gemacht werden, und damit hier die bedeutend längere Strecke ohne Seilantrieb sicher durchfahren werden kann, sind die Geleise vor der Kurve etwas ansteigend ausgeführt, um in der Kurve eine zur sichern Weiterbeförderung des Wagens erforderliche Neigung zu erhalten. Für den Betrieb wird nicht jeder Wagen einzeln an das Seil angeschlossen, sondern man fährt mit einem kleinen Zug von zwei gewöhnlichen Straßenbahnwagen und einem davor befindlichen Kuppelungswagen, welch letzterer aber außer dem Kondukteur noch Passagiere aufnimmt. Auf der Hängebrücke zwischen New York und Brooklyn wird eine Taubahn mit einem 38 mm dicken, 3492 m langen Drahtseil betrieben. Dasselbe wird mit 15 km Geschwindigkeit in der Stunde täglich 20 Stunden lang in Betrieb erhalten. 10-20 Wagen werden gleichzeitig angehängt, ihr Gewicht beträgt durchschnittlich je 10 Tonnen. Die Wagen folgen in Zeitabständen von 0,6-1,2 Minuten, so daß täglich 1200 ganze Reisen (hin und zurück) ausgeführt werden. über Elektrische Eisenbahnen s. d. Vgl. Clark, Tramways. their construction and working (Lond. 1878; deutsch von Uhland, Leipz. 1880, 2 Bde.); "Die Straßen- und Zahnradbahnen" (Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens, Supplementband 8, Wiesb. 1882); "Zeitschrift für das gesamte Lokal- und Straßenbahnwesen" (das., seit 1881); "Zeitschrift für Transportwesen und
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Straßenkehrmaschinen - Strategie.
Straßenbau" (Berl., seit 1884); v. Lindheim, Die
Straßenbahnen, Statistisches etc. (Wien 1888); Huber, Das Tramwayrecht (Zürich 1889).
Straßenkehrmaschinen sind zuerst am Ende der 20er Jahre in England eingeführt worden; sie ahmen entweder das Kehren mit Handbesen oder Krücken nach, und das arbeitende Werkzeug macht eine fast geradlinige oder schlingende fortschreitende Bewegung, oder das Bürsten- und Besensystem arbeitet ausschließlich bei rotierender Bewegung, oder es wird endlich der Besen wie eine endlose Kette in eine geradlinig fortschreitende und gleichzeitig drehende Bewegung versetzt. Die Maschinen der ersten Klasse sind am wenigsten brauchbar, die zweite Klasse zählt die meisten Konstruktionen, von denen die neueste
mit schräg liegender Cylinderbürste den Schmutz in
geradlinige Häufelstreifen zusammenkehrt. Sie unterscheidet sich von der ältern Konstruktion dadurch, daß die Cylinderbürste von dem einen Laufrad ab mittels konischer Räder und durch Benutzung eines Hookschen Gelenks bewegt wird, während der Betrieb der ältern Maschine durch eine endlose Kette erfolgt. Um die gleiche von einer Maschine gereinigte Straßenfläche in einer Stunde nur mit Handbesen zu kehren und zu häufeln, sind 33-36 geübte Leute nötig. Zur dritten Klasse gehören die Maschinen, bei denen das Besensystem ein schräg liegendes Paternosterwerk bildet, das den Schmutz auf einer festen schiefen Ebene aufwärts schiebt und einem Sammelkasten übergibt, während eine Brause die Straße schwach befeuchtet.
Straßenlokomotive, s. Lokomobile, S. 883 f.
Straßenraub, s. Raub.
Straßenrecht auf See (Seestraßenrecht, Seestraßenordnung), Grundsätze und seepolizeiliche Vorschriften, welche die Sicherung der Schiffe auf See, namentlich vor dem Zusammenstoß mit andern Fahrzeugen, bezwecken. Früher entschied in dieser
Hinsicht lediglich "das Herkommen auf See" , während in neuerer Zeit die Seestaaten, England voran, dazu übergegangen sind, im Verordnungsweg die
nötigen Vorschriften für ihre Schiffsführer zu erlassen. Auf Anregung Frankreichs wurden dann jene Vorschriften einer Revision unterzogen, um dieselben
möglichst in Einklang zu bringen und ihnen so einen
internationalen Charakter zu verleihen. Die betreffenden deutschen Verordnungen stimmen mit den englischen ("Revidierte Vorschriften zur Verhütung von Kollisionen auf See vom 14. Aug. 1879, in Verfolg der Zusatzakte zum Kauffahrteischiffahrtsgesetz
von 1862", nebst Nachtrag vom 21. Aug. 1884) zum Teil wörtlich überein. Die nötige Strafbestimmung enthält das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (§ 145). Es bedroht mit Geldstrafe bis zu 1500 Mk.
ein Zuwiderhandeln gegen die vom Kaiser erlassenen Verordnungen 1) zur Verhütung des Zusammenstoßes der Schiffe auf See, 2) über das Verhalten der Schiffer nach einem Zusammenstoß von Schiffen auf See, 3) in betreff der Not- und Lotsensignale für Schiffe auf See und auf den Küstengewässern. In ersterer Beziehung sind nun die Verordnungen vom 7. Jan. 1880 und 16. Febr. 1881 erlassen, während in zweiter die Verordnung vom 15. Aug. 1876
maßgebend ist, welche die Schiffsführer verpflichtet,
nach einem Zusammenstoß dem andern Schiff und den dazu gehörigen Personen Beistand zu leisten, soweit sie dazu ohne erhebliche Gefahr für das eigne Schiff und die darauf befindlichen Personen im stande sind. Dazu kommt dann endlich die Not- und Lotsensignalordnung vom 14. Aug. 1876; letztere, ebenso
wie die Verordnung vom 15. Aug. 1876, im wesentlichen der englischen Merchant Shipping Act von
1873 entnommen. Was die Verhütung des Zusammenstoßes von Schiffen auf See anbetrifft, so besteht die Vorschrift, daß jedes Segelschiff auf Backbord eine rote, auf Steuerbord eine grüne Laterne zu führen hat und keine andre; jeder Dampfer außerdem eine weiße Topplaterne, ein Schlepper zwei weiße Topplaternen übereinander; ein vor Anker liegendes Schiff an einer gut sichtbaren Stelle und nicht höher als 6 m über dem Schiffsrumpf eine weiße Ankerlaterne und keine andre. Mit Bezug auf das Ausweichen
gilt im allgemeinen die Regel, daß das mit den besten
Mitteln zum Manövrieren ausgestattete Schiff dem andern ausweicht; ein Dampfer muß daher einem Segelschiff stets ausweichen, ebenso das überholende Schiff dem vorangehenden. Bewegen sich zwei Schiffe auf gerader Linie gegeneinander, so haben sich dieselben mit den Backbordseiten zu passieren; kreuzen sich die Kurse zweier Segelschiffe, welche den Wind von verschiedenen Seiten haben, so muß dasjenige, welches den Wind von Backbord hat, dem andern aus dem Wege gehen; nur in dem Fall, wenn ersteres dicht am Wind segelt und das andre raumen Wind hat, muß letzteres ausweichen; haben beide Schiffe den Wind von derselben Seite, oder segelt eins derselben vor dem Wind, so weicht das luvwärts befindliche aus. Vgl. Gray, Bemerkungen über das S.
(deutsch von Freeden, Oldenb. 1885).
Straßeureinigungsmaschinen, s. Straßenkehrmaschinen.
Straßmann-Damböck, Marie, hervorragende
Schauspielerin, geb. 16. Dez. 1827 zu Fürstenfeld in
Steiermark, betrat 1843 zuerst zu Innsbruck die Bühne
mit glücklichem Erfolg und folgte von Brünn aus, wo sie als tragische Liebhaberin wirkte, 1845 einem Ruf
nach Hannover, der eigentlichen Wiege ihres Ruhms.
Als sie 1849 ehrenvolle Anträge von Wien, Berlin, Stuttgart, München erhielt, entschied sie sich für letzteres, verheiratete sich daselbst mit dem Heldenspieler Straßmann und siedelte mit demselben 1868 an das
Stadttheater zu Leipzig über, das sie jedoch schon 1870
mit dem Wiener Burgtheater vertauschte. Früher im Fach der Liebhaberinnen glänzend, ging sie bereits in Hannover in das der Heldinnen und weiblichen Charakterrollen über und leistete, unterstützt durch reiche äußere Mittel, besonders in der Darstellung dämonischer und hochtragischer Gestalten Ansgezeichnetes. Zu ihren Hauptrollen auf diesem Gebiet gehörten Antigone, Iphigenie, Medea, Judith, Thusnelda, Jungfrau, Deborah etc. In der letztern Zeit wandte sie sich dem Fach der Heldenmütter zu.
Straßnitz, Stadt in der mähr. Bezirkshauptmannschaft Göding, an der Lokalbahn Wessely-Sudomeritz unweit der March (Kettenbrücke), mit Bezirksgericht,
Piaristenkollegium, Schloß, Weinbau, Dampfmühle, Spiritus-, Preßhefe- und Malzfabrikation und (1880)
5229 Einw.
Strategem (griech., oder nach dem Franz. Stratagem), Kriegslist.
Strategen, bei den alten Athenern die 10 gewählten
Befehlshaber größerer Heeresabteilungen, welche an den Schlachttagen das Oberkommando, im Frieden in täglichem Wechsel den Oberbefehl führten. Ihr Amt dauerte ein Jahr (vgl. Phalanx). Vgl. Hauvette-Besnault, Les stratèges athéniens (Par. 1885). Jetzt bedeutet Stratege allgemein s. v. w. kriegskundiger Heerführer, Kriegsleiter (vgl. Strategie).
Strategie (griech.), Kriegsleitungslehre, Feldherrnkunst, die Lehre von der Heer- oder Truppenführung auf dem Kriegsschauplatz bis zum Schlachtfeld, hier
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Stratford - Stratifizieren.
wird sie Taktik. Die S. entwirft den Kriegsplan und wacht über dessen Ausführung; sie leitet die Kriegshandlung selbst und gibt ihr Richtung und Ziele. Sie bestimmt also im allgemeinen, wann, wohin und auf welchen Wegen die Truppen marschieren, wann sie schlagen sollen etc. Diese Anordnungen hängen wesentlich von den Nachrichten ab, die man über den Feind erhält; der Feldherr muß ferner außer den materiellen eignen und feindlichen Kräften und der Beschaffenheit des Kriegsschauplatzes auch die Charaktere der Führer, den Zustand und die Stimmung der Heere wie der Landeseinwohner in Betracht ziehen. Dadurch wird die S. zu einer schwer auszuübenden Kunst. Hauptgrundsätze der S. sind: getrennt marschieren und rechtzeitige Vereinigung zur Schlacht; keine Zeit verlieren; errungene Erfolge mit allem Nachdruck benutzen und auch mitten im Siegeslauf an die Möglichkeit denken, geschlagen zu werden, und deshalb aus Sicherung des Rückzugs stets bedacht sein. Obwohl die Grundsätze der S. einfach sind, so ist doch die Kriegführung selbst sehr schwierig; indessen haben die Schnelligkeit des heutigen Nachrichtenwesens wie die zahlreichen Verkehrswege und Verkehrsmittel die Heeresleitung gegen früher sehr erleichtert, so daß Operationen getrennter Heeresteile auch aus rückwärtiger Stellung geleitet werden können. Vgl. Friedrich II., OEuvres militaires; Napoleon, Maximes de guerre; Erzherzog Karl, Grundsätze der S. (Wien 1814, 3 Bde.); Valentini, Die Lehre vom Krieg (Berl. 1821-23, 4 Bde.); Jomini, Précis de l'art de guerre (deutsch, das. 1881); die Werke des Generals v. Clausewitz (s. d.); v. Willisen, Theorie des großen Kriegs (2. Aufl., Leipz. 1868, 4 Bde.); Rüstow: Der Krieg und seine Mittel (das. 1856), S. und Taktik der neuesten Zeit (Stuttg. 1872-75, 3 Bde.), Die Feldherrenkunst des 19. Jahrhunderts (3. Aufl , Zürich 1878); Leer, Positive S. (a. d. Russ., 2. Aufl., Wien 1871); Blume, Strategie (2. Aufl., Berl. 1886), und die Litteratur bei Art. Taktik.
Stratford (spr. strättförd), Stadt in der britisch-amerikan. Provinz Ontario, am Avon, nördl. von London, Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnen, mit (1881) 8239 Einwohnern.
Stratford de Redcliffe (spr. réddkliff), eigentlich Sir Stratford Canning, Viscount de Redcliffe, brit. Diplomat, geb. 6. Jan. 1788 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns zu London, Vetter des Ministers George Canning (s. d.), war bereits 1809 britischer Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel. 1814 ging er als bevollmächtigter Minister nach Basel, wo er an der Abfassung der Schweizer Bundesakte teilnahm. 1815 war er während des Kongresses in Wien und ging dann in diplomatischen Sendungen nach Washington und Petersburg. Im Februar 1826 wurde er Gesandter in Konstantinopel und wirkte für Beilegung der Differenzen zwischen der Türkei und Griechenland. Da indes die Pforte seine Vorschläge verwarf, verließ er 1827 Konstantinopel, ging 1828 als außerordentlicher Gesandter nach Griechenland und kehrte sodann, nachdem er an den Pariser Konferenzen zur Feststellung der Grenzen dieses Königreichs teilgenommen, nach England zurück. Im Oktober 1831 abermals zum Gesandten in Konstantinopel ernannt, nahm er wiederum an den Verhandlungen über die Regulierung der Grenzen Griechenlands teil und sah seine Bestrebungen durch den Londoner Vertrag vom 7. Mai 1832 gekrönt. 1833 und 1834 war er außerordentlicher Gesandter zu Madrid und Petersburg. 1841 ging er wieder als Gesandter nach Konstantinopel und war hier nun 16 Jahre lang unermüdlich thätig, den russischen Einfluß in der Türkei zu bekämpfen und auch jedes Vorwiegen eines französischen oder österreichischen Einflusses zu verhindern. Schon 1852 war er mit dem Titel Viscount de Redcliffe zum Peer erhoben worden. Im Juli 1858 nach England zurückgekehrt, nahm er seinen Sitz im Oberhaus ein; 1869 erhielt er den Hosenbandorden. Ohne seitdem an der aktiven Politik teilzuhaben, galt er doch immer als eine der ersten Autoritäten in Sachen der orientalischen Fragen und erhob namentlich in den Verwickelungen seit 1876 wiederholt seine Stimme, nicht durchweg die Maßregeln des Ministeriums Beaconsfield billigend. Er starb 14. Aug. 1880 auf seinem Landsitz Fermt Court in Kent. Er veröffentlichte einen Band Gedichte ("Shadows of the past", Lond. 1865), ein theolog. Werk: "Why am I a Christian?" (1873); "Alfred the Great in Athelnay" (1876) u. a.
Stratford le Bow (spr. li boh), Vorstadt von London, in der engl. Grafschaft Essex, östlich von Lea, mit (1881) 36,455 Einw. Vor der St. Johannskirche steht ein Denkmal zur Erinnerung an die hier 1555-56 verbrannten Protestanten. S. hat zahlreiche Fabriken (s. Ham).
Stratford on Avon (spr. ehw'n), Stadt in Warwickshire (England), am Avon, mit Lateinschule, Getreide- und Malzhandel und (1881) 8054 Einw. S. ist besonders denkwürdig als Geburts- und Sterbeort Shakespeares, dessen noch vorhandenes Geburtshaus vom Shakespeare-Verein angekauft wurde. Im Chor der schönen Stadtkirche befinden sich das Grab und Denkmal des Dichters; vor dem Stadthaus steht eine Statue desselben. Auch ist ein besonderes "Shakespeare-Gebäude" (mit Theater und Bibliothek) errichtet worden.
Strath (gäl.), s. v. w. breites kultiviertes Thal, im Gegensatz zu Glen (s. d.).
Strathaven (spr. strath-éhw'n oder strehw'n), Stadt in Lanarkshire (Schottland), am Avon, 12km südwestlich von Hamilton, mit Schloßruine und (1881) 3812 Einw.
Strathclyde (spr. strath-klaid') , s. v. w. Clydesdale, d. h. Thal des Clyde, Landschaft im südwestl. Schottland, bestand bis 1124 als unabhängiges Königreich.
Strathmore (spr. strath-móhr), fruchtbare Thalebene in Schottland, welche sich von Stonehaven bis zum Clyde erstreckt und im N. durch die Hochlande, im Süden durch die Sidlaw- und Ochillhügel begrenzt wird.
Strathnairn (spr. -nern), Hugh Henry Rose, Lord, engl. General, geb. 1803 zu Berlin, wo sein Vater britischer Gesandter war, trat 1820 in die Armee und ward, nachdem er den Grad eines Oberstleutnants erreicht hatte, nacheinander Generalkonsul in Syrien, Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel und britischer Kommissar im französischen Hauptquartier während des Krimkriegs. Beim Ausbruch des indischen Aufstandes erhielt er ein selbständiges Kommando und zeichnete sich so aus, daß er bei der Rückkehr Lord Clydes nach Europa diesem im Generalkommando der britischen Truppen in Indien folgte, in welcher Stellung er sich große Verdienste um die Reorganisation der indischen Armee erwarb. Von 1865 bis 1870 kommandierte er die britischen Truppen in Irland, 1866 wurde er zum Baron S. und zum Peer erhoben und 1877 zum Feldmarschall ernannt. Er starb 16. Okt. 1885 in Paris ohne Nachkommen.
Stratifikation (lat.), die Schichtung der Gesteine; Stratigraphie, die Lehre von derselben.
Stratifizieren (neulat., "schichtenförmig legen"), das Einschlagen von Samen (Weißdorn, Quitte, Clematis etc.), welche erst keimen, nachdem sie ein Jahr und länger in der Erde gelegen, oder auch von Samen,
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Stratiokratie - Strauß.
welche an der Luft bald ihre Keimfähigkeit verlieren, wie Aesculus, Castanea, Fagus, Juglans, Magnolia, Quercus u. a. Man benutzt hierzu Sand, Erde, Spreu, Sägespäne u. a., womit man die Samen vermischt und bedeckt und so in einem Gefäß in einen trocknen Keller stellt; bei hartschaligen Samen, z. B. Weißdornkernen, dürfen diese Stoffe einen geringen Grad von Feuchtigkeit besitzen. Größere Massen gräbt man im Erdboden ein, um sie dem Temperaturwechsel zu entziehen. Sobald der Keim sich zu zeigen beginnt, gießt man die Samen ein; ist das Würzelchen schon lang geworden, muß es abgekneipt werden.
Stratiokratie (griech.), Soldatenherrschaft.
Stratiomys, Waffenfliege; Stratiomydae (Waffenfliegen), Familie aus der Ordnung der Zweiflügler, s. Waffenfliegen.
Stratioten (griech., "Soldaten", auch Stradioten), halbwilde leichte Reiter aus Albanien und Morea, die im Solde der Venezianer standen, im 15. Jahrh. auch im französischen und spanischen Heer dienten, trugen türkische Tracht ohne Turban, ein Panzerhemd und kleinen Helm und führten als Waffen eine bis 4 m lange, an beiden Enden mit Eisen beschlagene Wurflanze, breiten Säbel und Gewehr.
Stratiotes L. (Wasserscher, Krebsscher), Gattung aus der Familie der Hydrocharideen, untergetauchte oder nur mit den Blattspitzen auftauchende, aloeartige Wasserpflanzen mit dicht rosettenartig gestellten, sitzenden, breit linealen, zugespitzten, stachlig gezahnten, starren Blättern, zusammengedrücktem Blütenschaft und diözischen Blüten. S. aloïdes L. (Meeraloe), mit schwertförmig dreikantigen Blättern, weißen Blüten und sechsfächeriger Beere, in stehenden und langsam fließenden Gewässern Norddeutschlands, meist gesellig, eignet sich gut für Aquarien.
Stratocumulus (lat.), die geschichtete Haufenwolke, s. Wolken.
Stratos, alte Bundeshauptstadt des wahrscheinlich illyrischen Volkes der Akarnanen (Mittelgriechenland), im Binnenland in der fruchtbaren Ebene des Acheloos gelegen, strategisch wichtig. Im Peloponnesischen Krieg mit Athen verbündet, schlug S. 429 den Angriff der Ambrakioten zurück, wurde etwa um 300 von den Ätoliern besetzt und blieb in deren Gewalt, bis 189 v. Chr. die Römer es den Akarnanen zurückgaben. Die sehr ausgedehnten, mit Türmen und stattlichen Thoren (daher der heutige Name Portäs) versehenen Stadtmauern und Reste eines Tempels liegen beim Walachendorf Surovigli.
Strato von Lampsakos, peripatetischer Philosoph, Theophrasts Schüler und Nachfolger als Vorstand der Aristotelischen Schule im Lykeion zu Athen, starb daselbst 240 v. Chr. Seiner vorwiegenden Beschäftigung mit der Physik halber, während er die Ethik fast vernachlässigte, hieß er der "Physiker". Von seinen Schriften ist nichts erhalten geblieben. Vgl. Nauwerk, De Stratone Lampsaceno (Berl. 1836).
Stratum (lat.), Schicht.
Stratus (lat.), die Schichtwolke, s. Wolken.
Strauben, feines, in steigender Butter gebackenes Gebäck aus einem Teig von Mehl, Zucker und Weißwein, den man durch einen im Kreis geschwenkten Trichter in die heiße Butter rinnen läßt.
Stranbfuß der Pferde, s. Igelfuß.
Straubing, unmittelbare und Bezirksamtsstadt im bayr. Regierungsbezirk Niederbayern, an der Donau, Knotenpunkt der Linien Neufahrn-S. und Passau-Würzburg der Bayrischen Staatsbahn, 318 m ü. M., hat 7 Kirchen, ein Schloß, einen schönen Marktplatz mit Dreifaltigkeitssäule, eine Studienanstalt, eine Realschule, ein Schullehrer- und ein bischöfliches Knabenseminar, ein Waisenhaus, eine Taubstummen- und eine Idiotenanstalt, 4 Klöster, mehrere Hospitäler etc., ein Landgericht, eine Filiale der königlichen Bank in Nürnberg, eine Bankagentur der Bayrischen Notenbank, bedeutende Ziegel-, Kalk- und Zementfabrikation, Gerberei, Bierbrauerei, Getreidehandel und (1885) mit der Garnison (ein Infanteriebataillon Nr. 11) 12,804 meist kath. Einwohner. Zum Landgerichtsbezirk S. gehören die 7 Amtsgerichte zu Bogen, Kötzting, Landau a. I., Mallersdorf, Mitterfels, Neukirchen bei Heiligblut und S. - Die Stadt, an deren Stelle schon in der Römerzeit eine Ansiedelung, Sorbiodurum, bestand, soll um 1208 von Ludwig von Bayern gegründet worden sein. Bei der Teilung Niederbayerns (1353) wurde eine Linie Bayern-S. von Wilhelm und Albrecht begründet, die 1425 mit Johann I. ausstarb, worauf wegen S. ein Streit (Straubinger Erbfall) entstand. Durch König Siegmund wurde 1429 S. dem Herzog Ernst von Bayern-München verliehen. 1435 wurde hier Agnes Bernauer (s. d.) von der Donaubrücke in den Strom gestürzt. Vgl. Wimmer, Sammelblätter zur Geschichte der Stadt S. (Straub. 1882-86, 4 Hefte).
Strauch (Frutex), ein Holzgewächs, dessen Stamm gleich vom Boden an in Äste geteilt ist, wodurch allein es sich von den Bäumen unterscheidet. Daher können manche Sträucher künstlich baumartig gezogen werden durch Abschneiden der untern Äste, und Bäume können unter ungünstigen äußern Verhältnissen strauchförmig werden. Vgl. Halbstrauch.
Strauchkraut, f. Datisca.
Strauchweichsel, s. Kirschbaum, S. 789.
Strausberg, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Potsdam, Kreis Oberbarnim, am Straussee und an der Linie Berlin-Schneidemühl der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche aus dem 16. Jahrh., ein Realprogymnasium, eine Landarmen- und Korrektionsanstalt, ein Amtsgericht, Federbesatz-, Flanell-, Schnittwaren- und Teppichfabrikation und (1885) 6525 meist evang. Einwohner. S. wird zuerst 1238 urkundlich erwähnt.
Strauß (Struthio L.), Gattung aus der Ordnung der Straußvögel (Ratitae) und der Familie der Strauße (Struthionidae), mit der wohl einzigen Art S. camelus L. (s. Tafel "Straußvögel"). Der S. ist 2,5 m hoch, 2 m lang, 1,5 Ztr. schwer; er besitzt einen sehr kräftigen Körper, einen langen, fast nackten Hals, einen kleinen, platten Kopf, einen mittellangen, stumpfen, vorn abgerundeten, an der Spitze platten, mit einem Hornnagel bedeckten, geraden Schnabel mit biegsamen Kinnladen, bis unter das Auge reichender Mundspalte und offen stehenden, länglichen, ungefähr in der Mitte des Schnabels befindlichen Nasenlöchern, große, glänzende Augen, deren oberes Lid bewimpert ist, unbedeckte Ohren, hohe, starke, nur an den Schenkeln mit einigen Borsten besetzte, nackte Beine mit groß geschuppten Läufen und zwei Zehen, von denen die innere mit einem großen, stumpfen Nagel bewehrt ist, ziemlich große, zum Fliegen aber untaugliche, mit doppelten Sporen versehene Flügel, welche anstatt der Schwingen schlaffe, weiche, hängende Federn enthalten, einen kurzen, aus ähnlichen Federn bestehenden Schwanz, mäßig dichtes, ebenfalls aus schlaffen, gekräuselten Federn gebildetes Gefieder und an der Mitte der Brust eine unbefiederte, hornige Schwiele. Beim Männchen sind alle kleinen Federn des Rumpfes schwarz, die langen Flügel- und Schwanzfedern blendend weiß, der Hals hochrot, die Schenkel fleischfarben; beim Weib-
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Strauß (Vogel) Strauß (Personenname).
chen ist das Kleingefieder braungrau, nur auf den Flügeln und in der Schwanzgegend schwärzlich, Schwingen und Steuerfedern sind unrein weiß, das Auge ist braun, der Schnabel horngelb. Der S. bewohnt die Steppen und Wüsten Afrikas und Westasiens vom Süden Algeriens bis tief ins Kapland hinein, auch in den Steppen zwischen Nil und Rotem Meer, in den Wüsten des Euphratgebiets, in Arabien und Südpersien, überall nur, soweit ein wenn auch spärlicher Pflanzenwuchs den Boden bedeckt und Wasser vorhanden ist, durcheilt aber auch völlig pflanzenlose Striche. Er lebt in Familien, die aus einem Hahn und 24 Hennen bestehen, macht auch, wo das Klima dazu zwingt, Wanderungen und rottet sich dann zu Herden zusammen. Er überholt im Lauf ein Rennpferd und breitet dabei seine Flügel aus. Sein Gesicht ist außerordentlich scharf, und auch Gehör und Geruch find ziemlich fein. Dagegen ist er sehr dumm und flieht vor jeder ungewohnten Erscheinung. Oft findet man ihn in Zebraherden, die von seiner Wachsamkeit u. feiner Fähigkeit, weite Strecken zu übersehen, Vorteil ziehen. Er nährt sich von Gras und Kraut, Körnern, Kerbtieren und kleinen Wirbeltieren, verschlingt jedoch auch Steine, Scherben etc., ist aber keineswegs gefräßig. Wasser trinkt er in großer Menge. Der S. nistet in einer runden Vertiefung im Boden, in welche die Hennen zusammen etwa 30 Eier legen, während weitere Eier um das Nest herum zerstreut werden. Eine Henne legt etwa 12-15 Eier. Das Ei ist 14-15,5 cm lang, 11-12,7 cm dick, schön eiförmig, gelblichweiß, heller marmoriert, wiegt durchschnittlich 1440 g und besitzt einen schmackhaften Dotter. Die Bebrütung geschieht hauptsächlich oder ausschließlich von seiten des Männchens, und nur im Innern Afrikas werden die Eier stundenlang verlassen, dann aber mit Sand bedeckt. Nach 45-52 Tagen schlüpfen die Jungen aus, welche mit igelartigen Stacheln bedeckt sind, die sie nach zwei Monaten verlieren; sie erhalten dann das graue Gewand der Weibchen, und im zweiten Jahr färben sich die Männchen und werden im dritten zeugungsfähig. Das Nest und die Jungen werden von dem S. sorgsam bewacht und verteidigt. Der S. erträgt die Gefangenschaft sehr gut, und in Innerafrika wird er allgemein zum Vergnügen gehalten. Gezüchtet hat man den S. zuerst 1857 in Algerien, bald darauf wurden auch in Florenz, Marseille, Grenoble u. Madrid junge Strauße erbrütet, und seit 1865 datiert die Straußenzucht im Kapland, wo 1875 über 32,000 Strauße gehalten wurden und die Zucht gegenwärtig einen der wichtigsten Erwerbszweige des Landes bildet. Man hält die Tiere wenn möglich auf einem großen eingefriedeten, mit Luzerne besäeten Feld und über läßt sie sich selbst, wendet aber auch vielfach künstliche Brut an und rühmt die größere Zähmbarkeit der auf diese Weise erhaltenen Tiere, welche sich auch außerhalb der Umzäunung auf die Weide treiben lassen. Von acht zu acht Monaten schneidet man die wertvollen Federn ab. Straußenjagd wird in ganz Afrika leidenschaftlich betrieben. Man ermüdet das Tier und erlegt es schließlich durch einen heftigen Streich auf den Kopf; in den Euphratsteppen erschießt man den brütenden Vogel auf dem Nest, erwartet, im Sand vergraben, das andre Tier und erlegt auch dieses. Am Kap ist die Straußenjagd seit 1870 gesetzlich geregelt. Als die schönsten Straußfedern gelten die sogen. Aleppofedern aus der Syrischen Wüste; auf sie folgen die Berber-, Senegal-, Nil-, Mogador-, Kap- und Jemenfedern. Zahmen Straußen entnommene Federn sind immer weniger wert als die von wilden. Die Eier und das Fleisch werden überall gegessen. Die Eierschalen dienen in Süd und Mittelafrika zu Gefäßen, in den koptischen Kirchen zur Verzierung der Lampenschnüre. Altägyptische Wandgemälde lassen erkennen, daß der S. im Altertum den Königen als Tribut dargebracht wurde, die Federn dienten damals schon als Schmuck und galten als Sinnbild der Gerechtigkeit. Bei den Assyrern war der S. wahrscheinlich ein heiliger Vogel, die ältesten Skulpturen zeigen mit Straußfedern verzierte Gewänder. Vielfach berichten die Alten über Gestalt und Lebensweise des Straußes. Heliogabal ließ einst das Gehirn von 600 Straußen auftragen, und bei den Jagdspielen des Kaisers Gordian erschienen 300 rot gefärbte Strauße. Auch von den alten Chinesen werden Straußeneier als Geschenk für den Kaiser erwähnt. Die Bibel zählt den S. zu den unreinen Tieren. Seit dem Mittelalter gelangten die Federn auch auf unsre Märkte. Vgl. Mosenthal und Harting, Ostriches and ostrich-farming (2. Aufl., Lond. 1879).
Strauß, 1) Friedrich, protest. Theolog, geb. 24. Sept. 1786 zu Iserlohn, ward 1809 Pfarrer zu Ronsdorf im Herzogtum Berg, 1814 in Elberfeld und 1822 als Hof und Domprediger und Professor nach Berlin berufen, wo er 1836 zum Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat ernannt ward. Seit 1859 in den Ruhestand versetzt, starb er 19. Juli 1863. Außer vielen Predigtsammlungen veröffentlichte er: "Glockentöne, oder Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Predigers" (Elberf. 181220, 3 Bdchn.; 7. Aufl., Leipz. 1840); "Helons Wallfahrt nach Jerusalem" (Elberf.182021,4Bde.); "Das evangelische Kirchenjahr in seinem Zusammenhang (Berl. 1850) ; "Abendglockentöne" (das. 1868).
2) Johann, Tanzkomponist, geb. 14. März 1804 zu Wien, wirkte als Violinist im Lannerschen Tanzorchester, bis er 1824 ein selbständiges Orchester er richtete, mit dem er rasch die Gunst des Publikums eroberte. Später machte er mit seinem Orchester auch Kunstreisen und erntete allenthalben enthusiastischen Beifall. Er starb 25. Sept. l 849 in Wien als k. k. Hofballmusikdirektor. Die Zahl seiner Werke beläuft sich auf 249. Eine Gesamtausgabe seiner Tänze (für Klavier, 7 Bde.) gaben Breitkopf u. Härtel heraus. - Sein Sohn Johann, geb. 25. Okt. 1825, übernahm nach des Vaters Tode dessen Orchester, mit dem er neue ausgedehnte Kunstreisen machte, und hat sich ebenfalls durch zahlreiche ansprechende Tänze ("An der schönen blauen Donau", "Künstlerleben", "Wiener Blut" etc.) sowie neuerdings durch die Operetten: "Indigo" (1871), "Die Fledermaus" (1874), "Cagliostro" (1875), "La Tsigane" (1877), "Prinz Methusalem" (1877), "Das Spitzentuch der Königin" (1881), "Der lustige Krieg" (1881), "Eine Nacht in Venedig" (1883), "Der Zigeunerbaron" (1885) u. a. in den weitesten Kreisen bekannt gemacht.
3) David Friedrich, der berühmte Schriftsteller, geb. 27. Jan. 1808 zu Ludwigsburg in Württemberg, bildete sich in dem theologischen Stift zu Tübingen, ward 1830 Vikar, 1831 Professoratsverweser am Seminar zu Maulbronn, ging aber noch ein halbes Jahr nach Berlin, um Hegel und Schleiermacher zu hören. 1832 wurde er Repetent am theologischen Seminar zu Tübingen und hielt zugleich philosophische Vorlesungen an der Universität. Damals erregte er durch seine Schrift "Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet" (Tübing. 1835, 2 Bde.; 4. Aufl. 1840) ein fast bei spielloses Aufsehen. S. wandte in demselben das auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften begründete
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Strauß (Personenname).
und bereits zur Erklärung alttestamentlicher und einzelner neutestamentlicher Erzählungen benutzte Prinzip des Mythus auch auf den gesamten Inhalt der evangelischen Geschichte an, in welcher er ein Produkt des unbewußt nach Maßgabe des alttestamentlich jüdischen Messiasbildes dichtenden urchristlichen Gemeingeistes erkannte. Die Gegenschriften gegen dieses Werk bilden eine eigne Litteratur, in der kaum ein theologischer und philosophischer Name von Bedeutung fehlt. Seine Antworten auf dieselben erschienen als "Streitschristen" (Tübing. 1837). Für die persönlichen Verhältnisse des Verfassers hatte die Offenheit seines Auftretens die von ihm stets schmerzlich empfundene Folge, daß er noch 1835 von seiner Repetentenstelle entfernt und als Professoratsverweser nach Ludwigsburg versetzt wurde, welche Stelle von ihm jedoch schon im folgenden Jahr mit dem Privatstand vertauscht wurde. Früchte dieser ersten (Stuttgarter) Muße waren die "Charakteristiken und Kritiken" (Leipz. 1839, 2. Aufl. 184) und die Abhandlung "Über Vergängliches und Bleibendes im Christentum" (Altona 1839). Von einer versöhnlichen Stimmung sind auch die in der 3. Auflage des "Lebens Jesu" (1838) der positiven Theologie gemachten Zugeständnisse eingegeben, aber schon die 4. Auflage nahm sie sämtlich zurück. 1839 erhielt S. einen Ruf als Professor der Dogmatik und Kirchengeschichte nach Zürich; doch erregte diese Berufung tm Kanton so lebhaften Widerspruch, daß er noch vor Antritt seiner Stelle mit 1000 Frank Pension in den Ruhestand versetzt ward. 1841 verheiratete sich 5. mit der Sängerin A. Schebest (s. d.), doch wurde die Ehe nach einigen Jahren getrennt. Sein zweites Hauptwerk ist: "Die christliche Glaubenslehre, in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampf mit der modernen Wissenschaft dargestellt" (Tübing. 1840 1841, 2 Bde.), worin eine scharfe Kritik der einzelnen Dogmen in Form einer geschichtlichen Erörterung des Entstehungs- und Auflösungsprozesses derselben gegeben wird. Auf einige kleine ästhetische und biographische Artikel in den "Jahrbüchern der Gegenwart" folgte das Schriftchen "Der Romantiker auf dem Thron der Cäsaren, oder Julian der Abtrünnige" (Mannh. 1847), eine ironische Parallele zwischen der Restauration des Heidentums durch Julian und der Restauration der protestantischen Orthodoxie durch den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. 1848 von seiner Vaterstadt als Kandidat für das deutsche Parlament ausgestellt, unterlag S. dem Mißtrauen, welches die pietistische Partei unter dem Landvolk des Bezirks gegen ihn wachrief. Die Reden, welche er teils bei dieser Gelegenheit, teils vorher in verschiedenen Wahlversammlungen gehalten hatte, erschienen unter dem Titel: "Sechs theologischpolitische Volksreden" (Stuttg. 1848). Zum Abgeordneten der Stadt Ludwigsburg für den württembergischen Landtag gewählt, zeigte S. wider Erwarten eine konservative politische Haltung, die ihm von seinen Wählern sogar ein Mißtrauensvotum zuzog, in dessen Folge er im Dezember 1848 sein Mandat niederlegte. Seiner spätern, teils in Heidelberg, München und Darmstadt, teils in Heilbronn und Ludwigsburg verbrachten Muße entstammten die durch Gediegenheit der Forschung und schöne Darstellung ausgezeichneten biographischen Arbeiten: "Schubarts Leben in seinen Briefen" (Berl. 1849, 2 Bde.); "Christian Märklin, ein Lebens und Charakterbild aus der Gegenwart" (Mannh. 1851); "Leben und Schriften des Nikodemus Frischlin" (Frankf. 1855); "Ulrich von Hutten (Leipz. 858; 4. Aufl., Bonn 1878), nebst der Übersetzung von dessen "Gesprächen" (Leipz. 1860); "Herm. Samuel Reimarus" (das. 1862); "Voltaire, sechs Vorträge" (das. 1870; 4. Aufl., Bonn 1877); ferner "Kleine Schriften biographischen, litteratur- und kunstgeschichtlichen Inhalts" (Leipz. 1862; neue Folge, Berl. 1866), woraus "Klopstocks Jugendgeschichte etc." (Bonn 1878) und der Vortrag "Lessings Nathan der Weise" (3. Aufl., das. 1877) besonders erschienen. Eine neue, "für das Volk bearbeitete" Ausgabe seines "Lebens Jesu" (Leipz. 1864; 5. Aufl., Bonn 1889) ward in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Einen Teil der hierauf gegen ihn erneuten Angriffe wies er in der gegen Schenkel und Hengsten berg gerichteten Schrift zurück: "Die Halben und die Ganzen" (Berl.1865), wozu noch gehört: "Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte, eine Kritik des Schleiermacherschen Lebens Jesu" (das. 1865). Noch einmal, kurz vor seinem 8. Febr. 1874 zu Ludwigsburg erfolgten Tod, erregte S. allgemeines Aufsehen durch seine Schrift "Der alte und der neue Glaube, ein Bekenntnis" (Leipz.1872; 11.Aufl., Bonn 1881), in welcher er mit dem Christentum definitiv brach, alle gemachten Zugeständnisse zurücknahm und einen positiven Aufbau der Weltanschauung auf Grundlage der neuesten, materialistisch und monistisch gerichteten Naturforschung unternahm. S.' "Gesammelte Schriften" hat Zeller herausgegeben (Bonn 187678, 11 Bde.; dazu als Bd. 12: "Poetisches Gedenkbuch", Gedichte). Vgl. Hausrath, D. F. S. und die Theologie seiner Zeit (Heidelb. 187678, 2 Bde.); Zeller, S., nach seiner Persönlichkeit und seinen Schriften geschildert (Bonn 1874).
4) (S. und Torney) Viktor von, Schriftsteller, geb. 18. Sept. 1809 zu Bückeburg, studierte zuerst in Bonn und Göttingen die Rechte, sodann Theologie, um in die kirchlichen Kämpfe der Gegenwart, in denen er durchaus auf seiten der Orthodoxie stand, besser gerüstet eingreifen zu können, und wurde 1840 zum Archivrat in Bückeburg ernannt. Schon seine ersten Dichtungen: "Gedichte" (Bielef. 1841), "Lieder aus der Gemeine" (Hamb. 1843), die Epen: "Richard" (Bielef. 1841) und "Robert der Teufel" (Heidelb. 1854), erwiesen neben echt poetischem Talent und einer seltenen Formbegabung die Entschiedenheit seines religiös-konservativen Standpunktes. 1848 zum Kabinettsrat des regierenden Fürsten von Schaumburg-Lippe, später auch zum Bundestagsgesandten ernannt, fand er auch auf politischem Feld vielfach Gelegenheit, diese konservativen Anschauungen zu bethätigen. 1866 mit dem Rang eines Wirklichen Geheimen Rats aus seiner amtlich en Stellung ausgeschieden, lebte er zuerst in Erlangen, seit 1872 in Dresden, eine vielseitige litterarische Thätigkeit entwickelnd. Bereits 1851 in den österreichischen Adelstand erhoben, fügte er später seinem Namen auch den seiner Gattin, einer gebornen von Torney, bei; 1882 ernannte ihn die Universität Leipzig zum Doktor der Theologie. Es erschienen von ihm noch: "Lebensfragen in sieben Erzählungen" (Heidelb. 1846, 3Bde.); die dramatischen Dichtungen: "Gudrun" und "Polyxena" (beide Frankf. 1851) und "Judas Ischariot" (Heidelb. 1855); "Weltliches und Geistliches in Gedichten und Liedern" (das. 1856); der Roman "Altenberg" (Leipz. 1866, 4 Bde.); "Novellen" (das.1872, 3 Bde.); die epische Dichtung "Reinwart Löwenkind" (Gotha 1874); "Lebensführungen", Novellen (Heidelberg 1881, 2 Bde.), und "Die Schule des Lebens", drei Novellen (das. 1885). Aus seinem Studium de Chinesischen gingen ein Werk über Laotse" (Leipz. 1870) und eine meisterhafte Übertragung des älte-
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Sträußchen - Streckbarkeit.
sten chinesischen Liederbuchs, des "Schiking" (Heidelb. 1880), hervor, mit der er den Geist der ältern chinesischen Kultur, soweit er sich poetisch geoffenbart, vollständig erschloß. Von seinen sonstigen Schriften sind zu erwähnen die Biographie des Polycarpus (Heidelb. 1860); "Meditationen über das erste Gebot" (Leipz. 1866); "Essays zur allgemeinen Religionswissenschaft" (Heidelb. 1879) und "Der altägyptische Götterglaube" (das. 1888, Bd. 1).
5) Friedrich Adolf, Sohn von S. 1), ebenfalls Theolog, geb. 1.Juni 1817 zu Elberfeld, wurde Hilfsprediger an der Hof- und Domkirche und, nachdem er das Morgenland bereist hatte, 1847 Divisionsprediger und 1859 Professor in Berlin, seit 1870 Hofprediger zu Potsdam und starb daselbst 16. April 1888. Er schrieb unter anderm: "Sinai und Golgatha. Reise ins Morgenland" (Berl. 1846; 11. Aufl. 1882); "Die Länder und Stätten der Heiligen Schrift" (mit seinem Bruder Otto S., Stuttg. 1861 ; 2. Aufl., Leipz. 1876) ; "Liturgische Andachten" (1850; 4. Aufl., Berl. 1886) und "Trost am Sterbelager" (2. Aufl., das. 1874).
Sträußchen (der Bienen), s. Büschelkrankheit.
Straußelster, s. Würger.
Straußgras, s. Agrostis.
Straußhyazinthe, s. Muscari.
Straußvögel (Ratitae, hierzu Tafel "Straußvögel", auch Kurzflügler [Brevipennes] oder Laufvögel [Cursores]), eine der Hauptgruppen der Vögel, in erster Linie durch den Bau ihres Brustbeins charakterisiert, das nicht, wie bei allen andern Vögeln, einen hohen Knochenkamm zum Ansatz der Flugmuskeln besitzt, sondern flach bleibt. Die Flügel sind mehr oder weniger verkümmert und können höchstens zur Beschleunigung des Laufs dienen. Der ganze Knochenbau weicht ferner in manchen Punkten wesentlich von dem der übrigen, d. h. der fliegenden, Vögel ab: so sind die Knochen nicht hohl und mit Luft erfüllt, sondern fest und schwer (namentlich sind die Hinterbeine sehr massiv); so bleiben die Schädelknochen in der Jugend noch lange Zeit voneinander getrennt; so verwachsen die einzelnen Teile des Schultergürtels zu einem einzigen Knochen; so sind die Schlüsselbeine rückgebildet etc. Der Oberarm ist entweder lang, wie bei den Straußen im engern Sinn, oder sehr kurz oder ganz und gar verkümmert. Die Zahl der Zehen wechselt zwischen zwei und vier und gibt ein gutes Unterscheidungsmerkmal für die Unterabteilnngen der S. ab. Der Schnabel ist stets flach, meist auch kurz. Die Zunge ist sehr klein. Ein Kropf fehlt meistens; der Magen ist außerordentlich muskulös und derb ("Straußenmagen"); die Gallenblase fehlt bei einigen Formen. Der untere Kehlkopf ist nirgends vorhanden. Auch die Bürzeldrüse fehlt. Im männlichen Geschlecht sind die Begattungsorgane zum Teil sehr gut entwickelt (s. Vögel). Das Gefieder entbehrt durchaus der Schwung- und Steuerfedern; die Federn selbst unterscheiden sich von den gewöhnlichen Vogelfedern dadurch, daß die Strahlen nicht zusammenhängen, sondern lockere Büschel bilden, und sind daher weich und wie Flaumfedern anzufühlen. An den Konturfedern sind bisweilen ein oder zwei Afterschäfte von gleicher Größe mit dem Hauptschaft vorhanden. Manche Stellen am Kopf, Hals und an der Brust bleiben ganz nackt. Die S. sind meist ansehnliche Vögel und haben namentlich unter den Fossilen riesige Vertreter. In der Schnelligkeit des Laufs übertreffen einige von ihnen sogar die besten Renner unter den Säugetieren. Sie be-wohnen meist die Steppen und Ebenen der Tropen und nähren sich von Vegetabilien; vielfach lebt ein Männchen mit mehreren Weibchen zusammen. Die zuweilen sehr großen Eier werden vorzugsweise vom Männchen bebrütet. In der Gegenwart fehlen die S. in Europa, waren jedoch einst vorhanden, wie die Funde in England darthun. Ihre Existenz in den frühern Epochen der Erdgeschichte war so lange möglich, wie noch nicht die großen Raubtiere aufgetreten waren; zur Zeit ist die Gruppe im Aussterben begriffen und hat sogar in historischer Zeit sich wesentlich vermindert (s. unten). Sie umfaßt nur noch 5 Gattungen mit 20 Arten, zu denen noch 5 Gattungen und 14 Arten jüngst ausgestorbener hinzukommen. Als schwimmender Strauß ist der neuerdings in der Kreide von Kansas aufgefundene Hesperornis zu betrachten, dessen Schnabel aber mit Zähnen besetzt war; er leitet zu den Reptilien über (s. Vögel). Abgesehen von ihm teilt man die S. in 6 Familien:
1) Äpyornithiden (Aepyornithidae) mit der Gattung Aepyornis (3 Arten). Bewohnten Madagaskar, wo man im Alluvium Teile des Skeletts und die enormen Eier (achtmal größer als Straußeneier) gefunden hat. A. maximus ist vielleicht der Vogel Rok der Sage.
2) Palapterygiden (Palapterygidae) mit 2 Gattungen und 4 Arten. Füße dreizehig, Flügel sehr verkümmert. Lebten auf Neuseeland.
3) Moas oder Dinornithiden (Dinornithidae) mit 2 Gattungen und 7 Arten. Füße zweizehig, Flügel fehlten wahrscheinlich ganz. Lebten auf Neuseeland zum Teil noch mit Menschen zusammen und leben in kleinern Arten dort vielleicht auch jetzt noch. Hierher Dinornis giganteus oder Moa (s. d.).
4) Kiwis oder Schnepfenstrauße (Apterygidae). Schnabel sehr lang, Nasenlöcher an seiner Spitze, Flügel und Schwanz nicht hervortretend, Beine sehr stark, Füße vierzehig. Hierher die Gattung Apteryx (Kiwi, s. d.) mit 4 Arten, sämtlich von Neuseeland.
5) Kasuare (Casuaridae). Schnabel ziemlich lang, hoch, Schwanz nicht hervortretend, Hals kurz, Füße dreizehig. Hierher die Gattungen Casuarius (Kasuar, s. d., 9 Arten, Australien und benachbarte Inseln) und Dromaeus (Emu, s. d., 2 Arten, Australien).
6) Strauße (Struthionidae). Schnabel breit, flach, Hals und Läufe sehr lang, Flügel zum Teil verkümmert, Füße drei- oder zweizehig. Hierher die Gattungen Rhea (amerikanischer oder dreizehiger Strauß, oder Nandu, 3 Arten, Südamerika) und Struthio (afrikanischer oder zweizehiger Strauß, s. Strauß, 2 Arten, Afrika, Arabien, Syrien).
Strazze (v. ital. stracciafoglio) , s. v. w. Kladde (s. d.); Strazzen, s. v. w. Lumpen oder Hadern.
Streatham (spr. stréttam), Vorstadt von London, 10 km im SSW. der Londonbrücke, hoch gelegen, mit chemischen Fabriken, dem von Johnson besuchten Thrale House und (1881) 21,611 Einw.
Streator (spr. strihtór), Stadt im nordamerikan. Staat Illinois, am Vermilion River, 130 km südwestlich von Chicago, Hauptknotenpunkt von Eisenbahnen, mit (1880) 5157 Einw.
Strebe, im Bergbau Grubenholz, welches zur Unterstützung des Gesteins oder der Zimmerung in geneigter Stellung eingetrieben wird.
Strebebau, s. Bergbau, S. 725.
Strebebogen, in der got. Baukunst an Kirchen ein von dem obern Teil der Mauer des Mittelschiffs zur Sicherung derselben über das Dach des Seitenschiffs bis zum äußern Strebepfeiler hinübergeschlagener Bogen (s. Tafel "Dom zu Köln II", Fig. 4 u. 8). Die Strebepfeiler sind viereckig aus den Mauern hervortretende Stützen, welche ein Gegengewicht gegen den Gewölbeschub des Innern bilden sollen, meist durch Absätze gegliedert und von Fialen gekrönt sind. Vgl. Baustil, S. 527.
Strebepfeiler, s. Strebebogen und Pfeiler.
Streckbarkeit, s. Dehnbarkeit.
Straußvögel.
Strauß (Struthio camelus). 1/16. (Art. Strauß.)
Nandu (Rhea amcricana). 1/10. (Art. Nandu.)
Helmkasuar (Casuarius galeatus). 1/8. (Art. Kasuar.)
Kiwi (Apteryx australis). 1/20 (Art. Kiwi.)
Meyers Konv.-Lexikon, 4. Aufl.
Bibliographisches Institut in Leipzig.
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Streckbett - Streichen der Schichten.
Streckbett, orthopädische Vorrichtung, besteht in einer Bettstelle mit Matratze, woran sich Apparate befinden, durch welche der verkrümmte Körper mittels Zugs (an Kopf, Hals, Becken, Füßen), auch wohl mittels Drucks (z. B. von der Seite her), eine Zeitlang in der Richtung erhalten wird, die er behufs der Beseitigung gewisser Krümmungen oder Streckung gewisser verkürzter Muskeln oder Sehnen etc. einnehmen soll. In der neuern Chirurgie bedient man sich der Streckbetten nur in frischen und subakuten Fällen, namentlich bei Beinbrüchen der untern Extremität, Entzündungen der Gelenke, Resektionen etc., hier aber mit dem segensreichsten und eklatantesten Erfolg. Für veraltete Fälle, Verkrümmungen der Wirbelsäule und des Brustkorbs ist man von dem Gebrauch der Streckbetten fast ganz zurückgekommen.
Strecke, ein Grubenbau innerhalb der Lagerstätten, deshalb (zum Unterschied von Stollen und Schacht) fast immer ohne Mundloch über Tage, in seiner Längsrichtung wesentlich horizontal, in der Regel von andern Grubenbauen aus angelegt. In der Jägersprache heißt S. das nach beendeter Jagd in Reihen zusammengelegte Wild, das bei großen Jagden nach Wildart, Geschlecht und Stärke geordnet und dann von dem Jagdherrn und den Gästen besichtigt wird, wobei die verschiedene Totsignale geblasen werden. Nach altem Brauch darf niemand über das gestreckte Wild wegschreiten. Zur S. bringen, s. v. w. ein Wild erlegen.
Strecker, Adolf, Chemiker, geb. 21. Okt. 1812 zu Darmstadt, studierte in Gießen Chemie und Naturwissenschaft, wurde 1842 Lehrer an der Realschule in Darmstadt, 1846 Privatassistent Liebigs in Gießen und habilitierte sich 1848 an der dortigen Universität als Privatdozent. 1851 folgte er einem Ruf an die Universität Christiania, wurde 1860 Professor der Chemie in Tübingen und 1870 in Würzburg, wo er 9. Nov. 1871 starb. Er lieferte eine vielbenutzte Bearbeitung von Regnaults "Lehrbuch der Chemie" (Braunschw. 1851, nach seinem Tod fortgeführt von Wislicenus) und schrieb: "Das chemische Laboratorium der Universität Christiania" (Christ. 1854); "Theorien und Experimente zur Bestimmung der Atomgewichte" (Braunschw. 1859).
Streckfuß, 1) Adolf Friedrich Karl, Dichter und Übersetzer, geb. 20. Sept. 1778 zu Gera, studierte in Leipzig die Rechte, ward 1819 Oberregierungsrat zu Berlin, 1840 Mitglied des Staatsrats und starb daselbst 26. Juli 1844. S. hat sich namentlich durch seine Übersetzungen von Ariostos "Rasendem Roland" (Halle 1818-20, 5 Bde.; 2. Aufl. 1840), von Tassos "Befreitem Jerusalem" (Leipz. 1822, 2 Bde.; 4. Aufl. 1847) und Dantes "Göttlicher Ko-mödie" (Halle 1824-26, 3 Bde. ; 9. Aufl. 1871) einen Platz in der deutschen Litteratur erworben. Seine eignen Werke bestehen in lyrischen und epischen Dichtungen ("Gedichte", neue Ausg., Leipz. 1823; "Neuere Dichtungen", Halle 1834) sowie in Erzählungen (Dresd. 1814 u. Berl. 1830).
2) Adolf, Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 10. Mai 1823 zu Berlin, studierte, nachdem er die Landwirtschaft praktisch erlernt, 1845-48 auf der landwirtschaftlichen Akademie zu Möglin und Eldena, wurde 1848 beim Ausbruch der Revolution in Berlin in die demokratische Bewegung gerissen und war für dieselbe auch schriftstellerisch thätig. In den folgenden Reaktionsjahren wurde er wegen des Werkes "Die große französische Revolution und die Schreckensherrschaft" (Berl. 1851, 2 Tle.) in den Anklagestand versetzt, indessen vom Schwurgericht freigesprochen; doch unterblieb die Vollendung des Werkes. S. ergriff nun die gewerbliche Thätigkeit und kehrte erst beim Regierungsantritt des Prinz-Regenten zur Schriftstellerei zurück, daneben sich vorzugsweise dauernd dem Kommunaldienst seiner Vaterstadt widmend. 1862 wurde er zum Stadtverordneten, 1872 zum Stadtrat ernannt. Von seinen Schriften sind, abgesehen von zahlreichen Romanen und Erzählungen ("Die von Hohenwald", 1877; "Schloß Wolfsburg", 1879, etc.), zu erwähnen: "Vom Fischerdorf zur Weltstadt. 500 Jahre Berliner Geschichte" (4. Aufl., Berl. 1885, 4 Bde.); "Berlin im 19. Jahrhundert" (das. 1867-69, 4 Bde.) und "Die Weltgeschichte, dem Volk erzählt" (das. 1865 bis 1867).
Streckmaschiue (Streckwerk, Strecke), in der Spinnerei eine Vorrichtung zum Parallellegen der Fasern und zum Ausstrecken der Lagen zu Bändern mit Hilfe von Streckwalzen (s. Spinnen, S. 149); in der Appretur eine Vorrichtung zum Strecken der Gewebe in die Breite, um die Einschlagfäden in gerade Richtung zu bringen.
Streckmuskeln (Extensoren), die Antagonisten der Flexoren (Beugemuskeln), die durch ihre Zusammenziehung bewirken, daß das vorher gebeugte Glied gestreckt wird.
Streckverse (Polymeter), bei Jean Paul Fr. Richter Bezeichnung für kurze Sätze oder Aphorismen, welche in einer Art rhythmischer Prosa und meist in überschwenglicher Form poetischen Empfindungen Ausdruck geben. Auch W. Menzel veröffentlichte einen Band "Streckverse" (Heidelb. 1823).
Streckwalzen, Streckwerk, s. Streckmaschine.
Street (engl., spr. striht), Straße.
Strehla, Stadt in der sächs. Kreishauptmannschaft Leipzig, Amtshauptmannschaft Oschatz, an der Elbe, hat eine evang. Kirche, ein altes Schloß, Fabrikation von Leim und künstlichem Dünger, Schiffahrt, Kohlenhandel und (1885) 2173 Einw.
Strehlen, 1) Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, an der Ohlau, Knotenpunkt der Li-nien Breslau -Mittelwalde, S.-Nimptsch und S.-Grottkau der Preußischen Staatsbahn, hat 2 evangelische, eine altlutherische, eine reformierte und eine kath. Kirche, ein Gymnasium, ein Amtsgericht, eine Zuckerfabrik, einen großen Steinbruch, Ziegelbrennerei, lebhafte Getreide-, Woll- und Viehmärkte und (1885) mit der Garnison (2 Eskadrons Husaren Nr. 4) 8854 meist evang. Einwohner. Dabei das jetzt in S. einverleibte Dorf Woiselwitz, bekannt durch den beabsichtigten Verrat des Barons Warkotsch an Friedrich d. Gr. Vgl. Görlich, Geschichte der Stadt S. (Bresl. 1853). -
2) Dorf in der sächs. Kreishauptmannschaft Dresden, Amtshauptmannschaft Dresden-Altstadt, 3 km südöstlich von Dresden, mit dem es durch Pferdebahn verbunden ist, hat eine königliche Villa, eine Dampfmahlmühle, Ziegelbrennerei und (1885) 2106 Einw.
Strehlenau, s. Niembsch von Strehlenau.
Strehlitz, Stadt, s. Großstrehlitz.
Streichbrett, s. Pflug, S. 973.
Streichen, seemännisch das Gegenteil von heißen (s. d.), also herunterziehen, z. B. die Segel oder die Flagge. Wenn zu den Zeiten der Segelschiffahrt ein Schiff, das verfolgt wurde, seine Segel strich, so gab es sich damit verloren; daher figürlich die Segel s., s. v. w. sich ergeben.
Streichen der Schichten, die Richtung, in welcher sich eine Gesteinsschicht oder ein Gang horizontal weiter erstreckt (streicht). Sie wird durch den Winkel
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Streichendes Feld - Streiter.
bestimmt, welchen eine in der Schichtungsfläche oder in der Grenzfläche des Ganges gedachte Horizontallinie (Streichlinie) mit der Magnetnadel bildet. Die Streichlinie steht senkrecht zur Falllinie (s. Fallen der Schichten), und durch gleichzeitige Angabe des Streichens und Fallens ist die Schicht oder der Gang im Raum vollständig orientiert. Der Winkel gegen die Nordsüdlinie wird entweder (neuerdings häufiger) in Graden angegeben oder (früher ausschließlich) in Stunden (horae), indem man sich den Limbus des Kompasses in zweimal 12 oder auch in 24 Stunden (à 15°) und diese in Achtelstunden (à 1° 52' 30'', den Einheiten mißbräuchlich als Dezimalstellen angefügt) geteilt denkt. Eine Schicht, welche hora 6 (oder hora 18 zu 6) streicht, wird sich hiernach in westöstlicher Richtung horizontal weiter erstrecken und gegen S. oder N. einfallen. Horizontale (söhlige) Schichten streichen nach allen Richtungen gleichzeitig.
Streichendes Feld, s. Gestrecktes Feld.
Streichinstrumente. Die heute allein in der europäischen Kunstmusik gebräuchlichen S.: Violine, Bratsche, Violoncello und Kontrabaß sind das Schlußergebnis einer vielleicht tausendjährigen langsamen Entwickelung; sie sind sämtlich nach demselben Prinzip gebaut, wie schon ein flüchtiger Blick auf ihre äußern Umrisse lehrt. Diese der Bildung eines edlen, vollen Tons günstigste Bauart wurde etwa zu Ende des 15. Jahrh. zunächst für die Violine gefunden und allmählich auf die größern Arten der S. übertragen, so daß Cello, Bratsche und Kontrabaß erheblich später die ältern S., welche Violen hießen (Viola da braccio, Viola da gamba und Violone), verdrängten (vgl. Viola und Violine). Wie alt die S. sind, ist nicht recht festzustellen; noch ist kein Denkmal aus vorchristlicher Zeit aufgefunden, welches die Abbildung eines Streichinstruments aufweist. Nach gewöhnlicher Annahme ist der Orient die Wiege der S.; doch ist dieselbe schlecht genug begründet, nämlich damit, daß die arabischen Musikschriftsteller des 14. Jahrh. die S. Rebab oder Erbeb und Kemantsche kennen. Obgleich nichts auf eine wesentlich frühere Existenz dieser Instrumente bei ihnen hinweist, hat man doch daraus geschlossen, daß das Abendland sie von den Arabern nach der Eroberung Spaniens erhalten habe, während auf der andern Seite eine große Zahl Beweise vorhanden sind, daß seit dem 9. Jahrh., wo nicht länger, das Abendland Instrumente dieser Art kannte. Es genüge hier, darauf hinzudeuten, daß die älteste Abbildung eines Streichinstruments (in Gerberts "De musica sacra" wiedergegeben), eine einsaitige "Lyra" , die dem 8. oder 9. Jahrh. angehört, eine der spätern Gigue sehr ähnliche Gestalt aufweist, daß wir aus dem 10. Jahrh. eine Abbildung der keltischen Chrotta (s. d.) haben, und daß bereits im 11.-12. Jahrh. mancherlei verschiedene Formen der S. nebeneinander bestanden. Es hielten sich jahrhundertelang nebeneinander zwei prinzipiell verschiedene Formen der S., von denen die (vermutlich minder alte) mit plattem Schallkasten aus der Chrotta hervorging, die andre mit mandolinförmig gewölbtem Bauch aber (die altdeutsche Fidula) wahrscheinlich germanischen Ursprungs ist. Auch das frühere Vorkommen der Drehleier deutet auf einen abendländischen Ursprung der S. Die ältesten S. hatten keine Bünde; diese tauchen erst zu einer Zeit auf, wo die nachweislich von den Arabern importierte Laute anfing, sich im Abendland auszubreiten, d. h. im 14. Jahrh., und um dieselbe Zeit tauchen auch allerlei andre Wandlungen im Äußern der S. auf (große Saitenzahl, die Rose), welche den Einfluß der Laute verraten. Im 15.-16. Jahrh. finden wir zahlreiche verschiedene Arten großer und kleiner Geigen nebeneinander, die dann sämtlich von den Violineninstrumenten verdrängt wurden. Zur Erklärung der so verschiedenartigen äußern Umrisse der S. älterer Zeit sei noch darauf hingewiesen, daß für diejenigen, welche eine größere Saitenzahl (über 3) und demzufolge einen höher gewölbten Steg hatten, die Seitenausschnitte nötig wurden, und man ging in der Vergrößerung der letztern so weit, daß schließlich Instrumente zu Tage kamen, deren Schallkörper beinahe die Gestalt eines x hatte. Für die Instrumente mit höchstens 3 Saiten bedurfte es der Saitenausschnitte nicht, u. sie behielten daher auch ihren birnenförmigen Schallkasten noch lange Zeit (s. Gigue).
Streichmaß (Streichmodel), s. Parallelreißer.
Streichorchester, s. Orchester.
Streichquartett, das Ensemble von 2 Violinen, Bratsche und Violoncello sowie eine Komposition für diese Instrumente (s. Quartett).
Streichquintett, das Ensemble von 2 Violinen, 2 Bratschen und Cello oder 2 Violinen, Bratsche und 2 Celli, auch wohl von 2 Violinen, Bratsche, Cello und Kontrabaß, selten von 3 Violinen, Bratsche und Cello oder andre Zusammenstellungen. In ähnlicher Weise sind auch Streichsextette, Septette etc. in verschiedenartiger Zusammenstellung möglich.
Streichschalen, s. Schleifsteine.
Streichwolle, s. Wolle.
Streifen, in der Jägersprache s. v. w. Abstreifen.
Streifenbarbe, s. Seebarbe.
Streifenfarn, s. Asplenium.
Streifenruderschlange, s. Wasserschlangen.
Streifkorps, s. v. w. Fliegendes Korps (s. d. und Freikorps).
Streifzug, s. Raid.
Streik (engl. strike, "Schlag, Streich", franz. Grève, daher in Belgien Grevist, der Anteilnehmer am S.), s. Arbeitseinstellung.
Streitaxt, Hieb- und Wurfwaffe, bei den Römern als securis gebräuchlich, im Mittelalter aus einem beilförmigen Eisen auf der einen und einer Art Hammer auf der andern Seite bestehend, zwischen denen oft noch eine gerade, zum Zustoßen geeignete Spitze in der Stielrichtung hervorragte. Die S. war auf einem kurzen Stiel befestigt und bis zum 16. Jahrh., bei den Kaukasusvölkern bis in die neueste Zeit, gebräuchlich (s. Fig. 1 u. 2). Über prähistorische Streitäxte s. Metallzeit und Steinzeit.
Streitbefestigung, s. Litiskontestation.
Streitberg, Dorf im bayr. Regierungsbezirk Oberfranken, Bezirksamt Ebermannstadt, 483 m ü. M. an der forellenreichen Wiesent, in der sogen. Fränkischen Schweiz, hat eine protest. Kirche, Burgruinen, ein Mineralbad nebst Molkenkuranstalt und (1885) 283 Einw. In der Nähe ein gelber Marmorbruch.
Streiter, Joseph, Schriftsteller, geb. 8. Juli 1804 zu Bozen, studierte in Innsbruck die Rechte, ward Rechtsanwalt in Cavalese, dann in Bozen, 1861
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Streitgedichte - Strelitz.
Bürgermeister daselbst, 1866 Abgeordneter der Bozener Handelskammer im Landtag, legte 1871 sein Amt nieder und starb 17. Juli 1873 auf Payersberg bei Bozen. Er schrieb: "Jesuiten in Tirol" (Heidelb. 1845); "Die Revolution in Tirol" (Innsbr. 1851); "Studien eines Tirolers" (Berl. 1862); "Blätter aus Tirol" (Wien 1868); auch mehrere Dichtungen, wie: "Heinrich IV.", Tragödie (1844), "Der Assessor", Lustspiel (1858), u. a. Nicht bloß als Abgeordneter und Bürgermeister, sondern auch als Schriftsteller bekämpfte er mutig den mächtigen Klerus.
Streitgedichte, eine Art altdeutscher Dichtungen, worin die Vorzüge verschiedener Gegenstände voreinander oder die Erwägung, was an einem Gegenstand das Bessere sei, als Streit unter Personifikationen dargestellt wurde. Die frühste Veranlagung dazu haben wohl die uralten, schon in der frühern lateinischen Poesie des Mittelalters vorkommenden allegorischen Sommer- und Winterstreite gegeben; seit dem Ende des 13. Jahrh. werden dergleichen Dichtungen sehr häufig und finden sich unter dem Namen "Kampfgespräche" noch bei Hans Sachs. Auch der "Wartburgkrieg" (s. d.) ist hierher zu rechnen.
Streitgenossen (Litiskonsorten), im bürgerlichen Rechtsstreit die in einer Parteirolle vereinigten Personen, sei es als Kläger (Mitkläger), sei es als Beklagte (Mitbeklagte). Ob eine solche Streitgenossenschaft (Litiskonsortium) eintreten soll oder nicht, das hängt in der Regel von der freien Entschließung der Klagpartei ab. Ich kann z. B. die Erben meines verstorbenen Schuldners wegen meiner Forderung einzeln verklagen, oder ich kann diese Forderung in einer und derselben Klage gegen die sämtlichen Erben verfolgen. Besteht in Ansehung des Streitgegenstandes eine Rechtsgemeinschaft, oder sind mehrere Personen aus demselben tatsächlichen und rechtlichen Grund berechtigt oder verpflichtet, so können dieselben eben gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden; ja, dies kann nach der deutschen Zivil-Prozeßordnung auch schon dann geschehen, wenn gleichartige und auf einem im wesentlichen gleichartigen tatsächlichen und rechtlichen Grund beruhende Ansprüche oder Verpflichtungen den Gegenstand des Rechtsstreits bilden. Die Zivilprozeßordnung kennt aber auch eine notwendige Streitgenossenschaft, welche dann eintritt, wenn das streitige Rechtsverhältnis allen S. gegenüber nur einheitlich festgestellt, oder wenn nach bestehender Rechtsvorschrift ein Rechtsanspruch nur von mehreren zusammen oder gegen mehrere zusammen wirksam geltend gemacht werden kann. Dies ist z. B. nach preußischem Recht bei Grundstücken der Fall, welche im Miteigentum von mehreren Personen stehen. Das Recht zur Betreibung des Prozesses steht aber auch im Fall einer notwendigen Streitgenossenschaft jedem Streitgenossen zu; er muß aber, wenn er den Gegner zu einem Termin ladet, auch die übrigen S. laden. Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung, § 56 ff., 95, 434; v. Amelunxen, Die sogen. notwendige Streitgenossenschaft der deutschen Zivilprozeßordnung (Mannh. 1881).
Streithammer, Hammer mit Schaft, als Waffe schon im Altertum gebräuchlich, im Mittelalter aus einem stählernen Hammer mit gegenüberstehender scharfer, rückwärts gebogener Spitze und kurzer Stoßklinge am vordern Ende bestehend (s. Figur). Er wurde vom Fußvolk auf langem Schaft, von Reitern an kurzem Stiel, am Sattel hängend, geführt.
Streitkolben, aus der Keule hervorgegangene Schlagwaffe, meist eiserner Stiel mit Handgriff und schwerem Knopf am andern Ende. Letzterer erhielt geeignete Formen zum Durchbohren der Panzer. Der S. wurde meist von Reitern bis ins 16. Jahrh. geführt; vgl. Morgenstern.
Streitkolbenbaum, s. Casuarina.
Streitverkündigung (Litisdenunziation), im bürgerlichen Rechtsstreit die von seiten einer Partei an einen Dritten ergehende Aufforderung, ihm in dem Prozeß zur Seite zu treten und zum Sieg zu verhelfen. Die betreffende Partei wird Streitverkünder (Litisdenunziant) genannt, die dritte Person ist der Litisdenunziat. Eine S. erfolgt dann, wenn eine Partei für den Fall des Unterliegens im Prozeß einen Rückanspruch gegen den Litisdenunziaten zu haben glaubt. Ich habe z. B. eine Ware gekauft, und diese Ware macht mir jemand im Weg der Klage streitig. Ich kann alsdann meinem Verkäufer den Streit verkünden, weil ich im Fall meiner Verurteilung zur Herausgabe der Sache einen Ersatzanspruch an den Verkäufer habe. Außerdem kann eine S. aber auch in dem Fall erfolgen, daß die Hauptpartei den Anspruch eines Dritten (des Litisdenunziaten) besorgt. Der Kommissionär kann z. B. für Rechnung des Kommittenten einen Prozeß führen. Verliert er denselben, so kann unter Umständen der Kommittent mit einem Schadenersatzanspruch hervortreten. Der Kommissionär wird daher gutthun, dem Kommittenten von dem Rechtsstreit Mitteilung zu machen, um ihn zur Teilnahme an demselben zu veranlassen. Die S. erfolgt nach der deutschen Zivilprozeßordnung durch die Zustellung eines Schriftsatzes, in welchem der Grund der S. und die Lage des Rechtsstreits anzugeben sind. Abschrift des Schriftsatzes ist dem Gegner mitzuteilen. Tritt der Dritte dem Streitverkünder bei, so wird er dessen Nebenintervenient (s. Intervention, S. 1005); lehnt er den Beitritt ab, oder erklärt er sich nicht, so wird der Rechtsstreit ohne Rücksicht auf ihn fortgesetzt. Vgl. Deutsche Zivilprozeßordnung, § 69 ff.; Kipp, Die Litisdenunziation im römischen Zivilprozeß (Leipz. 1887).
Streitwagen dienten entweder dazu, die Streiter im Gefecht schneller fortzuschaffen, worauf diese beim Zusammenstoß mit dem Feind vom Wagen herab kämpften oder auch zu diesem Zweck abstiegen, oder sie sollten durch ihren Einbruch den Feind selbst schädigen, wie die Sichelwagen (s. d.). Die S., von einem Wagenführer gelenkt, von einem, auch mehreren Kämpfenden besetzt, finden sich namentlich beiden Griechen (s. Figur) in ihrer Heldenzeit und ersetzten die Reiterei. Im Mittelalter waren die S. stark bemannt und dienten den Armbrustschützen auch wohl gleichzeitig als Verschanzung, wie bei den Hussiten und Vlämen im 14. Jahrh., die ihre Walkerkarren (ribeaudequins) sogar mit Geschützen besetzten.
Strelitz, Herzogtum (auch Herrschaft Stargard genannt), einer der beiden Bestandteile des Groß-Herzogtums Mecklenburg-Strelitz, östlich von Meck-
[Luzerner Streithamm er (14. Jahrh.).]
[Griechischer Streitwagen.]
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Strelitzen - Stricken.
lenburg-Schwerin gelegen und außerdem von Brandenburg und Pommern umschlossen, 2548 qkm (46,28 QM.) groß mit 82,288 Einw. Darin die Stadt S. (Altstrelitz), südlich bei Neustrelitz (s. d.) und an der Linie Berlin-Stralsund der Preußischen Staatsbahn, hat eine evang. Kirche, ein altes Schloß (jetzt Straf- und Irrenanstalt), ein Amtsgericht, Leder- und Tabaksfabrikation, starken Pferdehandel und (1885) 3096 Einw.
Strelitzen (russ. Strjelzi, "Schützen"), russische Leibwache, ward vom Zaren Iwan Wasiljewitsch dem Schrecklichen in der Mitte des 16. Jahrh. errichtet und machte, zuweilen 40-50,000 Mann stark, die ganze Infanterie Rußlands aus. Mit ihnen erkämpften jener Zar und dessen Nachfolger die großen Siege, die Rußlands Macht gründeten. Sie waren aber eine wilde, zuchtlose Soldateska, achteten weder Gesetze noch Disziplin und empörten sich bei dem geringsten Anlaß. 1682 rebellierten sie und übten bei dem Thronwechsel nach dem Tode des Zaren Feodor eine Zeitlang einen politischen Einfluß. Peter d. Gr. suchte daher die Macht der S. nach und nach zu schwächen, indem er ihnen ein Vorrecht nach dem andern entzog, bis er es ohne Gefahr unternehmen durfte, sie ganz aufzulösen. Zur Beobachtung Polens an die litauische Grenze postiert, empörten sie sich im Sommer 1698, wurden aber in einer offenen Feldschlacht von dem General Gordon geschlagen. Nahezu 2000 der Rebellen wurden gefangen genommen und mit beispielloser Grausamkeit gefoltert und hingerichtet. Die Regimenter der S. wurden aufgelöst. Die Reste derselben nahmen noch wiederholt an den folgenden Rebellionen während der Regierung Peters d. Gr. teil.
Strelna, kaiserliches Lustschloß im russ. Gouvernement St. Petersburg, mit schönem Park, nach dem Muster des Versailler Schlosses 1711 von Peter I. angelegt, liegt an der Baltischen Bahn, 9,5 km von Peterhof am hohen Ufer des Finnischen Meerbusens, hat in den zwei dazu gehörigen Dörfern Farmen, Schulen, eine Papierfabrik und 1350 Einw.
Strelno (Strzelno), Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Bromberg, an der Linie Mogilno-S. der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine kath. Kirche, eine Synagoge, ein Amtsgericht und (1885) 4332 meist kath. Einwohner.
Stremayr, Karl, Edler von, österreich. Minister, geb. 30. Okt. 1823 zu Graz, studierte daselbst die Rechte, trat bei der k. k. Kammerprokuratur in den praktischen Staatsdienst, war 1848-49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, ward dann Supplent des römischen Rechts an der Universität und Staatsanwaltssubstitut in Graz, 1868 von Giskra als Ministerialrat in das Ministerium des Innern berufen und war dreimal, vom 1. Febr. bis 12. April 1870, vom Mai 1870 bis 7. Febr. 1871 und seit 25. Nov. 1871 bis 15. Febr. 1879, Unterrichtsminister. Er führte die Aufhebung des Konkordats durch und brachte die neuen Unterrichts- und Kirchengesetze im Reichsrat zustande, verstand es aber dennoch, mit dem katholischen Klerus ein gutes Verhältnis aufrecht zu erhalten. Nach dem Rücktritt des Ministeriums Auersperg übernahm S. 15. Febr. 1879 zunächst den Vorsitz des Ministerrats und ging im August 1879 als Justizminister mit einstweiliger Verwaltung des Unterrichtsministeriums in das Taaffesche Kabinett über, nahm aber 1880 seine Entlassung und schied aus dem politischen Leben. Er ward zum zweiten Präsidenten des obersten Gerichtshofs und 1. Jan. 1889 zum Mitglied des Herrenhauses ernannt.
Stremma, neugriech. Flächenmaß, = 1000 qm.
Strenae (lat.), bei den alten Römern Geschenke, die man sich zu Anfang des neuen Jahrs mit Glückwünschen zu übersenden pflegte, bestanden in Lorbeer- und Palmenzweigen, Süßigkeiten und Früchten, die wie bei uns mit Goldschaum überzogen wurden. Eine letzte Spur derselben hat sich in den französischen Étrennes (s. d.) erhalten. Der Name S. hängt mit der alten sabinischen Segensgöttin Strenia zusammen, welcher die römische Salus entsprach.
Strenger Arrest, s. Arrest.
Strenglot, s. Lot, S. 920.
Strengnäs, alte Stadt im schwed. Län Södermanland, am Mälar, ist seit dem Brand von 1871 neu aufgebaut, hat eine in ihrem Kern aus dem 13. Jahrh. stammende Domkirche mit den Grabmälern Karls IX. u. a., eine gute bischöfliche Bibliothek und (1885) 1614 Einw. S. steht mit Stockholm in regelmäßiger Dampferverbindung. Seit dem Anfang des 12. Jahrh. ist es Bischofsitz.
Strenuität(lat.), Hurtigkeit, Betriebsamkeit.
Strepitoso (ital.), lärmend, rauschend.
Strepsiceros, s. Antilopen, S. 639.
Strepsiptera, s. Fächerflügler.
Stretford, Stadt in Lancashire (England), 3 km südwestlich von Manchester, hat Baumwollfabriken, Schweineschlächtereien und (1881) 19,018 Einw.
Stretto (ital., "gedrängt"), in der Musik Bezeichnung für die Engführungen in der Fuge; auch eine längere, lebhafter vorzutragende Schlußpassage, wie sie häufig am Ende von Konzertsätzen auftritt, desgleichen ein schnell bewegter Satz am Ende des Opernfinales etc. heißt S. (Stretta).
Streu (Stallmist), s. Dünger, S. 219 f.
Streu, rechtsseitiger Nebenfluß der Fränkischen Saale im bayr. Regierungsbezirk Unterfranken, entspringt auf der Hohen Rhön und mündet bei Heustreu.
Streublau, s. Schmalte.
Streukügelchen, kleine Kügelchen von Zucker, deren sich die Homöopathie zur Verabreichung der kleinsten Dosen ihrer Arzneien bedient.
Streupulver, s. Lycopodium.
Streuzucker, s. Dragée.
Strich, deutsche Bezeichnung für Millimeter.
Strichfarn, s. Asplenium.
Strichprobe, s. Goldlegierungen.
Strick, in der Jägersprache 2-3 zusammengekoppelte Wind- oder Hatzhunde.
Stricken, die Herstellung von Maschen mit Hilfe eines Fadens und zweier Nadeln. Als Material gebraucht man Seide, Wolle oder Baumwolle. Die Nadeln werden aus Stahl, Holz oder Knochen angefertigt, sind 20-50 cm lang, von oben bis unten gleich stark und an den Enden etwas zugespitzt. Wenn man nur mit zwei Nadeln strickt, so sind diese an einem Ende mit einem Knopfe versehen, damit die Maschen nicht abgleiten können. Auf die eine Nadel werden durch Knüpfen Maschen aufgelegt; diese Nadel nimmt man in die linke Hand und legt den an der letzten Masche hängenden Faden über den Zeigefinger um die andern Finger; mit der von der rechnen Hand gehaltenen zweiten Nadel sticht man in die erste Masche, faßt mit der Nadel den straff angezogenen Faden, zieht ihn durch die Masche hindurch und läßt diese von der Nadel heruntergleiten. Dadurch, daß der Faden ohne Unterbrechung fortläuft, sind alle Maschen miteinander verbunden. Man unterscheidet Rechts- oder Glatt- und Linksstricken. Beim Rechtsstricken sticht man von vorn in die Masche und zieht den Faden von hinten nach vorn durch, beim Linksstricken ist es umgekehrt. Ist die Strickarbeit lappen-
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Stricker - Strickmaschine.
oder streifenartig, so bedient man sich zweier Nadeln und wendet jedesmal am Ende der Nadel das Strickzeug um. Will man ein Rund stricken, so braucht man fünf Nadeln. Auf vier verteilt man die Maschen, mit der fünften strickt man. Der Faden wird ohne Unterbrechung von der letzten Masche einer Nadel durch die erste der nächsten gezogen. Durch die Abwechselung von Rechts- und Linksstricken, Ab- und Zunehmen, Verschränken u. andre Arten von Maschenbilden kann man verschiedene Muster in die Strickerei bringen. Strickarbeiten werden zu fast allen Kleidungsstücken verwendet (Strümpfe, Röcke, Jacken, Hauben etc.). In neuerer Zeit werden Strickereien vielfach durch Maschinen hergestellt (s. Strickmaschine). Das S. soll bereits im 13. Jahrh. in Italien bekannt gewesen, nach andern aber erst im 16. Jahrh. in Spanien erfunden worden sein. Von hier gelangte es nach England u. Schottland, u. 1564 wird William Rider als erster Strumpfstricker in England genannt. Um dieselbe Zeit gab es in Deutschland Hosenstricker, und noch lange wurde das S. von Männern ausgeübt. Vgl. Heine, Schule des Strickens (Leipz. 1879); Hillardt, Das S. (3. Aufl., Wien 1887).
Stricker (der Strickäre), mittelhochd. Dichter, von dessen Lebensverhältnissen nur bekannt ist, daß er in Österreich um 1240 lebte. Er verfaßte einen "Daniel von Blumenthal" (noch ungedruckt), eine Bearbeitung des "Rolandslieds" (hrsg. von Bartsch, Quedlinb. 1857), kleine Erzählungen, Gleichnisse, Fabeln, die man damals unter dem Namen Beispiele zusammenfaßte (mehrere hrsg. von Hahn, das. 1839), und besonders die Schwanksammlung "Der Pfaffe Amis", die älteste derartiger Dichtungen, deren Inhalt die Schwänke und Gaunerstreiche eines geistlichen Herrn, des Amis, bilden (hrsg. von Benecke in den "Beiträgen zur Kenntnis der altdeutschen Sprache etc.", Götting. 1810-32, 2 Bde.; neuerdings von Lambelin "Erzählungen und Schwänke", 2. Aufl., Leipz. 1883; deutsch von Pannier, das. 1878). Vgl. Jensen, Über den S. als Bispeldichter (Marb. 1886).
Strickland, 1) Agnes, engl. Geschichtschreiberin, geboren um 1808 zu Rorydonhall in Suffolkshire, schrieb teilweise unter Mitwirkung ihrer Schwester Jane S. unter anderm: "Historic scenes" (neue Aufl., Lond. 1852); "Lives of the queens of England from the Norman conquest" (das. 1840-49, 12 Bde.; neue Ausg., das. 1864, 6 Bde.; in verkürzter Fassung, das. 1867); "Letters of Mary, queen of Scots" (das. 1843, 3 Bde.); "Lives of the queens of Scotland and English princesses connected with the royal succession of Great Britain" (das. 1850-59, 8 Bde.); "Lives of the bachelor kings of England" (das. 1861); "Life of the seven bishops committed to the Tower in 1688" (das. 1866). Ihre Arbeiten zeichnen sich durch fleißiges Quellenstudium, übersichtliche Anordnung des Materials und anziehende Darstellung aus. S. erhielt 1871 auf Gladstones Antrag eine Pension aus der Staatskasse, starb aber schon 8. Juli 1874. Ihr Leben beschrieb ihre Schwester Jane S. (Lond. 1887).
2) Hugh Edwin, Geolog, geb. 2. März 1811 zu Righton in Yorkshire, studierte zu Oxford, begleitete 1835 den Obersten Hamilton auf dessen Reise in den Orient und veröffentlichte als Frucht dieser Reise: "Bibliographia zoologiae et geologiae" (Lond. 1847-54) und "The Dodo and its kindred" (das. 1848). Später unterstützte er als Professor der Geologie in Oxford Murchison in den Vorarbeiten zu dem "Siluriansystem". Er starb 14. Sept. 1853. Vgl.Jardine, Memoirs and letters of H. E. S. (Lond. 1858).
Strickmaschine. Das Stricken bezweckt die Bildung eines Maschengebildes in der Weise, daß stets der Faden als Schleife durch eine bereits vorhandene Masche hindurchgezogen wird, während beim Wirken umgekehrt der Faden erst zur Schleife gebogen und die vorhandene Masche über diese Schleife ge-schoben wird. Demnach ist das Werkzeug (Nadel) der S. auch so konstruiert, daß es durch eine Masche hindurchgeht, einen Faden greift und beim Durchziehen durch die Masche in eine solche umbildet. Den Vorgang und die Nadeleinrichtung zeigen Fig. 2-6. Die Nadel g besitzt einen Haken a und unter diesem eine Klappe b, welche sich mit a zu einer Öse schließen, übrigens auch ganz zurückfallen kann. In jeder Masche befindet sich eine solche Nadel, welche in einem Nadelblatt (Fig. 1) nur eine Vertikalbewegung durch Führung in einer Nute erhält, durch den Stab c am Herausfallen verhindert und durch den verstellbaren Anschlag d in der Bewegung begrenzt wird. Eine Reihe von Nadeln sind nun (Fig. 1) parallel nebeneinander so angeordnet, daß sie mit den Köpfen g vortreten, und über das Nadelbrett läßt sich an einem Schlitten ein sogen. Schloß hin und her bewegen, dessen Hauptteile aus dem dreieckigen Nadelheber e und den beiden Nadelsenkern ff bestehen. Diese drei Stücke bilden eine hinauf und wieder hinab gehende Rinne, welche beim Hin- und Hergehen des Schlosses die aus den Nuten hervorsehenden Nadelköpfchen g aufnimmt und, an ihnen anfassend, die Nadeln hinauf und wieder hinab schiebt. Ein sich mit dem Schloß zusammen bewegender Fadenführer legt in den Haken der Nadel, wenn diese in der höchsten Stelle steht, den zu verstrickenden Faden ein. Die schon auf der Nadel befindliche Masche hebt beim Sinken der Nadel die Klappe b und schließt mit ihr den Haken zu einer Öse, über die sie dann bei der tiefsten Nadelstellung selbst von der Nadel abrutscht (Fig. 3 u. 4). Der im Haken befindliche Faden bildet beim Wiederaufsteigen der Nadel (Fig. 5) die neue Masche, durch welche die . Klappe b zurückgeschlagen wird. In der höchsten Stel-
Fig. 1-6. Strickmaschine (Nadelbewegung).
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Stricknadeln - Strikt.
lung hat die Klappe die Masche vollständig passiert, und nachdem neuer Faden gefaßt ist, wiederholt sich der Vorgang, sobald die betreffende Nadel von dem an dem Nadelbett entlang gehenden Schloß erfaßt wird. Bei der von Bickford in New York gebauten Maschine stehen die Nadeln im Kreis herum in einem cylindrischen Nadelbett, und das Schloß wird im Kreis um sie her bewegt (Rundstuhl). Es können auf solcher Maschine schlauchförmige Sachen gestrickt werden, deren Maschenzahl im Durchmesser gleich der Nadelzahl der Maschine ist. Mehr Maschen nebeneinander, als Nadeln vorhanden sind, können auf keiner Maschine gestrickt werden; weniger Maschen geben aber auf der Bickford-Maschine stets nur ein plattes, nie ein rund geschlossenes Stück. Lamb in Chicopee Falls (Massachusetts) stellte zuerst zwei Nadelreihen, welche schräg stehen, in zwei ebenen Betten versetzt, einander gegenüber. Strickt hier ein Schloß auf dem einen Bett hingehend, so strickt ein andres auf dem zweiten Nadelbett beim Zurückgehen, und da nur ein Fadenführer mit Fadenspanner beiden Schlössern folgt, so geht der Faden von einer Nadelreihe auf die andre über und strickt so geschlossen rund, auch dann, wenn an einem oder beiden Enden beider Betten eine Anzahl nebeneinander liegender Nadeln außer Thätigkeit gestellt ist. Fig. 6 zeigt eine Nadel in Ruhestellung; das Köpfchen g kann von dem darüber hinweggehenden Nadelheber nicht mehr gefaßt werden. Jede beliebige Maschenzahl ist so bei geschlossenem Rundstricken möglich. Legt man die Masche der letzten arbeitenden Nadel beider Reihen mit auf die neben ihr arbeitende Nadel und stellt sie selbst in Ruhe, so nimmt die Maschine ab. Bei geeigneter Wiederholung kann man so einen Strumpf bis zur letzten Masche zustricken. Ähnlich läßt sich ein Zunehmen bewerkstelligen. Durch gewisse Vorkehrungen werden auch die Hacken in Strümpfe gestrickt, ohne daß eine vervollständigende Naht nachher nötig ist. Besondere Mechanismen ermöglichen, die Nadelsenker ff nach Bedarf derart verschieden zu stellen, daß sie die Nadeln weniger oder mehr in die Nuten hinabziehen, wobei festere oder losere Maschen entstehen; auch kann man jeden Nadelsenker sowie die Nadelheber ganz außer Thätigkeit stellen. Bei letztern thut dies die Maschine, wenn sie dazu eingestellt ist, selbstthätig je nach der Bewegungsrichtung des Schlosses. Läßt man in geeigneter Weise beide Nadelreihen in einer Bewegungsrichtung zusammenwirken, so kann man rechts und links platt gestrickte Waren erhalten. Mittels Ausladens gewisser Nadeln, Verstellens der Nadelbetten gegeneinander und variierten Ein- und Abstellens der Nadelheber können die mannigfaltigsten Muster erzielt werden, die durch Aufeinanderfolgenlassen verschieden gefärbter Garne noch zu vermehren sind. Die Lambsche Maschine hat eine hohe Vollkommenheit erreicht, so daß geübte Arbeiter damit an einem Arbeitstag 8 Paar lange Frauenstrümpfe und bis 20 Paar Männersocken vollenden können (s. Wirkerei).
Stricknadeln, s. Nadeln, S. 974.
Stricto jure (lat.), nach strengem Recht. Stricto sensu, im strengen Sinn.
Stride (engl., spr. streid', "weiter Schritt"), Ausgriff eines Pferdes, besonders bei Rennpferden die Weite des Galoppsprungs, die Räumigkeit der Bewegung; ein Pferd mit gutem S. deckt mit jedem Sprung viel Terrain.
Stridor (lat.), das zischende, pfeifende Atmungsgeräusch, welches bei Kehlkopfverengerung entsteht.
Stridores (Schwirrvögel), s. Kolibris.
Stridulantia (Singzirpen), Familie aus der Ordnung der Halbflügler, s. Cikaden.
Striegau, Kreisstadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, am Striegauer Wasser (Nebenfluß der Weistritz), Knotenpunkt der Linien Kamenz-Raudten und S.-Bolkenhain der Preußischen Staatsbahn, hat eine evangelische und eine große gotische kath. Kirche, ein Progymnasium, eine Strafanstalt (im ehemaligen Karmeliterkloster), ein Amtsgericht, bedeutende Granit- und Basaltbrüche, Granitschleiferei, Buchbinderwaren-, Zigarren-, Bürsten-, Peitschen-, Stuhl-, Leder- und Zuckerfabriken und (1885) 11,784 meist evang. Einwohner. Nahebei die bis 355 m hohen Striegauer Berge mit hübschen Anlagen. S. erhielt 1242 deutsches Stadtrecht. Nach S. wird auch die Schlacht bei dem 7 km entfernten Hohenfriedeberg (s. d.) benannt.
Striefen, Dorf in der sächs. Kreis- und Amtshauptmannschaft Dresden, östlich von Dresden, hat bedeutende Kunst- und Handelsgärtnerei, Bierbrauerei und (1885) 8011 Einw.
Strigel, 1) Bernhard, Maler, der früher sogen. Meister der Sammlung Hirscher, geboren um 1460 zu Memmingen, bildete sich nach Zeitblom und Burgkmair, war zumeist in seiner Vaterstadt, zeitweilig auch in Wien thätig, wo er von Kaiser Maximilian geadelt wurde und das Vorrecht erhielt, den Kaiser allein porträtieren zu dürfen, und starb 1528 in Memmingen. Er hat sowohl Bildnisse, unter denen das Familienporträt des Kaisers Maximilian in der kaiserlichen Galerie zu Wien und das des kaiserlichen Rats Cuspinian im Berliner Museum hervorzuheben sind, als Kirchenbilder gemalt, welche sich in Berlin (Museum), München (Pinakothek und Nationalmuseum), Nürnberg (Moritzkapelle) und Donaueschingen befinden. Vgl. Bode im "Jahrbuch der königlich preußischen Kunstsammlungen", Bd. 2 (Berl. 1881).
2) Viktorin, namhafter luther. Theolog, geb. 1514 zu Kaufbeuren, bildete sich in Wittenberg unter Melanchthons Leitung und wurde 1548 als Professor der Theologie zu Jena angestellt. Hier in den synergistischen Streit verwickelt, ward er 1559 vier Monate lang in Haft gehalten, ging 1562 als Professor nach Leipzig und von da nach Wittenberg, endlich 1567 nach Heidelberg, wo er zum Calvinismus übergetreten sein soll und 26. Juni 1569 starb. Sein Hauptwerk sind die "Loci theologici" (Neust. a. d. H. 1581-84, 4 Bde.). Vgl. Otto, De Victorino Strigelio (Jena 1843).
Strigen (Striges), nach dem Volksglauben der Alten vogelähnliche Unholdinnen, welche in der Nacht unheimlich umherschwirren und den Kindern in der Wiege das Blut aussaugen etc.
Strigiceps, s. Weihen.
Strigidae (Eulen), Familie aus der Ordnung der Raubvögel, s. Eulen, S. 905.
Strij (spr. strei), Abraham van, holländ. Maler, geb. 1753 zu Dordrecht, malte Genrebilder aus dem häuslichen Leben in der Art von Metsu, aber auch Porträte, Landschaften und Viehstücke im Geschmack von A. Cuijp. Er stiftete 1774 die Gesellschaft Pictura in Dordrecht und starb 1826 daselbst. - Sein Bruder Jacob van S. (1756-1815) schloß sich in Landschaften und Tierstücken so eng an A. Cuijp an, daß seine Bilder oft mit denen seines Vorbildes verwechselt werden. Es sollen auch einige derselben zum Zweck der Täuschung mit dem Namen von Cuijp bezeichnet worden sein.
Strike (engl., spr. steik), s. Streik.
Strikt (lat.), genau, streng, pünktlich.
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Striktur - Stringocephalenkalk.
Striktur (lat.), die auf einzelne Stellen beschränkte und unnachgiebige organische Verengerung eines mit einer Schleimhaut ausgekleideten Kanals. Solche Strikturen kommen vor an der Speiseröhre, am Magen und Darm, in den Thränenkanälen, in der Luftröhre, in der Harnröhre u. a. O. Sie entstehen entweder dadurch, daß die Schleimhaut des betreffenden Kanals an einer mehr oder weniger umschriebenen Stelle nach vorangegangener Verschwärung in ein festes Narbengewebe umgewandelt wird, welches sich zusammenzieht, schrumpft und nun wie ein fester um den Kanal herumgelegter Ring diesen bleibend zusammenschnürt; oder sie beruhen auf der Einlagerung von Krebsmasse in das Schleimhautgewebe, wodurch sich dieses beträchtlich verdickt, unnachgiebig wird und den Kanal auf verschieden große Strecken verengert. Die Strikturen der Speiseröhre beruhen meist auf Krebseinlagerung, seltener auf Narbenbildung infolge von Verbrennungen oder Einführung von ätzenden und scharfen Substanzen (Vergiftung mit Schwefelsäure, Ätzkali). Die Strikturen des Magens sind bedingt entweder durch Magenkrebs oder durch die sich stark zusammenziehenden Narben, welche nach einem Magengeschwür zurückbleiben. Ähnliches gilt von den Strikturen des Darms, welche außerdem auch noch infolge der Verschwärung der Schleimhaut beim Ruhrprozeß entstehen können. Die Strikturen der Harnröhre, welche überwiegend beim männlichen Geschlecht vorkommen, sind fast immer die Folge einer Tripperentzündung. Die Folgen der Strikturen bestehen darin, daß der betreffende Kanal mehr oder weniger unwegsam wird, daß die Massen, welche durch den Kanal hindurchgehen sollen, an der S. aufgehalten und unter Umständen in umgekehrter Richtung wieder entleert werden. Daher ist bei der S. der Speiseröhre das Schlingen erschwert, die Speisen werden meist sofort wieder ausgewürgt. Bei Strikturen des Magens wird der Speisebrei, welcher nicht in den Zwölffingerdarm gelangen kann, durch Erbrechen wieder nach außen entleert. Bei Strikturen des Darms treten Stuhlverhaltung, einfaches oder Kotbrechen, bei Strikturen der Harnröhre erschwertes Harnen, Ablenkung des dünnen Harnstrahls, tropfenweises Abgehen des Urins etc. ein. Natürlich werden in allen diesen Fällen auch noch subjektive Symptome der S. vorhanden sein, wie Schmerz, Gefühl von Druck in der betreffenden Gegend etc. Die Behandlung der Strikturen kann nur da eine direkte sein, wo wir sie mit unsern mechanischen Hilfsmitteln erreichen können, wie in der Speiseröhre, der Harnröhre und im Mastdarm, während die Strikturen des Magens und Darms an sich keiner Behandlung zugänglich sind. Krebsige Strikturen geben unter allen Umständen eine schlechte Prognose, die narbigen Strikturen im allgemeinen eine bessere; doch sind auch sie sehr schwierig und oft nur unvollkommen zu beseitigen. Der hierzu eingeschlagene Weg besteht darin, daß man durch Einführung von glatten cylinderförmigen Körpern den verengerten Kanal allmählich zu erweitern sucht, indem man Cylinder von immer zunehmender Dicke anwendet. Bei Strikturen der Speiseröhre verwendet man hierzu die sogen. Schlundsonde, beim Mastdarm die sogen. Mastdarmbougies, bei Strikturen der Harnröhre starre oder elastische Sonden und Bougies aus verschiedenen Substanzen. Erreicht man hiermit den beabsichtigten Zweck nicht, und ruft die S. eine gefährliche Harnverhaltung hervor, so muß man dem Harn auf operativem Weg Abfluß verschaffen, entweder durch den Blasenstich oder durch den Harnröhrenschnitt (hinter der S.). Der künstliche Abweg für den Harn muß so lange offen gehalten werden, bis es gelungen ist, von vorn oder von hinten her der S. beizukommen und den normalen Weg für den Harn wieder zu eröffnen. Die neuere Chirurgie beginnt auch die Strikturen der Thränengänge und der Luftröhre mit Erfolg zu behandeln. Vgl. die Schriften von Dittel (Stuttg. 1880), Thompson (deutsch von Casper, Münch. 1888), Distin-Maddick (deutsch, Tübing. 1889).
Strindberg, August, schwed. Schriftsteller, geb. 22. Jan. 1849 zu Stockholm, ist einer der talentvollsten Vertreter der jüngsten Dichterschule in Schweden, welche der Richtung G. Brandes' (s. d.) folgt. Er trat bereits 1872 mit einem Drama: "Master Olof", hervor, das, besonders in einer spätern Umarbeitung (1878), von bedeutender Wirkung war, erregte aber erst mit seinem Roman "Röda rummet" (1879) die allgemeinste Aufmerksamkeit. S. bezeichnet das Buch als "Schilderungen aus dem Schriftsteller- und Künstlerleben" und geißelt darin mit überlegener Satire die konventionellen gesellschaftlichen und staatlichen Verkehrtheiten. Noch schonungsloser thut er dies in "Det nya riket" (1882), welches seitens der reaktionären Presse einen wahren Sturm von Angriffen gegen den Verfasser hervorrief, welche diesen veranlagten, ins Ausland zu gehen. Seitdem lebt er abwechselnd in Frankreich, Italien und der Schweiz. Im J. 1883 erschienen, in demselben Geist gehalten: "Svenska öden och äfventyr" (3 Bde.) und "Dikter p°a vers och prosa", 1884 eine Sammlung kleinerer Abhandlungen unter dem Titel: "Likt och olikt", ein Gedichtcyklus: "Sömngangarnätter", und eine Novellensammlung: "Giftas" (letztere auch französisch u. d. T.: "Les mariés"). Wegen einiger Auslassungen über das Sakrament des Altars wurde "Giftas" konfisziert und gegen den Verleger Anklage wegen Beschimpfung kirchlicher Einrichtungen erhoben, worauf S. von Genf, wo er eben wohnte, nach Stockholm reiste und dort vor Gericht seine Verteidigung so glänzend führte, daß er gegen alle Erwartung von den Geschwornen freigesprochen wurde. In "Giftas" behandelt S. das Verhältnis zwischen Mann und Frau vom Standpunkt des Russen Tschernyschewsky (s. d.) aus; noch mehr aber tritt seine Verwandtschaft mit diesem in dem folgenden Werk: "Utopier i verkligheten" (1885), hervor, worin er in novellistischer Form "verwirklichte Utopien" schildert und auf diesem Weg den Nachweis zu liefern sucht, daß eine Lösung der Arbeiterfrage im Sinn des Sozialismus ersprießlich und möglich sei. Von sonstigen Werken Strindbergs sind zu nennen die Schauspiele. "Gillets hemlighet" (1880), "Herr Bengts hustru" (1882) und "Lycko-Pers resa" (1882), seine kulturhistorischen Arbeiten: "Svenska folket i helg och söken" (1882) und "Gamla Stockholm" (im Verein mit Claes Lundin, 1882); ferner: "Svenska berättelser" (1883); "Tjensteqvinnans son" (1886); "Hemsöborna" (1887); "Skärkarlslif" (1888); "Fröken Julie" etc. Durch seinen Kampf gegen die übertriebene Frauenvergötterung, welche in der schwedischen Litteratur durch Ibsens "Dukkehjem" angebahnt wurde, hat sich S. in den letzten Jahren viele Feinde erworben, besonders unter den jüngern Vertretern der Frauenemanzipation.
Stringéndo (ital., spr. strindsch-), musikal. Vortragsbezeichnung, s. v. w. immer schneller, bis zur nächsten Tempobezeichnung.
Stringieren (lat.), eng zusammenziehen, genau nehmen; streifen; stringent, zwingend, bündig.
Stringocephalenkalk, s. Devonische Formation.
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Stringocephalus - Stroganow.
Stringocephalus, s. Brachiopoden.
Strinnholm, Andreas Magnus, schwed. Geschichtsforscher, geb. 25. Nov. 1786 in der Provinz Westerbotten, studierte zu Upsala, schrieb zuerst "Svenska folkets historia under konungarna af Wasaätten" (Stockh. 1819-24, 3 Bde.), die er aber mit der Erbvereinigung von Westeräs 1544 abbrach, und begann, nachdem er eine Zeit hindurch am statistischen Archiv zu Stockholm beschäftigt gewesen, 1830 eine vollständige Geschichte Schwedens nach den Quellen zu bearbeiten, von welcher unter dem Titel: "Svenska folkets historia fran äldsta till nuvarande tider" (das. 1835-54; daraus einzelne Abschnitte deutsch von Frisch u. d. T.: "Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der alten Skandinavier", Hamb. 1839-41, 2 Bde.) 5 Bände erschienen, welche bis 1519 reichen. Der erste Teil dieses Werkes ward von der schwedischen Akademie mit dem höchsten Preis gekrönt. Auch die kürzere "Sveriges historia i sammandrag" (Stockh. 1857-60, 3 Bde.) blieb unvollendet. S. ward 1845 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und starb 18. Jan. 1862 in Stockholm.
Strix, s. Eulen, S. 907.
Strizzo (ital., Mehrzahl Strizzi), s. Louis.
Strjetensk, Stadt im sibir. Gebiet Transbaikalien, Haupthafen am obern Amur, mit einem Hospital und verschiedenen Faktoreien. Die Ladenbesitzer sind fast durchgängig deutsch sprechende Juden.
Ströbeck, Pfarrdorf im preuß. Regierungsbezirk Magdeburg, Kreis Halberstadt, hat eine evang. Kirche und (1885) 1251 Einw., die seit alter Zeit als Schachspieler in Ruf stehen. Alljährlich bei der Osterprüfung wird in der Schule ein Wettspiel um sechs als Prämien ausgesetzte Schachbretter veranstaltet.
Strobel, Adam Walther, elsäss. Geschichtsforscher, geb. 23. Febr. 1792 zu Straßburg, seit 1830 Professor am Gymnasium daselbst, starb 28. Juli 1850. Sein Hauptwerk ist die "Vaterländische Geschichte des Elsaß" (Straßb. 1840-49, 6 Bde.), die Heinr. Engelhardt (für die Zeit 1789-1815) vollendete. Außerdem veröffentlichte S.: "Sebastian Brants Narrenschiff" (Quedlinb. 1839) samt dessen kleinern Gedichten; Closeners "Straßburger Chronik" (Stuttg. 1841); "Mitteilungen aus der alten Litteratur des nördlichen Frankreich" (Straßb. 1834); "Französische Volksdichter" (Baden 1846); "Das Münster in Straßburg" (Straßb. 1845, 14. Aufl. 1876) u. a. Auch an dem "Code historique et diplomatique de la ville de Strasbourg" (Straßb. 1843, 2 Bde.) nahm S. hervorragenden Anteil.
Strobilus (lat.), s. v. w. Zapfen, s. Koniferen.
Stroboskopische Scheibe, s. Phänakistoskop.
Strobus Loud., Gruppe der Gattung Pinus (s. Kiefer, S. 714).
Strodtmann, Adolf, Dichter und Schriftsteller, geb. 24. März 1829 zu Flensburg als Sohn des auch als Dichter bekannten Pädagogen Sigismund S. (gest. 12. Sept. 1888; "Dichtungen", 2. Aufl., Hamb. 1888), beteiligte sich 1848 als Kieler Student an der Erhebung seines Heimatlandes, ward in einem der ersten Gefechte verwundet und fiel in dänische Gefangenschaft. Befreit, setzte er seine Studien in Bonn fort, wo er zu Kinkels Schülern gehörte, dichtete seine revolutionären "Lieder der Nacht" (Bonn 1850) und wurde wegen des in denselben enthaltenen Gedichts "Das Lied vom Spulen" von der Universität verwiesen. Er ging zunächst nach Paris und London, wo er die Biographie "Gottfried Kinkel" (Hamb. 1850, 2 Bde.) schrieb, begab sich 1852 nach Amerika, gründete eine bald wieder eingehende Buchhandlung, lebte dann als Journalist in New York und Philadelphia, ließ auch ein aus den Reminiszenzen der deutschen Revolution erwachsenes Gedicht: "Lotar", erscheinen. 1856 nach Deutschland zurückgekehrt, ließ er sich in Hamburg nieder, wo er das Bürgerrecht erwarb und eine ausgebreitete litterarische Thätigkeit entwickelte. Der poetischen Erzählung "Rohana, ein Liebesleben in der Wildnis" (Hamb. 1857; 2. Aufl., Berl. 1872) folgten seine "Gedichte" (Leipz. 1858, 3. Aufl. 1880), "Ein Hohes Lied der Liebe" (Hamb. 1858) und die Zeitgedichte "Brutus, schläfst du?" (das. 1863). Gleichzeitig widmete sich S. dem eingehenden Studium Heines, von dessen Werken er eine Gesamtausgabe (Hamb. 1866-68, 20 Bde.) veranstaltete. Im Zusammenhang damit stand sein biographisches Buch "Heinrich Heines Leben und Werke" (Berl. 1869, 2 Bde.; 3. Aufl. 1884). 1870 begleitete S. als Korrespondent mehrerer großer Zeitungen die dritte deutsche Armee auf ihrem Siegeszug nach Frankreich und veröffentlichte aus den Eindrücken dieser Tage: "Alldeutschland in Frankreich hinein!" (Berl. 1871). Nach dem Feldzug ließ er sich in Steglitz bei Berlin nieder, wo er 17. März 1879 starb. Als poetischer Übersetzer hatte er zuerst eine Anzahl Gedichte neuerer amerikanischer Lyriker meisterhaft übertragen; es folgten dann: "Die Arbeiterdichtung in Frankreich" (Hamb. 1863); "Tennysons ausgewählte Dichtungen" (Hildburgh. 1868); "Shelleys Dichtungen" (das. 1867, 2 Bde.); die "Amerikanische Anthologie" (das. 1870) sowie zahlreiche Übersetzungen prosaischer Werke aus dem Französischen, Dänischen und Englischen, darunter Montesquieus "Persische Briefe" (Berl. 1866), Eliots "Daniel Deronda" (das. 1876-77), Brandes' "Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts" (das. 1872-76, 4 Bde.), I. Simes "Lessing" (das. 1878). Auch kritisch und litterarhistorisch vielfach thätig, veröffentlichte er: "Das geistige Leben in Dänemark" (Berl. 1873); "G. A. Bürgers Briefe" (das. 1874, 4 Bde.); "Dichterprofile. Litteraturbilder aus dem 19. Jahrhundert" (Stuttg. 1878).
Stroganow, angesehene russische, jetzt gräfliche Familie, hat zum Ahnherrn Anikij S., der zu Ende des 15. Jahrh. große Salinen und Eisenwerke im Ural besaß, und dessen Söhne Jakow und Grigorij sich durch Erfindungen sowie großartige Einrichtengen im Berg- und Salzwesen bekannt machten und sich zur Zeit Iwan Wasiljewitsch' des Schrecklichen zwischen der Kama und nördlichen Dwina ansiedelten. Indem sie den Kosakenhetman zum Schutz ihrer Besitzungen herbeiriefen, trugen sie mittelbar zur Eroberung Sibiriens bei. Iwan Wasiljewitsch verlieh den Brüdern bedeutende Vorrechte und Handelsmonopole; dieselben brachten den ganzen Handel Sibiriens an sich und wurden Besitzer von mehr als 100 Städten, Kolonien und Hüttenwerken, wozu später noch Goldwäschen kamen. Im Polenkrieg zu Anfang des 17. Jahrh. rüsteten die Stroganows ein eignes Armeekorps aus und trugen zur Rettung Rußlands bei, wofür sie der Zar mit der Befugnis belohnte, ihre eigne Soldateska zu haben und freie Jurisdiktion über ihre Untergebenen zu üben. Peter d. Gr. nahm jedoch 6. Mai 1722 den Repräsentanten der Familie, den Brüdern Alexander, Nikolaus und Sergei S., die sämtlichen Vorrechte ihrer Ahnen und verlieh ihnen hierfür bloß den Baronstitel. Gri-gorij Alexandrowitsch S., geb. 1770, russischer Diplomat und 1826 in den Grafenstand erhoben, rettete 1821 als russischer Gesandter in Konstantinopel durch sein energisches Auftreten vielen tausend Grie-
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Stroh - Strohseile.
chen das Leben; starb 19. Jan. 1857. Paul Alexandrowitsch S., geb. 1774 in Frankreich, focht mit großer Auszeichnung in den Napoleonischen Kriegen und leistete dem Kaiser Alexander Diplomatendienste. 1809 nahm er teil an der Besetzung der Alandsinseln. Hierauf war er im Türkenkrieg thätig. 1812 focht er insbesondere bei Walutina Gora und bei Borodino, weniger erfolgreich bei Malojaroßlawez. 1814 nahm er teil an den Schlachten bei Craonne und Laon. Der Schmerz um den Verlust seines Sohns, welcher bei Craonne fiel, beugte ihn so sehr, daß er auf einer Seereise 1817 starb. Der älteste Sohn des Grafen Grigorij Alexandrowitsch, Graf Sergei, geb. 1795, General der Kavallerie, bis 1835 Gouverneur von Riga und Minsk, dann bis 1847 Kurator des Universitätsbezirks von Moskau, erwarb sich als Besitzer eines Teils der von seinen Vorfahren angelegten Salz- und Hüttenwerke Verdienste um Hebung der Gewerbe, Künste und Wissenschaften und machte sich auch als russischer Altertumskenner bekannt. Seit 1857 Leiter der archäologischen Ausgrabungen, welche auf Kosten des kaiserlichen Kabinetts in verschiedenen Teilen Rußlands vorgenommen wurden, veröffentlichte er die Resultate in den "Comptes-rendus de la commission archeologique" 1860. Unter seiner Leitung erscheint auch ein "Recueil d'antiquités de la Scythie" (1866 ff.). 1859 zum Generalgouverneur von Moskau ernannt, schied er bald wieder aus dieser Stellung und wurde Kurator des damaligen Thronfolgers Nikolaus. Als solcher stand er dem jungen Großfürsten bis zu dessen Tod zur Seite. Hiernächst wurde er zum Vorsitzenden des Hauptkomitees der russischen Eisenbahnen ernannt und starb 10. April 1882 in Petersburg. Sein Bruder, Graf Alexander, war 1839-41 Minister des Innern, ward 1855 zum Generalgouverneur von Neurußland und Bessarabien ernannt und 1856 mit der Wiederherstellung von Sebastopol beauftragt. Sein Sohn Grigorij, ehemaliger Gardeoberst und seit September 1856 kaiserlicher Statthalter, war seit 1856 mit der verwitweten Herzogin von Leuchtenberg (gest. 24. Febr. 1876) morganatisch vermählt und starb 20. Febr. 1879.
Stroh, alle ihrer reifen Körner beraubten Halme und Stengel von Feldfrüchten, im engern Sinne nur die des Getreides. S. dient als Futter (chemische Zusammensetzung etc. s. Futter) und als Einstreu, außerdem benutzt man Getreidestroh als Brennmaterial (in Lokomotiven von besonderer Konstruktion), zum Decken der Dächer, zu Matten, Geweben, künstlichen Blumen, Zierarbeiten, als Packmaterial, zu Seilen, zur Darstellung von Cellulose für Papierfabrikation etc. Besonders wichtig ist die Strohflechterei (s. d.), welche langer, langgliederiger Halme von gleichmäßiger Stärke bedarf. Man benutzt das S. von Sommerweizen und Sommerroggen und baut erstern für diesen Zweck in Italien (bei Florenz), letztern im Schwarzwald, wobei man sehr dicht säet und zu gröbern Flechtarbeiten geeignete Halme aus dem gemähten reifen Getreide ausliest oder zu feinern Arbeiten das Getreide bald nach der Blüte bei trockner, heißer Witterung schneidet. Das S. muß schnell trocknen, eventuell unter Dach, und wird nun auf dem Rasen gebleicht und schließlich geschwefelt.
Strohblumen, s. v. w. Immortellen (s. d.); auch künstliche Blumen aus gehaltenem Stroh, wie sie auf Damenhüten getragen werden.
Strohelevator (Stacker, Stackmaschine), Apparat, um das von der Dampfdreschmaschine ausgedroschene Stroh zum Zweck der Errichtung eines Feimens anzuheben. Der S. besitzt als Hebevorrichtung ein endloses Kettenband, mit hervorstehenden, gekrümmten Zähnen besetzt, welches, von der Dampfmaschine betrieben, das aus den Strohschüttlern der Dreschmaschine in den Elevator gelangende Stroh anhebt. Der Apparat muß nach verschiedenen Richtungen, und um dem sich vergrößernden Feimen folgen zu können, in der Höhe stellbar sein. In Deutschland haben die Strohelevatoren keine ausgedehnte Verbreitung gefunden; in England und Ungarn sind dieselben dagegen vielfach in Anwendung.
Strohfiedel (Holzharmonika, Gigelyra, hölzernes Gelächter), das bekannte, bei den Tiroler Sängern beliebte Schlaginstrument, welches aus abgestimmten, mit Klöppeln geschlagenen Holzstäben besteht, die auf einer Strohunterlage ruhen. Wie dasselbe zum Namen "Fiedel" und "Gigelyra" kommt, ist bisher noch nicht untersucht worden. Die S. wird bereits in Virdungs "Musica getuscht" (1511) erwähnt.
Strohflechterei, die Kunst, aus Stroh (s. d.) verschiedene Gegenstände, wie Hüte, Kappen, Arbeitstaschen, Schuhe, Zigarrentaschen, feine Tressen etc., durch Flechtarbeit herzustellen. Diese Kunst, etwa seit Anfang dieses Jahrhunderts in Italien blühend, hat sich von dort auch über andre Länder verbreitet. Das zur Flechtarbeit bestimmte Stroh stammt von einer besondern Sorte Sommerweizen (Marzolano) oder Sommerroggen (s. Stroh) und wird nach dem Bleichen nach den Knoten in 20-24 cm lange Stücke geteilt, die man von neuem bleicht und sehr sorgfältig sortiert. Das sehr feine italienische Stroh wird in ungespaltenen Halmen verarbeitet und dann flach gepreßt; das minder feine Stroh andrer Länder wird mittels eines Werkzeugs (Strohspalter) mit sternförmig gestellten Schneiden in 7-15 Streifen (Zähne) gespalten. Aus 11-13 solchen Streifen werden zunächst lange Tressen geflochten, die man nach dem Waschen und Pressen mittels einer feinen Naht zu Hüten etc. zusammenfügt. Das fertige Stück wird abermals gewaschen, gebleicht und zuletzt geglättet. Die feinsten Strohflechtereien liefert Toscana, von wo auch viele Tressen und sortiertes Stroh ausgeführt werden. In Vicenza werden ebenfalls sehr feine, bei Mantua und Lodi aber geringere Waren hergestellt. Die Schweiz liefert den italienischen nahekommende Tressen in Freiburg, geringere in Aarau, Glarus, Genf. Ebenso hoch steht die Industrie in Belgien, während Frankreich nur gröbere Landware zu erzeugen scheint. In England sind Bedford, Hertford, Bux Hauptsitze der S. In Deutschland blüht diese Industrie in Sachsen, im Schwarzwald, auch in den schlesischen Webereidistrikten und vor allem in Lindenberg bei Lindau, wo sie schon 1765 bestand. Böhmen, Tirol und Krain liefern geringere Tressen. Die Tressen bilden überhaupt die gewöhnliche Handelsware, welche in allen größern Städten in den sogen. Strohhutfabriken vernäht wird.
Strohmänner nennt man bei Aktiengesellschaften diejenigen, welche als Bevollmächtigte mit offener oder verdeckter Vollmacht, als Borger oder Mieter von meist aus den Depots von Bankiers entliehenen Aktien neben wirklichen Aktionären in den Generalversammlungen der Gesellschaft erscheinen.
Strohrost, s. Rostpilze, S. 989.
Strohschüttler, s. Dreschmaschine, S. 139.
Strohseile werden mit der Hand oder auf Strohseilspinnmaschinen dargestellt, die eine eigentümliche Konstruktion besitzen oder den Watermaschinen nachgebildet sind. S. dienen in der Landwirtschaft, in der Metallgießerei zur Kernbildung, zum Umhüllen von Dampfleitungsröhren, als Packmaterial etc.
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Strohstoff - Strongyliden.
Strohstoff (Strohzeug), die aus Stroh durch Kochen mit Lauge isolierte und auf Holländern gemahlene Cellulose, welche in der Papierfabrikation benutzt wird.
Strohwitwer (entsprechend dem englischen Grasswidow, "Graswitwe"), der zeitweilig von der andern Hälfte verlassene Ehegatte. Stroh steht hier für Bett, wie in der Klage Marthas im "Faust": "Und läßt mich auf dem Stroh allein!"
Strom, s. v. w. Fluß, besonders ein größerer, welcher sich unmittelbar ins Meer ergießt.
Stroma, Insel im Pentland Firth (Nordküste Schottlands), mit dem gefürchteten Swelkiestrudel.
Stromatik (griech.), Teppichwebekunst.
Strombau, s. Wasserbau.
Stromberg, Bergrücken im württemberg. Neckarkreis, zwischen Zaber (zum Neckar) und Metter (zur Enz), erreicht im Scheiterhäule eine Höhe von 473 m.
Stromberg, 1) Stadt im preuß. Regierungsbezirk Koblenz, Kreis Kreuznach, am Hunsrück, am Guldenbach und an der Eisenbahn Langenlonsheim-Simmern, 195 m ü. M., hat eine evangelische und eine kath. Kirche, ein Amtsgericht, eine Oberförsterei, Eisenhüttenwerke mit Blech- und Gußwarenfabrikation, Kalkbrennerei und (1885) 1021 Einw. Dabei die Burg Goldenfels und die Ruine Fustenburg. - 2) Flecken und Wallfahrtsort im preuß. Regierungsbezirk Münster, Kreis Beckum, hat eine kath. Kirche, eine Burgruine, eine Bandfabrik, Steinbrüche und (1885) 1534 Einw. Dabei die Stromberger Hügel, im Monkenberg 190 m hoch, wohin man neuerdings die Varusschlacht verlegt.
Stromboli, s. Liparische Inseln.
Stromenge, die Stelle eines Stroms, wo das Bett durch Felsen so verengert wird, daß dadurch das Wasser mehr Tiefe und einen schnellen Fluß bekommt.
Stromeyerit, s. Kupfersilberglanz.
Stromkorrektion, s. Wasserbau.
Strommesser, s. Rheometer.
Strömö, Insel, s. Färöer, S. 58.
Stromprofil, rechtwinkeliger, senkrechter Querschnitt eines Flusses oder Kanals.
Stromregulator, s. v. w. Rheostat.
Stromschicht (Zahnfries), s. Fries.
Stromschnelle, die Stelle eines Stroms, welche in einer frühern Zeit ein Wasserfall gewesen ist, dessen Felsfläche sich aber jetzt infolge langjähriger erodierender Thätigkeit des Wassers der horizontalen Ebene mehr genähert hat. Ist das Strombett, wie z. B. bei dem Nil, ein steileres, so nennt man seine Stromschnellen Katarakte (s.d.).
Strömstad, kleine Hafenstadt im schwed. Län Gotenburg, am Skagerrak, 15 km von der norwegischen Grenze, in kahler und wilder Gegend, mit Seebad und (1885) 2417 Einw.; brannte 1876 zu zwei Drittteilen nieder. S. ist Sitz eines deutschen Konsulats.
Stromtiefenmesser, s. Rheobathometer.
Stromvermessung, s. Flußvermessung.
Stromwender (Gyrotrop, Kommutator), Vorrichtung, um den galvanischen Strom nach Belieben umzukehren, zu schließen oder zu öffnen. Von den zahlreichen Formen mögen die folgenden als Beispiele dienen. Der S. von Pohl (Fig. 1) besteht aus einem Brettchen A mit sechs Quecksilbernäpfchen b c d e f g, von welchen d mit g und c mit f durch die Drähte h und i verbunden sind. Die beiden dreiarmigen Metallbügel k l m und n o p sind durch den Glasstab q zu einer Wippe vereinigt, deren mittlere Arme l und o in die Näpfchen b und e tauchen; in diese Näpfchen sind auch die Enden der Poldrähte der Batterie eingesenkt, während die Enden der Leitung r, in welcher der Strom wechseln soll, in die Näpfe f und g tauchen. Liegt die Wippe wie in der Figur, so nimmt der Strom den Weg b l k g r f n o e und durchfließt die Leitung r in der Richtung des Pfeils; legt man aber die Wippe um, so daß ihre Arme m und p resp. in die Näpfe e und d eintauchen, so macht der Strom den Weg b l m c i f r g [h] d p o e und fließt demnach in der Leitung r in entgegengesetzter Richtung wie vorhin. Der S. von Ruhmkorff (Fig. 2) besteht aus einer Elfenbeinwalze c, welche mit zwei diametral gegenüberliegenden Messingwülsten d und e versehen ist und von der metallenen Achse a b getragen wird. Diese Achse geht nicht durch die Walze durch, sondern besteht aus zwei Stücken, deren vorderes a mit dem Wulst d, das hintere b mit dem Wulst e leitend verbunden ist. Die beiden Teile der Achse stehen durch ihre messingenen Lager mit den Klemmschrauben f und g, welche die Poldrähte aufnehmen, in Verbindung, während die Klemmschrauben h und i, in welche die Enden der Leitung r geklemmt werden, auf den Messingblechstreifen k und l, die gegen die Walze federn, leitend aufgesetzt sind. Wird die Walze mittels des Knopfes so gedreht, daß d mit k, e mit l in Berührung sind, so ist die Bahn des Stroms g b e l i r h k d a f; stellt man die Walze aber so, daß d gegen l und e gegen k federn, so kehrt sich der Strom um, indem er jetzt den Weg g b e k h r i l d a f einschlägt. Berühren die Messingwülste die Blechstreifen nicht, so ist der Strom unterbrochen. Vgl. Magnetelektrische Maschinen.
Stromzölle, s. Zölle.
Strongyliden (Strongylidae), Familie der Nematoden oder Fadenwürmer, fadenförmige Eingeweidewürmer mit rundlichem Körper, endständiger, von Papillen umgebener, bald enger, bald klaffender Mundöffnung und am Hinterleibsende im Grund einer schirm- oder glockenförmigen Tasche liegender männlicher Geschlechtsöffnung. Der Palisfadenwurm (Eustrongylus gigas Rud.), der größte Spulwurm, ist rot, besitzt je eine Längsreihe von Papillen auf den Seitenlinien, sechs vorspringende Mund-
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Strontian - Strophe.
papillen und eine weit nach vorn gerückte weibliche Geschlechtsöffnung, lebt vereinzelt meist im Nierenbecken verschiedener Raubtiere, besonders der Fischotter und Robben, selten im Rind, Pferd und Menschen. Das Weibchen wird gegen 1 m lang und etwa 12 mm dick, während das Männchen nur 1/3 dieser Länge erreicht. Über die Entwicklungsgeschichte ist nichts Sicheres bekannt; wahrscheinlich wird der Jugendzustand durch Fische übertragen. Mehrere Arten der Gattung Strongylus Müll. leben in Haustieren, so S. paradoxus Mehlis in den Bronchien des Schweins, S. filaria Rud. in den Bronchien des Schafs, S. micrurus Mehlis in Aneurysmen der Arterien des Rindes. Dochmius duodenalis Dub. (Ancylostomum duodenale Dub.), 10-18 mm lang, lebt im Zwölffingerdarm und Dünndarm des Menschen, besonders in den Nilländern, beißt mit seiner starken Mundbewaffnung Wunden in die Darmhaut, saugt Blut aus den Darmgefäßen und erzeugt die sogen. ägyptische Chlorose. In der Jugend lebt dieser Wurm in andrer Form (als sogen. Rhabditis, s. Nematoden) frei und wird erst später zum Schmarotzer. Andre Arten leben im Hund, Schaf, Rind und in der Katze. - Im Pferd als lästiger Parasit findet sich Sclerostomum equinum Duj. vor. Dieser Wurm wird 20-40 mm lang, lebt ebenfalls eine Zeitlang in Rhabditisform frei und gelangt mit dem Wasser in den Darm des Pferdes. Von hier aus dringt er in die Gekrösarterien, erzeugt dort Erweiterungen (Aneurysmen) und tritt dann in den Darm zurück, um in ihm geschlechtsreif zu werden. Nach den Untersuchungen von Bollinger ist die Kolik der Pferde in den meisten Fällen auf Verstopfungen der Arterien mit dem genannten Wurm zurückzuführen. - Cucullanus elegans Zed., der Kappenwurm, lebt in Flußfischen; seine Jugendform haust in kleinen Wasserflöhen (Cyklopiden). Das Weibchen wird etwa 10, das Männchen nur 5 mm lang.
Strontian (Strontianerde, Strontiumoxyd) SrO entsteht bei heftigem Glühen von salpetersaurem S. als graue, poröse, unschmelzbare Masse, welche sich wie Baryumoxyd verhält und mit Wasser farbloses Strontiumhydroxyd (Strontiumoxydhydrat, Strontianhydrat) SrOH2O bildet. Dies kristallisiert aus wässeriger Lösung mit 8 Mol. Kristallwasser, reagiert stark alkalisch, wirkt ätzend, zieht begierig Kohlensäure an und bildet mit Säuren die Strontiansalze. Man hat es für die Zuckerfabrikation verwertet.
Strontian (spr. stronnschien), Dorf in der schott. Grafschaft Argyll, am obern Ende des Loch Sunart, mit Bleigruben und (1881) 691 Einw.
Strontianit, Mineral aus der Ordnung der Carbonate, findet sich in rhombischen, säulen- oder nadelförmigen, auch spießigen Kristallen, auch in derben und in faserigen Massen, ist weiß, oft grünlich, seltener gräulich und gelblich, durchsichtig bis durchscheinend, glasglänzend, Härte 3,5, spez. Gew. 3,6-3,8, besteht aus kohlensaurem Strontian SrCO3, meist mit einem Gehalt von isomorph beigemischtem Calciumcarbonat (Aragonit). Er tritt gewöhnlich auf Erzgängen auf, so bei Freiberg, am Harz, bei Hamm in Westfalen (hier auf Gängen im Kreidemergel), in Salzburg, bei Strontian in Schottland (daher der Name), und dient zur Darstellung von Strontiumpräparaten. Das westfälische Vorkommen wird für die Zuckerfabrikation ausgebeutet.
Strontiansalze (Strontiumsalze, Strontiumoxydsalze) finden sich zum Teil in Mineralien, Quellwasser und Pflanzen. Am verbreitetsten sind der schwefelsaure (Cölestin) und der kohlensaure Strontian (Strontianit), aus welchen alle übrigen S. mittelbar oder unmittelbar dargestellt werden. Sie sind farblos, wenn die Säure ungefärbt ist, und verhalten sich im allgemeinen wie die Barytsalze. Aus ihren Lösungen fällt Schwefelsäure sehr schwer löslichen weißen, schwefelsauren Strontian, der aber immer noch löslicher ist als schwefelsaurer Baryt, so daß eine durch Schütteln desselben mit destilliertem Wasser dargestellte Lösung in Chlorbaryumlösung noch eine Ausscheidung von schwefelsaurem Baryt hervorbringt. Mehrere S. färben die Flamme rot und werden in der Feuerwerkerei benutzt. In neuerer Zeit ist Strontian auch für die Zuckerfabrikation wichtig geworden.
Strontium Sr, Metall, findet sich in der Natur als schwefelsaures (Cölestin) und kohlensaures Strontiumoxyd (Strontianit), ganz allgemein als Begleiter des Baryts, auch, wenngleich nur spurenweise, in Kalkstein, Marmor, Kreide, in Mineralwässern, im Meerwasser und in Pflanzenaschen. Man erhält es durch Zersetzung von geschmolzenem Chlorstrontium durch den galvanischen Strom oder von Strontiumoxyd durch Kalium als schwach gelbliches, dehnbares Metall vom spez. Gew. 2,54, Atomgew. 87,2; es schmilzt bei mäßiger Rotglut, zersetzt Wasser bei gewöhnlicher Temperatur, oxydiert sich an der Luft sehr leicht und verbrennt beim Erhitzen mit glänzendem Licht zu Oxyd. Es ist zweiwertig und bildet mit Sauerstoff Strontiumoxyd (Strontian) SrO, welches zu den alkalischen Erden gerechnet wird, und Strontiumsuperoxyd SrO2. Seine Verbindungen gleichen denen des Baryums. Strontianit wurde 1790 durch Crawfurd und Cruikshank vom Witherit unterschieden; Klaproth wies 1793 die Strontianerde nach, und das Metall stellte Davy 1808 dar.
Strontiumchlorid (Chlorstrontium) SrCl2 entsteht beim Lösen von Strontianit (kohlensaurer Strontian) in heißer Salzsäure, wird aber meist aus Cölestin (schwefelsaurer Strontian) dargestellt, indem man denselben durch Glühen mit Kohle in Schwefelstrontium verwandelt und dies mit Salzsäure zersetzt. Es bildet farblose Kristalle mit 6 Mol. Kristallwasser, vom spez. Gew. 1,603, schmeckt scharf, bitter, salzig, löst sich leicht in Wasser und Alkohol, verwittert an der Luft, wird beim Erhitzen wasserfrei und schmilzt bei 829°. Es färbt die Alkoholflamme rot und wird in der Feuerwerkerei benutzt.
Strontiumoxyd, s. Strontian.
Strontiumsulfuret (Schwefelstrontium) SrS entsteht, wenn man Cölestin (schwefelsauren Strontian) mit Kohle heftig glüht, ist farblos, verhält sich wie Baryumsulfuret (s. d.) und bildet namentlich auch mit Wasser kristallisierbares Strontiumsulfhydrat SrSH2S. Das durch Glühen von schwefelsaurem Strontian mit Kohle erhaltene S. phosphoresziert nach der Bestrahlung durch Sonnenlicht schwach gelblichgrün. Erhitzt man aber das Salz in Wasserstoff, so erhält man grün, blau, violett oder rötlich leuchtende und beim Glühen von kohlensaurem Strontian mit Schwefel blau oder smaragdgrün leuchtende Präparate.
Strophäden (jetzt Strivali oder Stamphanäs), zwei kleine Inseln im Ionischen Meer, südlich von Zante; galten für den Wohnsitz der Harpyien.
Strophe (griech.), in der Poesie, insbesondere der lyrischen, die Verbindung mehrerer Verse zu einem metrischen Ganzen, dessen Maß und Ordnung den einzelnen Teilen eines Gedichts zu Grunde liegt und sich demnach wiederholt. Man sagt deshalb: ein Gedicht besteht aus so und so viel Strophen. Bei den
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Strophion - Strubberg.
Griechen bildete die S. einen Teil der Chorgesänge auf dem Theater, die sich in S., Antistrophe ("Gegenstrophe"), die der erstern genau nachgebildet war, und Epode ("Nachgesang"), mit eigner metrischer Form, gliederten. Die lyrische Poesie behielt diese Benennungen bei, wie in den Pindarischen Oden; andre lyrische Gedichte des Altertums kennen die Epode und Antistrophe nicht, sondern bestehen aus Strophen mit regelmäßig wiederkehrendem Metrum. Die Alten teilten die Strophen nach der Anzahl ihrer Verse in zwei-, drei- und vierzeilige (Distichen, Tristichen und Tetrastichen) und nach ihren Erfindern und andern Merkmalen in Alkäische, Sapphische, choriambische und andre Strophen. Die einzelnen Verse derselben hießen Kola und bildeten ein andres Einteilungsmerkmal. Strophen, deren Verse ein gleiches Metrum hatten, galten zusammen nur als ein Kolon und hießen Monokola; solche, in denen zwei, drei oder vier Versarten wechselten, Dikola (z. B. das Sapphische Metrum), Trikola (z. B. das Alkäische Metrum) und Tetrakola. In der Poesie des Mittelalters und der neuern Zeit betrachtet man neben dem regelmäßig wiederkehrenden Versmaß besonders die Einteilung in Aufgesang und Abgesang (s. d.) sowie den Reim als Prinzip bei der Strophenbildung, während in den allitterierenden altdeutschen Dichtungen eine strophische Gliederung noch nicht vorkommt. Erst in der Zeit des deutschen Minnegesangs entstand eine künstliche Strophenbildung, die auch auf die epische Poesie ihren Einfluß hatte. Die bekanntesten Strophen dieser Periode sind: die Nibelungenstrophe, Hildebrandstrophe, die Titurel- und die fünfzeilige Neidhartstrophe. Im weitern Verlauf haben die Dichter der neuern Zeit, von dieser Grundlage des Mittelalters ausgehend, eine großartige Mannigfaltigkeit in der Strophenbildung entwickelt. Vgl. Seyd, Beitrag zur Charakteristik und Würdigung der deutschen Strophen (Berl. 1874).
Strophion (griech.), Stirnbinde der griechischen Frauen und Priester, auch Gürtel; bei den römischen Frauen ein Busenband, welches unter den Brüsten zur Aufrechterhaltung derselben getragen wurde.
Strophulus, Flechtenausschlag bei Kindern.
Stroppen, Stadt im preuß. Regierungsbezirk Breslau, Kreis Trebnitz, westlich von der Station Gellendorf, hat eine evang. Kirche und (1885) 749 Einw.
Strosse, stufenförmiger Absatz in einem Grubenbau, dann auch Abbaustoß beim Strossenbau.
Strossenbau, s. Bergbau, S. 724.
Stroßmayer, Joseph Georg, kroat. Bischof, geb. 4. Febr. 1815 zu Essek in Slawonien, studierte in Pest Theologie, empfing 1838 die Priesterweihe und ward Professor am Seminar zu Diakovár, dann kaiserlicher Hofkaplan und Direktor des Augustianiums in Wien und 1849 Bischof in Diakovár. Auf dem vatikanischen Konzil trat er mit ungewöhnlichem Freimut gegen das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit auf und hielt am längsten von allen Bischöfen seinen Widerspruch aufrecht, unterwarf sich aber doch und führte 1881 eine slawische Pilgerschar nach Rom. Hauptsächlich widmete sich S. der kroatischen Volkssache, ward einer der Führer der kroatischen Nationalpartei und verwandte seine reichen Einkünfte zur geistigen Hebung der Nation: er errichtete Volksschulen, gründete ein Seminar für die bosnischen Kroaten, stellte das alte nationale Kapitel der Illyrier, San Girolamo degli Schiavoni in Rom, her, ließ durch A. Theiner "Vetera monumenta Slavorum meridionalium historiam illustrantia" (Rom 1863) herausgeben, veranstaltete eine Sammlung der kroatischen Lieder und Volksbücher, betrieb die Errichtung der Akademie und Universität zu Agram und baute eine prächtige Kathedrale in Diakovár. Auch ist er eifrig bemüht, durch Zulassung der slawischen Liturgie die Südslawen der römisch-katholischen Kirche zuzuführen.
Strotten, s. v. w. Molken.
Stroud (spr. straud), Stadt in Gloucestershire (England), südlich von Gloucester, hat Tuch- und Walkmühlen, Scharlachfärberei und (1881) 7848 Einw.
Strousberg, Bethel Henry (ursprünglich Strausberg), Finanzmann, geb. 20. Okt. 1823 zu Neidenburg, ging nach dem Tod seiner Eltern als zwölfjähriger Knabe nach England, ließ sich dort taufen und legte dabei die früher von ihm geführten Namen (nach seiner Angabe Bartel Heinrich) ab. Er trat dort in das Geschäft seiner Oheime, begann für Journale zu schreiben und wurde Eigentümer von Sharpes "London Magazine", welches ihm einen erheblichen Gewinn abwarf. Auch war er für Lebensversicherunggesellschaften thätig. Später siedelte er nach Berlin über und fand hier 1861 Gelegenheit, als Vertreter englischer Häuser die Tilsit-Insterburger und die Ostpreußische Südbahn auszuführen. Dann übernahm er für eigne Rechnung die Ausführung folgender Bahnen: der Berlin-Görlitzer, der Rechte-Oderuferbahn, der Märkisch-Posener, Halle-Sorauer und Hannover-Altenbekener Bahn, ferner der Brest-Grajewo-, der Ungarischen Nordostbahn und der rumänischen Eisenbahnen, zusammen 400 Meilen. Er wandte, da ihm zur Ausführung so gewaltiger Unternehmungen weder Kapital noch Kredit auch nur annähernd ausreichend zu Gebote standen, das System an, als Generalunternehmer die Lieferanten der Bahn durch Aktien zu bezahlen. Er kaufte ferner die ausgedehnte Herrschaft Zbirow in Böhmen, die Egestorffsche Lokomotivenfabrik zu Linden bei Hannover, viele Gruben, Hütten etc. Als 1870 die Koupons der rumänischen Bahnen nicht eingelöst werden konnten, begann das Kartenhaus seiner Unternehmungen zusammenzufallen. Er geriet 1875 in Preußen, Österreich und Rußland in Konkurs, wurde in Moskau verhaftet, nach langem Prozeß zur Verbannung verurteilt und konnte erst im Herbst 1877 nach Berlin zurückkehren. In der Haft schrieb er seine Selbstbiographie ("Dr. S. und sein Wirken", Berl. 1876). Auch veröffentlichte er "Fragen der Zeit", 1. Teil: "Über Parlamentarismus" (Berl. 1877), und eine Denkschrift über den Bau eines Nordostseekanals (das. 1878). Er starb in großer Dürftigkeit 31. Mai 1884 in Berlin. Vgl. Korfi, Bethel Henry S. (Berl. 1870).
Strozzi, Palast, s. Florenz, S. 383.
Strozzi, Bernardo, Maler, genannt il Prete Genovese und il Cappuccino, geb. 1581 zu Genua, war daselbst, später in Venedig thätig, wo er 1644 starb. S. malte im naturalistischen Stil des Caravaggio viele Fresken und Ölbilder, die meist etwas roh sind, aber kräftiges Leben und feuriges Kolorit zeigen; besonders vortrefflich sind seine Porträte.
Strubberg, 1) Friedrich August, unter dem Pseudonym Armand bekannter Schriftsteller, geb. 18. Mai 1808 zu Kassel, trat, zum Kaufmannsstand bestimmt, in ein amerikanisches Haus in Bremen ein, durchstreifte dann jahrelang Amerika nach allen Richtungen, übernahm später unter schwierigen Verhältnissen das Direktorium des "Deutschen Fürstenvereins in Texas", machte die Feldzüge gegen Mexiko mit und kehrte 1854 nach Deutschland zuruck. Er starb 3. April 1889 in Gelnhausen. S. hat seine Erlebnisse und Beobachtungen in einer Reihe von Werken
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Strudel - Struensee.
dargelegt, die eine Zwittergattung von Roman und ethnographischer Schilderung bilden, und von denen die Skizzen "Bis in die Wildnis" (Berl. 1858, 4 Bde.; 2. Aufl. 1863) das meiste Aufsehen erregten, der Roman "Sklaverei in Amerika" (Hannov.1862, 3 Bde.) dagegen das meiste poetische Leben hat. Von den übrigen nennen wir nur: "Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer" (Stuttg. 1858, 2. Aufl. 1876); "An der Indianergrenze" (Hannov. 1859, 4 Bde.), in ethnographischer Hinsicht das lehrreichste Werk, und die beliebte Jugendschrift "Karl Scharnhorst" (3. Aufl., das. 1887). Zuletzt veröffentlichte er zwei Dramen: "Der Freigeist" (Kassel 1883) und "Der Quadrone" (das. 1885).
2) Otto von, preuß. General, geb. 16. Sept. 1821 zu Lübbecke in Westfalen, wurde im Kadettenkorps erzogen und trat 1839 als Sekondeleutnant in die Armee ein. Nachdem er die Kriegsakademie besucht hatte, wirkte er 1846-49 als Lehrer am Kadettenkorps, nahm 1849 am badischen Feldzug teil, ward dann im topographischen Büreau des Generalstabs beschäftigt und, nachdem er zwei Jahre zur Erlernung der französischen Sprache in Paris zugebracht hatte, 1854 als Hauptmann in den Großen Generalstab versetzt. Er wurde dem Militärgouvernement am Rhein beigegeben, an dessen Spitze der Prinz von Preußen (Kaiser Wilhelm I.) stand, und erhielt 1858 den Adelstitel und den Majorsrang. Im Jahr 1861 wurde er Flügeladjutant des Königs und Lehrer an der Kriegsakademie. Als Oberstleutnant gehörte er 1863 der internationalen Militärkommission in Serbien an, nahm am dänischen Feldzug, namentlich an der Erstürmung der Düppeler Schanzen, teil, ward 1865 Oberst und Kommandeur des 4. Gardegrenadierregiments in Koblenz, an dessen Spitze er 1866 den böhmischen Feldzug mitmachte, und befehligte 1870-71 die 30. Infanteriebrigade im 8. Korps vor Metz, bei Amiens, Bapaume und St.-Quentin. Nach Beendigung des Kriegs organisierte er die Landwehrbehörden in Elsaß-Lothringen und erhielt 1873 als Generalleutnant das Kommando der 19. Division. Im November 1880 wurde er zum Generalinspekteur des Militärerziehungs- und Bildungswesens und 1883 zum General der Infanterie ernannt.
Strudel, ein Wasserwirbel oder eine Stelle, an der sich das Wasser kreis- oder spiralförmig nach unten der Tiefe zu dreht, wobei sich bisweilen in der Mitte eine trichterförmige Vertiefung bildet. Solche S. haben zur Voraussetzung reißende Strömungen, wie sie im offenen Meer nirgends vorhanden sind; sie finden sich auch in engen Meeresstraßen selten vor. Der Malstrom (s. d.) bei den Lofoten und die Charybdis in der Meerenge von Messina sind die bekanntesten Wirbel dieser Art, jedoch ist die Bewegung in denselben keineswegs so verderblich, wie sie von der Sage dargestellt wird, und bereitet nur kleinen Fahrzeugen ernstliche Schwierigkeiten. Unterhalb der Niagarafälle und in den Stromengen des Congo unterhalb Vivi entwickeln sich ebenfalls derartige S. Der Donaustrudel unterhalb Grein in Oberösterreich auf der Nordseite der Insel Wörth hat seit 1866 durch Sprengungen seine Gefährlichkeit für die Schiffahrt verloren. Von besonderm Interesse sind die S., welche sich in den obern Läufen der Flüsse infolge der Unebenheiten des Grundes namentlich in Verbindung mit Wasserfällen und Stromschnellen bilden. Die Erosionswirkung derselben kennzeichnet sich durch die Bildung von Strudellöchern oder Riesentöpfen (s.d.).
Strudel, in Bayern und Österreich beliebte Mehlspeise aus dünn aufgetriebenem Nudel- oder Hefenteig, der, mit Obst, gewiegtem Fleisch, Schokolade, Krebsen, Mandeln, Mark, Rosinen etc. bedeckt, zusammengerollt und in einer Kasserolle gebacken wird.
Strudelwürmer (Turbellaria), s. Platoden.
Struensee, 1) Karl Gustav von, preuß. Minister, geb. 18. Aug. 1735 zu Halle, Sohn Adam Struensees, des Verfassers des alten Halleschen Gesangbuchs, Predigers an der Ulrichskirche daselbst, dann zu Altona, studierte in Halle Mathematik und Philosophie und wurde 1757 Professor an der Ritterakademie zu Liegnitz. Hier benutzte er seine Muße, die Anwendung der Mathematik auf die Kriegskunst zu studieren, und gab "Anfangsgründe der Artillerie" (3. Aufl., Leipz. 1788) und "Anfangsgründe der Kriegsbaukunst" (das. 1771-74, 3 Bde.; 2. Aufl. 1786) heraus, das erste bessere Werk in diesem Fach in Deutschland. Auf Veranlassung seines Bruders ging er 1769 nach Kopenhagen, wo er eine Anstellung als dänischer Justizrat und Mitglied des Finanzkollegiums erhielt. Nach dem Sturz seines Bruders 1772 wurde er von Friedrich d. Gr. als preußischer Unterthan reklamiert, so daß man ihn frei in sein Vaterland entlassen mußte. Nachdem er längere Zeit auf seinem Gut Alzenau bei Haynau in Schlesien den Wissenschaften gelebt, ward er 1777 zum Direktor des Bankkontors in Elbing ernannt, 1782 als Oberfinanzrat und Direktor der Seehandlung nach Berlin berufen, 1789 vom König von Dänemark unter Hinzufügung des Namens v. Karlsbach geadelt und 1791 zum preußischen Staatsminister und Chef des Accise- und Zolldepartements ernannt. Obwohl von stattlicher Persönlichkeit und bedeutenden Gaben, dabei streng rechtlich, vermochte S., durch den Neid und die Feindseligkeit seiner hochadligen Kollegen behindert, doch nicht die freisinnigen Reformen im Finanzwesen durchzuführen, welche er in seinen Schriften empfohlen hatte. Er starb 17. Okt. 1804. Vgl. v. Held, Struensee (Berl. 1805).
2) Johann Friedrich, Graf von, dän. Minister, Bruder des vorigen, geb. 5. Aug. 1737 zu Halle, studierte in seiner Vaterstadt Medizin, ward 1759 Stadtphysikus zu Altona und 1768 Leibarzt und Begleiter des jungen Königs Christian VII. von Dänemark auf dessen Reise durch Deutschland, Frankreich und England. Schnell erwarb er sich die Gunst des Königs und ward 1770 auch mit der Erziehung des Kronprinzen beauftragt und zum Konferenzrat und Lektor des Königs und der Königin Karoline Mathilde (s. Karoline 1) ernannt. Die von ihrem Gatten mit Gleichgültigkeit behandelte Königin fand bald Interesse an seinem Umgang und glaubte in ihm den Mann gefunden zu haben, mit dessen Hilfe sie die ihr abgeneigte dänische Adelsaristokratie stürzen könnte. Nachdem S. ein besseres Einvernehmen zwischen dem König und der Königin hergestellt, wußte er die bisherigen Günstlinge und Minister vom Hof zu entfernen, zuerst den Grafen von Holck, an dessen Stelle sein Freund Brandt als königlicher Gesellschafter eintrat, dann auch den verdienten Minister Grafen Bernstorff, und Ende 1770 hob er den ganzen Staatsrat auf. Die Königin und S. herrschten nun unumschränkt, indem sie den schwachen König von den Staatsgeschäften fern hielten. Bald entspann sich zwischen ihnen ein näheres Verhältnis. Während Karoline Mathilde S. zärtlich liebte und ihre Gefühle oft unvorsichtig verriet, war diesem die Neigung der Königin besonders deswegen von Wert, weil er sich durch sie in seiner Machtstellung zu behaupten hoffte. Seine Herrschaft über den eingeschüchterten König
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Struktur - Strümpfe.
war so groß, daß er sich schließlich sogar die Vollmacht erteilen ließ, Kabinettsbefehle ohne königliche Unterschrift auszufertigen. Es ward ein neues Ministerium gebildet, S. selbst aber im Juli 1771 zum Kabinettsminister ernannt. Abweichend von der bisher verfolgten Politik, suchte S. Dänemark von dem Einfluß Rußlands frei zu machen und dafür mit dem stammverwandten Schweden eine enge Verbindung herzustellen. Im Innern wollte er nach dem Muster Friedrichs II. von Preußen durch einen aufgeklärten Despotismus gewerbliche Thätigkeit, Wohlstand und freiheitliche Bildung begründen. Die Finanzen wurden geordnet, die Abgaben verringert, viele der Industrie und Handel hemmenden Fesseln gelöst, Bildungsanstalten gegründet, die strengen Strafgesetze gemildert, die Folter abgeschafft und alle Zweige der Verwaltung nach Vernunftgrundsätzen geordnet; doch ging S. dabei mit zu rücksichtsloser Eile zu Werke, verfeindete sich mit allen hervorragenden Persönlichkeiten, reizte das Volk durch Verdrängung der S. unbekannten dänischen Sprache zu gunsten der deutschen und ward daher als Tyrann verschrien, insbesondere von der orthodoxen Geistlichkeit. Dazu ward sein Verhältnis zu der Königin verdächtigt, namentlich als diese 7. Juli 1771 eine Tochter gebar. An der Spitze der ihm feindlichen Partei stand die herrschsüchtige Stiefmutter Christians VII., Juliane Maria, Prinzessin von Braunschweig-Wolfenbüttel, und an sie schlossen sich mehrere einflußreiche Männer an, darunter der Kabinettssekretär Guldberg und der General Rantzau-Aschberg. Am frühen Morgen des 17. Jan. 1772 drangen diese Verschwornen in das Schlafzimmer des Königs und zwangen denselben zur Unterzeichnung des Befehls zur Verhaftung der Königin, Struensees und Brandts. S. ward in Ketten auf die Citadelle gebracht und eines Anschlags gegen die Person des Königs, um ihn zur Abdikation zu zwingen, des strafbaren Umgangs mit der Königin, der Anmaßung und des Mißbrauchs der höchsten Gewalt angeklagt. Auf sein Geständnis eines verbrecherischen Umgangs mit der Königin begab sich eine zweite Kommission zur Königin nach Kronborg, um aus dieser ein gleiches Geständnis herauszulocken, was auch gelang. Die königliche Ehe ward getrennt, S. aber "eines großen, todeswürdigen Verbrechens wegen" 6. April zu grausamer Hinrichtung verurteilt. Ebenso lautete das Urteil gegen Brandt als Genossen Struensees. Nachdem der König das Urteil bestätigt hatte, erfolgte 28. April 1772 die Exekution, indem ihnen erst die rechte Hand, dann der Kopf abgeschlagen und der Rumpf zerstückelt wurde. Beide Verurteilte fielen dem Haß der von ihnen schwer beleidigten Adelsaristokratie zum Opfer. Michael Beer und Heinrich Laube machten Struensees Schicksal zum Gegenstand gleichnamiger Trauerspiele. Bouterwek lieferte einen seiner Zeit anerkannten Roman. Vgl. Höst, Geheimer Kabinettsminister Graf J. F. S. und sein Ministerium (deutsch, Kopenh. 1826); Jenssen-Tusch, Die Verschwörung gegen Karoline Mathilde von Dänemark und die Grafen S. und Brandt (Jena 1864); Wittich, Struensee (Leipz. 1878).
3) Gustav Otto von (pseudonym Gustav vom See), Romanschriftsteller, geb. 13. Dez. 1803 zu Greifenberg in Pommern, studierte zu Bonn und Berlin die Rechte, ward 1834 Regierungsrat in Koblenz und 1847 Oberregierungsrat in Berlin. Er starb 29. Sept. 1875 in Breslau. Unter seinen ältern Romanen (gesammelt Bresl. 1867-69, 18 Bde.; neue Ausg. 1876, 6 Bde.) verdienen "Die Egoisten" (1853), "Vor fünfzig Jahren" (1859) und "Herz und Welt" (1862) hervorgehoben zu werden. Seine stärkste Produktivität entfaltete der talentvolle und gebildete Erzähler in den letzten Jahrzehnten seines Lebens, wo er unter andern die Romane: "Wogen des Lebens" (Bresl. 1863, 3 Bde.), "Gräfin und Marquise" (Leipz. 1865, 4 Bde.) mit der Fortsetzung "Ost und West" (Bresl. 1865, 4 Bde.), "Arnstein" (das. 1868, 3 Bde.), "Valerie" (das. 1869, 4 Bde.), "Falkenrode" (Hannov. 1870, 4 Bde.), "Krieg und Friede" (Berl. 1872, 4 Bde.), "Gänseliese" (Hannov. 1873, 3 Bde.), "Ideal und Wirklichkeit" (das. 1875, 3 Bde.), "Erlebt und erdacht", Novellen (das. 1875, 2 Bde.), "Die Philosophie des Unbewußten" (das. 1876, 3 Bde.) etc. erscheinen ließ.
Struktur (lat. structura), die Art und Weise der äußern und innern Zusammenfügung eines zu einem Ganzen aus einzelnen, verschiedenartigen Teilen verbundenen Körpers; insbesondere in der Geologie das innere Gefüge der Gesteine, wie es durch die Form, die gegenseitige Lage, die Verteilung und die Art der Verbindung der Gesteinselemente und der accessorischen Bestandteile bedingt wird; über die einzelnen Strukturformen vgl. Gesteine.
Struma, s. Kropf.
Struma (Karasu, der alte Strymon), Fluß in der europ. Türkei, entspringt in Bulgarien am Westabhang der Witosch (Skomios), bildete im Altertum die Ostgrenze Makedoniens und mündet nach ca. 300 km langem Lauf in den Golf von Orfani (Strymonischer Meerbusen), nachdem er kurz vorher den See Tachyno (Kerkine im Altertum) durchflossen hat.
Strumiza (Strumdscha), Stadt im türk. Wilajet Saloniki, am Flusse S. (Nebenfluß des Struma), Sitz eines griechischen Erzbischofs, mit altem Schloß, 6 Moscheen und ca. 15,000 Einw., von denen etwa die Hälfte Mohammedaner.
Strümpell, Ludwig, Philosoph und Pädagog, geb. 23. Juni 1812 zu Schöppenstädt im Braunschweigischen, studierte zu Königsberg (unter Herbart) Philosophie und Pädagogik, wurde Erzieher in Kurland, habilitierte sich 1843, wurde 1844 außerordentlicher, 1849 ordentlicher Professor der Philosophie und Pädagogik an der russischen Universität Dorpat, siedelte 1871 als kaiserlich russischer Staatsrat a. D. nach Leipzig über, wo er als Honorarprofessor der Philosophie thätig ist. Von seinen zahlreichen, im Geist Herbarts verfaßten Schriften sind hervorzuheben: "Erläuterungen zu Herbarts Philosophie" (Götting. 1834); "Die Hauptpunkte der Herbartschen Metaphysik" (Braunschw. 1840); "Vorschule der Ethik" (Mitau 1844); "Entwurf derLogik" (das. 1846); "Der Kausalitätsbegriff und sein metaphysischer Gebrauch in der Naturwissenschaft" (Leipz. 1872); "Die Geisteskräfte der Menschen, verglichen mit denen der Tiere" (gegen Darwin, das. 1878); "Psychologische Pädagogik" (das. 1880); "Grundriß der Logik" (das. 1881); "Grundriß der Psychologie" (das. 1884); "Einleitung in die Philosophie vom Standpunkt der Geschichte der Philosophie" (das. 1886). Die "Geschichte der griechischen Philosophie" (Leipz. 1854-61, 2 Bde.) blieb unvollendet. - Sein Sohn Gustav Adolf, geb. 28. Juni 1853, seit 1886 ordentlicher Professor der Medizin in Erlangen, schrieb: "Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der innern Krankheiten" (5. Aufl., Leipz. 1889, 2 Bde.).
Strümpfe (franz. Bas [de chausses]) waren anfangs von Leder oder Wollenzeug genäht und mit den Hosen verbunden (Strumpfhosen). Gestrickte, von den Beinkleidern getrennte S. sollen erst im 16. Jahrh. und zwar zuerst in England in Gebrauch gekommen sein. Man sagt, Königin Elisabeth sei die erste gewesen,
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Strumpfwaren - Struve.
die sich ihrer bediente. Indes besaß schon ihr Vater Heinrich VIII. ein Paar gestrickte seidene Beinkleider (tricots), die er aus Spanien zum Geschenk erhalten haben soll, und die damals noch für ein seltenes Prachtstück galten. Ende des 16. Jahrh. waren S. von farbiger und weißer Seide (filet de Florence) mit gestickten Zwickeln schon weiter verbreitet. S. als Ornatstück der Bischöfe, violettblau von Farbe, waren genäht, anfangs aus Leinen, später aus Seide oder Samt. Strumpfbänder kamen ebenfalls bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. auf und wurden bald kostbar verziert. Im 18. Jahrh. wurden Strumpfbänder aus Gold- oder Silberstoff mit Metallschnallen auch von Männern zur Befestigung der Kniehosen und S. getragen.
Strumpfwaren, s. Wirkerei.
Strunk (Stipes), kurzer, dicker Stengel; insbesondere der Stiel der Hutpilze (s. Pilze, S. 71).
Strunkschwamm, s. Sparassis.
Struthio, Strauß; Struthionidae (Strauße), Familie aus der Ordnung der Straußvögel.
Struve, 1) Friedrich Adolf August, Begründer der Mineralwasserfabrikation, geb. 9. Mai 1781 zu Neustadt bei Stolpen, studierte seit 1799 in Leipzig und Halle Medizin, ließ sich 1803 in seiner Vaterstadt als Arzt nieder, kaufte 1805 die Salomonisapotheke in Dresden und bemühte sich fortan um die künstliche Nachbildung der Mineralwässer, die er zu großer Vollkommenheit brachte. Er richtete viele Anstalten für Mineralwässerfabrikation ein und starb 29. Sept. 1840 in Berlin. Er schrieb: "Über Nachbildung der natürlichen Heilquellen" (Dresd. 1824-1826, 2 Hefte). - Sein Sohn Gustav Adolf, geb. 11. Jan. 1812 zu Dresden, studierte in Berlin, hielt dann in Dresden Vorlesungen über Chemie und übernahm die Leitung der väterlichen Geschäfte, die er wesentlich ausdehnte. Er bereitete auch neue Mineralwässer, indem er Chemikalien in reinem, mit Kohlensaure imprägniertem Wasser löste, u. schuf auf diese Weise sehr wertvolle Arzneiformen. Er starb 21. Juli 1889 in Schandau, nachdem er 1880 die Leitung der Geschäfte seinem Sohn Oskar, geb. 5. Juli 1838 zu Dresden, gest. 28. Nov. 1888 in Leipzig, übergeben hatte.
2) Friedrich Georg Wilhelm von, Astronom, geb. 15. April 1793 zu Altona, studierte 1808-11 in Dorpat erst Philologie, dann Astronomie, ward 1813 Observator und 1817 Direktor der Sternwarte zu Dorpat, 1839 Direktor der neu erbauten Nikolai-Zentralsternwarte zu Pulkowa bei St. Petersburg. Er widmete sich vorzugsweise der Beobachtung der Doppelsterne und veröffentlichte: "Observationes Dorpatenses" (Dorp. 1817-39, 8 Bde.) sowie "Catalogus novus stellarum duplicium" (das. 1827), "Stellarum duplicium mensurae micrometricae" (Petersb. 1831) und "Stellarum fixarum, imprimis compositarum positiones mediae" (das. 1852); er bestimmte ferner die Parallaxe von a [alpha] Lyrae und gab Untersuchungen über den Bau der Milchstraße in den "Études d'astronomie stellaire" (das. 1847). Ferner organisierte S. die sämtlichen russischen Sternwarten, führte 1816-19 eine Triangulation Livlands aus und leitete 1822-52 die große russisch-skandinavische, einen Meridianbogen von 25° 20' umfassende Gradmessung, über welche er in "Arc du méridien entre le Danube et la Mer Glaciale" (Petersb. 1857-60, 2 Bde.) berichtet hat, wie auch die Ausführung eines Nivellements zwischen dem Kaspischen und Schwarzen Meer (1836-37), dessen Bearbeitung durch S. 1841 erschien, und geographische Ortsbestimmungen in Sibirien, der europäischen und asiatischen Türkei. Nach schwerer Krankheit im J. 1858 übergab er 1862 sein Amt seinem Sohn Otto Wilhelm (s. unten) und starb 23. (11.) Nov. 1864 in Petersburg. Ausgezeichnet war die Beobachtungsgabe Struves und das Geschick, Beobachtungsfehler zu ermitteln und unschädlich zu machen. Er wurde zum Wirklichen Staatsrat ernannt und geadelt.
3) Otto Wilhelm von, Astronom, Sohn des vorigen, geb. 7. Mai 1819 zu Dorpat, wurde 1837 Gehilfe des Vaters daselbst, dann in Pulkowa, später zweiter Astronom und Vizedirektor, 1862 Nachfolger seines Vaters. Er war auch 1847-62 beratender Astronom des russischen Generalstabs, dessen astronomisch-geodätische Arbeiten er leitete, lieferte eine neue Bestimmung der Präzessionskonstanten (1841), eine Durchmusterung des nördlichen Himmels, welche 500 neue Doppelsternsysteme ergab, Arbeiten über den Saturn und dessen Ringe, Bestimmung der Masse des Neptun, entdeckte einen innern Uranustrabanten, ermittelte die Parallaxe verschiedener Fixsterne, machte Beobachtungen über die Veränderlichkeit im Nebel des Orion und kleiner, in demselben verteilter Sterne und veranstaltete zahlreiche Beobachtungen über Kometen, Doppelsterne und Nebel. 1851 wies er bei Gelegenheit der Sonnenfinsternis nach, daß die Protuberanzen dem Sonnenkörper angehören, auch beteiligte er sich an der Gradmessung, die sich über 69 Längengrade zwischen Valentia in Irland und Orsk an der asiatischen Grenze erstreckt. Er schrieb: "Übersicht der Thätigkeit der Nikolai-Hauptsternwarte während der ersten 25 Jahre ihres Bestehens" (Petersb. 1865) und gab heraus: "Observations de Poulkowa" (das. 1869-87, 12 Bde.).
4) Gustav von, republikan. Agitator und Schriftsteller, geb. 11. Okt. 1805 in Livland, studierte die Rechte in Deutschland und ward dann oldenburgischer Gesandtschaftssekretär zu Frankfurt a. M., ging aber bald als Advokat nach Mannheim. Seine Muße widmete er phrenologischen Studien, als deren Früchte eine "Geschichte der Phrenologie" (Heidelb. 1843) und ein "Handbuch der Phrenologie" (Leipz. 1845) erschienen. Auch redigierte er das "Mannheimer Journal" und ward infolge der oppositionellen Haltung dieses Blattes wiederholt zu Gefängnisstrafe verurteilt. 1846 gründete er den "Deutschen Zuschauer". Nach der Pariser Februarrevolution machte er im April 1848 im badischen Seekreis mit Hecker den bewaffneten Putsch zur Einführung der Republik und floh nach dessen Mißlingen in die Schweiz. Ein bewaffneter Einfall, den er 21. Sept. mit andern politischen Flüchtlingen auf badisches Gebiet machte, mißglückte wieder, und er selbst ward nach dem Treffen bei Staufen 25. Sept. im Amtsbezirk Säckingen verhaftet und vom Schwurgericht zu Freiburg 30. März 1849 wegen versuchten Hochverrats zu 5 1/3 Jahren Einzelhaft verurteilt und zu deren Abbüßung nach Bruchsal abgeliefert. Infolge der badischen Volkserhebung schon 24. Mai wieder frei geworden, beteiligte er sich in Mieroslawskis Hauptquartier an derselben und entfloh nach dem Scheitern dieses neuen Aufstandes in die Schweiz, von da im April 1851 nach New York, wo er seine "Allgemeine Weltgeschichte" im radikalen Sinn (New York 1853-60, 9 Bde.; 8. Abdruck, Koburg 1866) schrieb. Im nordamerikanischen Bürgerkrieg machte er als Offizier in einem New Yorker Regiment die Feldzüge von 1861 und 1862 mit, kehrte aber im Sommer 1863 nach Europa zurück und lebte in Koburg, seit 1869 in Wien, wo er 21. Aug. 1870 starb. Von seinen übrigen Schriften sind zu erwähnen: "Politische Briefe" (Mannh. 1846);
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Struvit - Stuart.
"Grundzüge der Staatswissenschaft" (Frankf. 1847 bis 1848, 4 Bde.); "Das öffentliche Recht des Deutschen Bundes" (Mannh. 1846, 2 Bde.); "Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden" (Bern 1849); "Das Revolutionszeitalter" (New York 1860, 7. Aufl. 1864); "Diesseit und jenseit des Ozeans" (Koburg 1864, 4 Hefte); "Geschichte der Neuzeit" (7. Aufl., das. 1864); "Die Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung" (Stuttg. 1869); "Das Seelenleben des Menschen" (Berl. 1869). - Seine Frau Amalie S., geborne Düsar, welche sich an den republikanischen Unternehmungen ihres Mannes eifrig beteiligte und, gleichzeitig mit diesem arretiert, bis 16. April 1849 in Haft blieb, schrieb: "Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen" (Hamb. 1850) und "Historische Zeitbilder" (Brem. 1850, 3 Bde.). Sie starb im Februar 1862 in New York.
Struvit (Guanit), Mineral aus der Ordnung der Phosphate, findet sich in rhombischen, ausgezeichnet hemimorph entwickelten Kristallen, ist im frischen Zustand gelblich oder bräunlich, glasglänzend, halbdurchsichtig bis undurchsichtig, Härte 1,5-2, spez. Gew. 1,66-1,75, zerfällt bei der Verwitterung in ein weißes Pulver und besteht aus wasserhaltiger, phosphorsaurer Ammoniakmagnesia (NH4)MgPO4+6H2O. S. ist hier und da als ein offenbar sehr junges Produkt an Orten gefunden worden, an denen menschliche oder tierische Abfallstoffe sich aufhäuften, so unter der Nikolaikirche in Hamburg, in den Abzugskanälen einer Dresdener Kaserne, zu Braunschweig und Kopenhagen, auch im Guano (Guanit) der afrikanischen Küste und bei Ballarat in Australien.
Strychuin C21H22N2O2, Alkaloid, findet sich neben Brucin in den Brechnüssen (Krähenaugen) von Strychnos nux vomica (0,28-0,5 Proz.) und in der Rinde dieses Baums (falsche Angosturarinde), in den Ignatiusbohnen von S. Ignatii (1,5 Proz.), im Schlangenholz von S. colubrina, in der Wurzelrinde von S. Tieuté und dem daraus bereiteten Pfeilgift. Zur Darstellung fällt man wässerigen Auszug von Krähenaugen mit Alkohol, das verdampfte und wieder gelöste Filtrat mit Kalkmilch, extrahiert den Niederschlag mit Alkohol, verdampft, entfernt aus dem Rückstand das Brucin mit kaltem Weingeist und reinigt das S. durch Umkristallisieren. S. bildet farb- und geruchlose Kristalle, schmeckt äußerst bitter, hinterher metallisch, ist sehr schwer löslich in Wasser, Alkohol und Äther, etwas leichter in Chloroform, Benzol, zersetzt sich vor dem Schmelzen bei 312°, ist nur in sehr geringen Mengen sublimierbar, reagiert alkalisch und bildet meist kristallisierbare, äußerst bitter schmeckende Salze, von denen das salpetersaure S. C21H22N2O2.HNO3 in Wasser und Alkohol schwer löslich ist. S. ist eins der stärksten Gifte und wirkt besonders auf die motorischen Teile des Nervensystems; sehr geringe Mengen erzeugen Starrkrampf, und meist wird durch Teilnahme der Brustmuskeln an dem Starrkrampf schnell der Tod durch Erstickung herbeigeführt. Morphium, Blausäure, Akonitin, Curare und namentlich Chloralhydrat wirken dem S. entgegen. Vgl. Falck, Die Wirkungen des Strychnins (Leipz. 1874).
Strychnos L., Gattung aus der Familie der Loganiaceen, Bäume und (oft hoch schlingende) Sträucher, zum Teil bewehrt, mit gegenständigen, kurzgestielten, ganzrandigen Blättern, weißen oder grünlichen, häufig wohlriechenden Blüten in achsel- oder endständigen, dichten und fast kopfigen oder in kleinen, trugdoldigen oder in rispigen Dichasien und meist kugeligen Beeren. Etwa 60 durchweg tropische Arten. S. nux vomica L. (Krähenaugenbaum, Brechnußbaum, s. Tafel "Arzneipflanzen II"), ein Baum mit kurzem, dickem Stamm, eiförmigen, kahlen Blättern, endständigen Trugdolden und großer, kugeliger, orangefarbener, mehrsamiger Beere, in deren weißer, gallertartiger Pulpa 1-8 Samen liegen, wächst in Ostindien, besonders auf der Koromandelküste, auch auf der Malabarküste, auf Ceylon, in Siam, Kotschinchina und Nordaustralien und liefert in den Samen die offizinellen Krähenaugen (Brechnüsse, Semen Strychni, Nux vomica). Diese sind flach kreisrund, bis 3 cm breit und 0,5 cm dick, graugelb, anliegend behaart und dadurch glänzend, mit warzenförmig erhöhtem Mittelpunkt, schwer zu pulvern und zu schneiden, schmecken sehr stark und anhaltend bitter und wirken höchst giftig. Sie enthalten Strychnin, Brucin (und Igasurin), gebunden an Igasursäure, und werden hauptsächlich als Stomachikum bei Dyspepsie, Diarrhöe und Obstipation benutzt. In den Arzneischatz wurden sie vielleicht durch die Araber eingeführt und in Deutschland durch Valerius Cordus, Bauhin und Geßner im 16. Jahrhundert näher bekannt. Die schwärzlich aschgraue Rinde des Baums kam zu Anfang dieses Jahrhunderts, der Angosturarinde beigemischt, in den Handel (falsche Angosturarinde), ist jetzt aber wieder völlig verschwunden. S. Tieuté Lesch. (Upasstrauch, Tschettek) ist eine 25-30 m lange, einfache, astlose, armdicke Schlingpflanze, welche mit ihren Ranken in den Urwäldern Javas die Bäume erklettert, und aus deren Wurzelrinde ein furchtbares Pfeilgift, das Upas-Tieuté, dargestellt wird. S. toxicaria Schomb., eine Schlingpflanze Guayanas, welche mit beindicken Gewinden andre Stämme umschlingt, ferner S. Gobleri Planch. am Orinoko, S. Castelnoeana Wedd. am obern Amazonas, S. Schomburgkii Kl., S. cogens Beuth. und S. Crevauxii Planch. in Guayana liefern Curare. S. potatorum L. (Atschier) ist ein Baum Indiens, dessen Früchte von der Größe einer Kirsche und genießbar sind, und dessen Samen (Klärnüsse) schlammiges Wasser klar und trinkbar machen sollen. S. colubrina L. (Schlangenholzbaum), ein Schlingstrauch in Ostindien etc., liefert das Schlangenholz, welches gegen Schlangenbiß benutzt wird.
Stryi, Stadt in Galizien, am Flusse S. (Nebenfluß des Dnjestr), Knotenpunkt der Staatsbahnlinien Zagorz-Husiatyn und Lemberg-Lawoczne, ist Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts, hat eine römisch-katholische und eine griechisch-kath. Kirche, ein Schloß, ein Realgymnasium, Dampfsäge, Gerberei und (1880) 12,625 Einw. (darunter 5450 Juden). S. ist 1886 größtenteils abgebrannt.
Strymon, Fluß, s. Struma.
Strzelecki (spr. -letzki), Paul Edmund, Graf von, austral. Entdeckungsreisender, geb. 1796 in Preußen, wurde in England erzogen und machte die ausgedehntesten Reisen in Nord- und Südamerika, Westindien etc. Er besuchte die Südseeinseln, Java, Teile von China, Ostindien und Ägypten, entdeckte 1840 die Gegend südlich von den Australischen Alpen, welche er Gippsland benannte, erforschte die Blauen Berge von Neusüdwales und 1841 und 1842 noch Vandiemensland; starb 6. Okt. 1873 in London. Er schrieb "Physical description of New South Wales and Van Diemen's Land" (Lond. 1845).
Stuart (spr. stjuh-ert), altes Geschlecht in Schottland, das diesem Reich und England eine Reihe von Königen gegeben hat. Es stammt von einem Zweig der anglo-normännischen Familie Fitz-Alan ab, der sich in Schottland niederließ und unter David I. die
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Stuart - Stubbs.
erbliche Würde des Reichshofmeisters (steward, daher der Name S.) erwarb. Walter S. heiratete um 1315 eine Tochter des schottischen Königs Robert I. Bruce, auf deren Nachkommen nach dem Erlöschen des königlichen Mannesstamms die Thronfolge in Schottland überging. Als Roberts I. Sohn David II. 1370 ohne männliche Erben starb, bestieg Walter Stuarts Sohn als Robert II. den schottischen Thron und ward der Gründer der Dynastie, welche nach dem Ableben der Königin Elisabeth von England mit Jakob VI. (I.), dem Sohn der Maria S., (1603) auch die Krone dieses Reichs erhielt. Von einem Seitenzweig der Stuarts stammen die Grafen von Lennox her, welche infolge der Vermählung des Matthew S., Grafen von Lennox, mit Margarete Douglas, einer Enkelin Heinrichs VII. von England, auch auf den englischen Thron Ansprüche erwarben. Der Sohn dieser Ehe war Heinrich Darnley (s. d.), der Gemahl der Maria S. und Vater König Jakobs I. von England. Als mit dessen Enkel Jakob II. (s. d.) der Mannesstamm der Stuarts 1688 aus England vertrieben worden war, beschäftigten diese die öffentliche Aufmerksamkeit nur noch durch die fruchtlosen Versuche, die verlornen Reiche wiederzuerlangen. Diese nahm zuerst Prinz Jakob Eduard, der Prätendent, der sich Jakob III. nannte und 1766 starb, dann dessen ältester Sohn, Karl Eduard, auf. Derselbe lebte nach der Schlacht bei Culloden (1746), die seinen Unternehmungen in Schottland ein Ziel setzte, als Graf von Albany in Italien und starb kinderlos 31. Jan. 1788 in Rom. Weiteres über ihn s. Karl 28). Er war mit der Tochter des Prinzen Gustav Adolf von Stolberg-Gedern, Luise Maria Karoline (gest. 1824, s. Albany, Gräfin), vermählt. Sein einziger Bruder, Heinrich Benedikt, der 1747 die Kardinalswürde erhielt, lebte zuletzt von einem Jahrgeld, welches ihm vom britischen Hof gezahlt wurde, in Venedig und starb 13. Juli 1807 in Frascati, nachdem er seine Ansprüche auf den britischen Thron auf Karl Emanuel II. von Sardinien vererbt hatte. König Georg IV. ließ ihm in der Peterskirche zu Rom von Canova ein Denkmal errichten. Seine Familienpapiere kaufte die britische Regierung an und ließ sie veröffentlichen ("S. papers", Lond. 1847). Von Nebenzweigen des Stuartschen Stammes leben noch zahlreiche Glieder in Schottland, England und Irland. Vgl. Vaughan, Memorials of the S. dynasty (Lond. 1831, 2 Bde.); Klopp, Der Fall des Hauses S. (Wien 1875-87, 14 Bde.).
Stuart (spr. stjuh-ert), 1) John Mac Douall, austral. Entdeckungsreisender, geb. 1818 in Schottland, begleitete Sturt 1844-46 auf seiner Expedition und erforschte 1858 mit nur Einem Begleiter einen großen Teil des Landes zwischen dem Torrenssee und der Westgrenze von Südaustralien. 1859 unternahm er zwei neue Forschungsreisen ebenfalls in der Umgegend der Torrenssees, versuchte dann 1860 von Süden aus den Kontinent nach dem Norden zu durchwandern, erreichte 1861 zum zweitenmal den 17.° südl. Br. und drang endlich bis zur Nordküste durch, die er 24. Juli 1862 am Vandiemengolf erreichte. Er starb 5. Juni 1866 in Nottingham Hill. Seine Forschungen erschienen unter dem Titel: "Explorations in Australia" (2. Aufl., Lond. 1864).
2) James E. B., amerikan. General, geb. 6. Febr. 1833 in Patrick County (Virginia), wurde zu West Point ausgebildet, trat 1855 als Offizier in ein Reiterregiment, ging beim Ausbruch des Bürgerkriegs (1861) zu den Konföderierten über und wurde Oberst eines Reiterregiments. Er zeichnete sich durch seine kühnen Unternehmungen in der Flanke und im Rücken des Feindes aus, erhielt bald als General den Befehl über ein Reiterkorps, befehligte 1863 den linken Flügel des südstaatlichen Heers, ward aber schon 11. Mai 1864 im Gefecht bei Yellow Tavern gegen Sheridan schwer verwundet und starb 12. Mai in Richmond. Vgl. Mac Clellan, Life and campaigns of Major-General J. E. B. S. (Bost. 1886).
Stuart de Rothesay (spr. roth-sse), Charles, Lord, brit. Diplomat, geb. 2. Jan. 1779, ward 1808 bei der Gesandtschaft in Spanien angestellt, 1810 zum englischen Bevollmächtigten bei der provisorischen Regierung in Lissabon ernannt und fungierte sodann als Botschafter von 1815 bis 1820 und 1828 bis 1830 zu Paris und von 1840 bis 1844 zu St. Petersburg. 1824 brachte er in Rio de Janeiro den Vertrag zu stande, durch den die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal bestätigt war. Seit 1828 war er britischer Peer; seine Verdienste um Portugal erwarben ihm die Titel eines Grafen von Machico und Marquis von Angoa. Er starb 6. Nov. 1845 auf seinem Landsitz Highcliff in Hampshire.
Stub, Ambrosius, dän. Dichter, geb. 1705, absolvierte 1725 die Schule zu Odense, kam aber nicht weiter vorwärts und mußte lange Zeit sein Brot als Bibliothekar und Schreiber von Gutsbesitzern auf Fünen verdienen, welche nicht selten in brutalem Übermut ihren Scherz mit ihm trieben. Schließlich kam er nach Ribe, wo er 1758 als armer Schulmeister starb. S. hat eine Menge Gedichte und Lieder geschrieben, von denen einige von der finstern religiösen Stimmung der Zeit beeinflußt zu sein scheinen, während andre reizend und zierlich im Schäferstil der Zeit gehalten sind oder von Scherz und Lebenslust strotzen. Solange er lebte, unbeachtet geblieben, fanden sie nach seinem Tod (zum erstenmal gedruckt 1771) allgemeinen Beifall und die weiteste Verbreitung, und jetzt wird S. mit Recht als Vater der neuern dänischen Lyrik betrachtet. Eine neue Ausgabe seiner "Samlede Digte" mit Biographie besorgte Fr. Barfod (5. Aufl., Kopenh. 1879).
Stubai, linkes, vom Rutzbach durchströmtes Seitenthal der Sill in Nordtirol, Bezirkshauptmannschaft Innsbruck, mit (1880) 4246 Einw., die besonders Viehzucht und Fabrikation von Eisen-, Blech- und Stahlwaren betreiben, und den Hauptorten: Mieders (mit Bezirksgericht), Vulpmes und Neustift. S. gibt den Stubaier Alpen ihren Namen, die einen Hauptteil der Ötzthaler Gruppe (s. Ötzthal) bilden und im Zuckerhütl (3508 m) kulminieren. Vgl. Pfaundler und Barth, Die Stubaier Gebirgsgruppe (Innsbr. 1865).
Stübbe, s. Kohlenklein.
Stubbenkammer, s. Rügen.
Stubbs (spr. stöbbs), William, namhafter engl. Geschichtschreiber, geb. 21. Juni 1825 zu Knaresborough in Essex, studierte zu Oxford, wurde 1848 Geistlicher, 1862 Bibliothekar zu Lambeth, 1866 Professor der neuern Geschichte zu Oxford und 1869 Kurator der großen Bodleyschen Bibliothek daselbst. 1875 erhielt er die Pfründe des Rektorats zu Cholderton und ward 1884 Bischof von Chester. Abgesehen von einer großen Anzahl von meist mustergültigen Ausgaben mittelalterlicher Chroniken und Urkunden, hat er sich besonders durch seine "Constitutional history of England" (2. Aufl., Oxf. 1875-78, 3 Bde.) bedeutende Verdienste erworben, außerdem "Select charters and other illustrations of English history" (1870) und "Lectures on study of mediaeval and modern history" (das. 1886) veröffentlicht.